Olga Popovic-Obradovic

Veränderung und Kontinuität

Serbien zwischen verspäteter Demokratisierung und dem Sog des Nationalismus

 

Der Mord an Zoran Djindjic bewies auf entsetzliche Weise, wie mächtig die alten Apparate des Milosevic-Regimes zwei Jahre nach dessen Ablösung noch sind. Das Gebräu aus ehemaligen Geheimdienstlern, Spezialeinheiten der Polizei und Wirtschaftsmafia scheint mächtiger zu sein als legale Institutionen des Staates, sagte der stellvertretende Ministerpräsident Zarko Korac nach Djindjics Tod. Aber auch die Gesellschaft versäumt es, eine Auseinandersetzung über die jüngste Vergangenheit, über das großserbische Programm und seine Verbrechen zu führen und die Politik rechtfertigt das Tribunal in Den Haag nur als Mittel zur Öffnung internationaler Finanzquellen. Daher kann es nicht wundern, so die Autorin, dass alte Nationalideologie – die Idee eines (groß)serbischen Nationalstaats nach dem ethnischen Prinzip – wieder en vogue ist.

 

Serbien steht tagtäglich vor der ernüchternden Herausforderung der Auseinandersetzung mit seiner unmittelbaren Vergangenheit. Stück für Stück setzt sich vor den Augen der Öffentlichkeit aus unwiderlegbaren Tatsachen die Geschichte verdrängter »Ereignisse« zusammen. Es begann mit den Kühlautos voller albanischer Opfer und setzte sich fort mit der Exhumierung von Massengräbern, die über ganz Serbien verstreut sind. Vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verweist schon der Rang der Täter – serbische »Kriegshelden« und politische Führer – auf die serbischen Kriegsverbrechen, die überall im ehemaligen Jugoslawien begangen wurden, und auf die Verantwortung Serbiens für den Krieg. Das Haager Tribunal – für den Präsidenten der gerade aufgelösten Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) Vojislav Kostunica ist es nicht mehr als das überflüssige »neunte Loch auf der Flöte« – ist zum Mittelpunkt des politischen Alltagsgeschäfts in Serbien geworden. Stimmen, die das Tribunal angreifen, verstummen allmählich. Man zollt ihm sogar einen gewissen Respekt; das jedoch nur, weil das Gericht als Mittel zur Öffnung internationaler Finanzquellen verstanden wird. Darüber hinaus hat man eingesehen, dass die Wahrheit, ausgestattet mit der Autorität dieses Gerichts, schwer zu leugnen ist. Sogar Dobrica Cosic, Akademiemitglied und früherer Präsident der BRJ, stellte die Autorität des Tribunals nicht in Frage, als er kürzlich die Aufforderung der Anklage, als Zeuge aufzutreten, zurückwies. Stattdessen berief er sich auf sein Alter und auf seine Bücher. Cosic war sich sicher bewusst, dass das Gericht diese Ausrede nicht gelten lassen muss und die entsprechenden Mechanismen zur Anwendung bringen kann, über die es hinsichtlich nichtkooperativer Zeugen verfügt. Währenddessen findet im serbischen »Tempel der Wissenschaft«(1) eine internationale Tagung statt, deren Teilnehmer der Öffentlichkeit lauthals mitteilen, dass ein Programm Großserbien niemals existiert habe, es sei denn als Erfindung des feindlichen Westens und der Komintern. Die notorischen Geopolitiker und Geostrategen veröffentlichen in ihren Zeitschriften »Dokumente« über die Selbstbombardierung an der Markale(2) und die Brandstiftung in der Stadtbibliothek von Sarajevo (als Brandstifter treten Bernard Henri-Lévi und Predrag Matvejevic auf). Der antikommunistische Flügel des Miloševic-Trupps, weltlicher wie geistiger Provenienz, erklärt zudem, dass an eventuellen serbischen Kriegsverbrechen ausschließlich die Kommunisten Schuld seien, keinesfalls die großserbischen Nationalisten (sogar Radovan Karadzic, das wird wohl dereinst irgendein angesehener Belgrader Professor behaupten, wäre demnach Kommunist ). Hinter der offensichtlichen Arroganz der Autoren dieser konfusen Formulierungen ist Unruhe und ernsthafte Besorgnis erkennbar.

Denn das Tribunal zieht den Kreis immer enger. Bei der Untersuchung der Kriegsverbrechen dringt es auf der Suche nach den Motiven und Absichten unausweichlich bis zu jenem Komplex vor, von dem die Akademiemitglieder und ihre Freunde vehement behaupten, dass er nicht existiert und niemals existiert habe, nämlich das Programm Großserbien – gleichgültig ob mit kommunistischem oder antikommunistischem Vorzeichen. Folge und Logik der Ereignisse zwingen das Tribunal, genau entgegengesetzt zur Auffassung der serbischen Völkerrechtsexperten zu verfahren, die das Verbrechen isoliert vom politischen Programm betrachtet sehen wollten. Denn die verbrecherische ethnische Säuberung war eine wichtige Komponente dieses Programms, genauer gesagt, eines seiner Ziele. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass der Internationale Strafgerichtshof für Kriegsverbrechen bei seiner Untersuchung mehr als die bloßen Ereignisse behandeln und eine ernsthafte Interpretation der Ursachen und Folgen unternehmen wird. In diesem Fall wird das Verbrechen kaum vom Programm und seinen Schöpfern zu trennen sein. Am Ende wird de facto, wenn auch nicht de jure, nicht nur ein Urteil über das begangene Verbrechen, sondern auch über die Ideologie und das politische Programm, in die es eingebettet war, gefällt werden.

Für alle jene, die jahrelang in Angst vor der serbischen »Staatsidee« gelebt haben – das waren sowohl die Bewohner Serbiens wie auch ihre Nachbarn – kann das ein Anlass zur Freude und Ermutigung sein. Mehr allerdings auch nicht, denn für das Schicksal des großserbischen Programms ist die Frage entscheidend, wie in Serbien darüber geurteilt wird. Sein Scheitern wird nur dann endgültig sein, wenn ihm Serbien selbst eine Absage erteilt. Das wird Serbien nur dann tun, wenn in ihm das Bewusstsein reift, dass eine neue, historische Antwort auf alte Fragen in seinem Interesse wie auch im Interesse anderer liegt. Die Hauptfrage ist nicht, ob Serbien mit Den Haag zusammenarbeiten wird. Diese Frage stellt sich nicht mehr, weil man der Zusammenarbeit nicht ausweichen kann. Es geht auch nicht darum, ob man die serbischen Verbrechen anerkennt, die in Den Haag unanfechtbar nachgewiesen werden. Die neue Antwort Serbiens auf die alten Fragen stellt eine sehr viel schwierigere Aufgabe dar: Es ist das Bemühen anzuerkennen, dass das Projekt Großserbien zum einen verantwortlich war für das Verbrechen, das an anderen begangen wurde, und zum anderen auch für den allumfassenden physischen und moralischen Niedergang Serbiens. Letztlich handelt es sich um das Bemühen, die moralische und politische Verantwortung zu übernehmen. Nicht nur hinsichtlich der Schöpfer und Träger des Projektes, sondern auch des Volkes, das im entscheidenden Augenblick, vergiftet durch den Nationalismus, diesem Projekt seine plebiszitäre Zustimmung gab. Erst dieses Bemühen würde die Niederlage des großserbischen Programms wie auch der ethno-nationalistischen Ideologie, auf der es beruhte, bedeuten. In den Zwischenzeit werden der bösartige Nationalismus und die Idee Großserbien, auch wenn sie zahnlos geworden sind, weiterhin die Energien aufsaugen und den Individuen und Völkern der Region die Zukunft stehlen. Wie es gegenwärtig aussieht, wird dieser Zustand andauern.

 

Geld und ethnische Grenzen

Eine tatsächliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit existiert in Serbien gegenwärtig nicht. Die Gewissheit über das Verbrechen ist Furcht erregend, die Arbeit des Haager Tribunals durchschlagend. Dennoch befasst sich Serbien nicht mit seiner Verantwortung und macht diesbezüglich einen völlig gleichgültigen Eindruck. Die Dinge sind in ihr Gegenteil verkehrt worden. An Stelle von Verantwortung spricht man über das Haager Tribunal im Kontext von Geld und Investitionen. Die moralische Dimension wird vollständig vernachlässigt, bewusst und absichtlich. Von der Regierung wird nur eine Botschaft ausgesandt: Uns interessieren weder die Taten, die den Haager Angeklagten zur Last gelegt werden, noch die Angeklagten selbst. Uns interessiert nur das Geld, das wir für ihre Überstellung erhalten können. Auf die gleiche unmoralische Art und Weise, die Menschen und ihre Schicksale als Handelsware einsetzt, wird das Flüchtlingsproblem behandelt. Sowohl für die Haager Angeklagten wie für die serbischen Flüchtlinge – beide stellen eine quantitativ bedeutende Zahl dar – könnte man etwas Geld bekommen. Wenn man bei dieser Rechnung die Eigentumsrechte dieser Flüchtlinge, zum Beispiel der kroatischen Staatsbürger serbischer Nationalität, hinzurechnet, dann handelt es sich dabei um dieselbe Verfahrensweise, nach der von Serbien damals die Dörfer und Städte, in denen diese unglücklichen Menschen ihre Häuser hatten, zu Serbien hinzugerechnet wurden. In dieser Situation ist ein Gespräch über das politische Projekt und seine Verbindung mit dem Verbrechen ebenso wie ein Gespräch über politische und moralische Verantwortung praktisch undenkbar.

In der Zwischenzeit konsolidieren die Träger des Projektes in der Gesellschaft erneut ihre Position. In ihrer unmittelbaren Umgebung werden sie von Fragen zur Verantwortung verschont. Sie vertreten weiterhin die Grundsätze des Programms, an erster Stelle die ethnischen Grenzen als Legitimationsgrundlage der staatlichen Strukturen auf dem Balkan. Zu diesem Zweck wird der Mythos von der »Konstruiertheit« der so genannten kommunistischen Grenzen beziehungsweise der AVNOJ-Grenzen(3) gepflegt. Auf der Grundlage dieses Mythos, eines typischen historischen Falsifikats, bestreitet man in Serbien noch heute die grundlegenden, klar erkennbaren Identitäten aller früheren konstitutiven Einheiten der jugoslawischen Föderation. Der größere Teil des intellektuellen und ein guter Teil des politischen Establishments in Serbien nach dem 5. Oktober 2000 – einschließlich bedeutender Vertreter der Serbischen Orthodoxen Kirche – sind an der Pflege eines kollektiven Gedächtnisses beteiligt, in dem die Legitimität der AVNOJ-Grenzen bestritten wird und ethnische Grenzen als politischer Normalfall erscheinen – genau wie damals, als auf der Grundlage eben dieses Bewusstseins der Krieg geführt wurde. Denn wie der Historiker Srdja Trifkovic sagt: »Wenn Westeuropa seinen heutigen missionarischen Appetit auf die Bildung hybrider Nationen verliert, den Personen wie Petritsch, Ashdown, Häkkerup, Steiner und andere verkörpern, müssen die Serben für die Revision ihrer Niederlage bereit sein.« Unter der Schirmherrschaft der professionellen Historiographie entwickelt sich ein bisher ungekannter Revisionismus, dessen erstes Ziel die Entwertung des antifaschistischen Erbes ist. Hauptstütze ist ein primitiver Antikommunismus und die Rehabilitierung des Tschetniktums als sauberste historische Form der ethno-nationalistischen, großserbischen Ideologie. Eine noch entscheidendere Rolle als die Historiographie spielt gegenwärtig die Institution Kirche, die die Vorstellung der allserbischen Einheit symbolisiert. Sie versucht nach dem militärischen und politischen Zusammenbruch geistig, kulturell und politisch jenen Platz zu besetzen, der im Gefolge der Kriegsniederlage durch den Staat nicht besetzt ist – beziehungsweise in Montenegro nicht auf die gewünschte Art und Weise besetzt ist. Angesichts des bedeutenden Einflusses, über den die Kirche im Volk verfügt, werden große Erwartungen an sie gestellt. Die Kirche genießt eine starke logistische Unterstützung seitens des Staates und der Armee. Nachdem sie der Frage der eigenen Verantwortung für den Krieg und die Verbrechen, die in ihm begangen wurden, ausgewichen ist, strebt die Serbische Orthodoxe Kirche, die ihren politischen Einfluss bereits mit der Machtergreifung Miloševics erneuert hatte, offensichtlich seit dem 5. Oktober danach, diesem Einfluss eine adäquate institutionelle Form zu geben. Sie ist auf einem guten Weg, dies zu schaffen. Das unverhohlen angestrebte Ideal ist die Errichtung einer Staatskirche.

 

Ein neuer Staat?

Kurzum, das, was zum Krieg führte – die Infragestellung der bestehenden und der Versuch der Errichtung neuer Staatsgrenzen nach dem ethnischen Prinzip –, wird erneut als Formel für die Zukunft angeboten. Der Zerfall Jugoslawiens stellt nach dieser Formel nur eine erste Etappe im Projekt der Rekonstruktion der ganzen Region nach dem ethnischen Modell dar. Das Serbien nach dem 5. Oktober bietet dafür täglich neue Belege.

Obwohl aus der Ferne betrachtet bei weitem nicht so gefährlich und so umfassend wie zu der Zeit, als man in seinem Namen Krieg führte, ist das großserbische Staatsprogramm bis heute Teil der staatlichen Strategie Serbiens. Aus einem einfachen Grund: Der Zerfall Jugoslawiens ist noch nicht beendet, obwohl Jugoslawien seit langem aufgehört hat zu bestehen. In diesen Tagen ist eine weitere hiesige Staatsschöpfung verschwunden, die ungefähr zehn Jahre alte Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ). Sie hat einem neuen Staat mit Namen Serbien und Montenegro Platz gemacht. Allem Anschein nach wird dieser Staat noch kurzlebiger sein als sein Vorgänger. Mit tatkräftiger Unterstützung der internationalen Gemeinschaft wird der Augenblick der Beendigung des Zerfallsprozesses Jugoslawiens aufgeschoben und – wie schon zu Beginn der Neunzigerjahre – die Aufrechterhaltung eines zerrütteten und illegitimen Staates unterstützt. Man entwirft eine staatliche Landkarte, die der Wirklichkeit Gewalt antut. Was ist es anderes als Gewalt an der Wirklichkeit, wenn auf der völkerrechtlichen Subjektivität eines Staates gepocht wird, die aus drei konstitutiven Teilen der früheren jugoslawischen Föderation besteht, von denen zwei jeweils einen selbständigen Staat bilden wollen, während der dritte sie jedoch beherrschen will? Eine solche Behandlung staatlicher Fragen auf dem Gebiet des früheren Jugoslawien verlängert nur die Agonie und gibt der Illusion von den ethnischen Grenzen einen zusätzlichen Anreiz. Diese Illusion ist – das darf man nicht aus dem Blick verlieren – nicht nur eine serbische Krankheit.

Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass das offizielle Serbien es für angebracht hält, die Frage der Staatsgrenzen wieder aufzumachen. »Wenn sie für die Unabhängigkeit sind, sind wir für die Teilung Kosmets«(4), sagte der stellvertretende Ministerpräsident Nebojsa Covic und äußerte damit zum wiederholten Male die alte Idee über eine Teilung Kosovos, die die serbischen Nationalisten um Dobrica Cosic bereits in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts vertraten. Nur einen Tag danach vereinigten sich einige serbische Gemeinden im Norden Kosovos zu einem Gebilde, das aus den vorangegangenen Kriegen als »Serbische Autonome Gebiete (SAO)« bereits gut bekannt ist, und drohten mit der Abspaltung.

Außer Haager Angeklagten und Flüchtlingen verfügt Serbien also auch über Territorien, mit denen es handeln kann. Aber diese alt-neue serbische Politik der territorialen Kompensation schöpft sich nicht in Teilungsplänen von Kosovo aus. Denn bis heute behielt Bosnien in diesem Nationalprogramm eine absolute Vorrangstellung, weshalb bei jeder Gelegenheit daran erinnert wird, dass man in der Dayton-Vereinbarung keine endgültige und vorbehaltlose Lösung sieht. Mit der Rhetorik über die Konstruiertheit der bestehenden Grenzen auf dem Balkan bieten sich Serbien, aber nicht nur ihm, neue Chancen zur Besetzung »seiner ethnischen« Territorien, wenn auch – zumindest jetzt – in einem reduziertem Umfang.

 

Kontinuität des alten nationalen Projekts

Es ist nicht schwer, hier einen Ausdruck der Kontinuität der nationalen und staatlichen Strategie zwischen dem Serbien Miloševics und dem Serbien nach dem 5. Oktober zu erkennen. Wie schon die alte Strategie beruht offenbar auch die neue auf der prinzipiellen Nichtanerkennung der so genannten AVNOJ-Grenzen, präziser: der Grenzen der Verfassung von 1974. Nur so ist es möglich, Kosovo mit der Serbischen Republik in Bosnien gleichzusetzen.

Es wird immer klarer, dass das seit dem Ende des Bosnien-Krieges unzählige Male wiederholte Lamento von Vojislav Kostunica, dem Präsident der jetzt nicht mehr bestehenden BRJ über die »Daytoner Ungerechtigkeit« und seine Versicherung, dass die Vereinigung der beiden »serbischen Staaten« Serbien und Republika Srpska ein immerwährendes nationales Ziel bleibt, »das wir anstreben und nach dem wir trachten müssen, mit allen Mitteln«, kein bloßes Gespenst hartgesottener Nationalisten, sondern eine Art programmatische Staffel ist, die jeder nolens volens übernehmen muss, der in Serbien politischen Einfluss ausüben will.

Demgegenüber erreichte Premier Djindjic mit seiner Festlegung auf ökonomische Reformen und der Definition Serbiens als Teil Europas sowie vor allem durch seinen Pragmatismus schrittweise die Reputation eines Politikers, der im Stande war, im Serbien der Post-Miloševic-Ära eine politische Richtung zu gestalten, in der die traditionellen Obsessionen für staatliche Fragen und Grenzen zurückgedrängt werden könnten. Serbien schien endlich begonnen zu haben, sich mit sich selbst zu befassen. Doch als er Anfang des Jahres die Fragen über die Zukunft Kosovos aufwarf, wurde man daran erinnert, dass das Serbien nach dem 5. Oktober die Frage seiner Grenzen noch immer als offen betrachtet.

Zwei Jahre nach jenem berühmten »5. Oktober« ist offenbar geworden, was dieses Ereignis so problematisch erscheinen lässt. Die neue Regierung, die einen guten Teil der Verantwortung für die Taten der vorherigen trägt, hat keine wirkliche Distanz zum nationalen Projekt, das Jugoslawien in den Krieg gestürzt hat. Worin sie sich von der Miloševic-Regierung unterscheidet, ist ihre Ablehnung des Isolationismus, die Orientierung nach Europa und der Wunsch nach Integration. Dass der Nationalismus ein Irrweg und kein Weg nach Europa ist, begreift sie nicht. Deshalb kann diese Regierung eine Tatsache nicht erkennen: Das Maß der Veränderungen in Serbien ist in erster Linie die Entthronung des nationalen Projekts, mit dem Miloševic die Macht erobert hat. Ohne diese Entthronung existieren die Veränderungen nur als Farce oder als Illusion, jedoch nicht in der Wirklichkeit. Im Gegenteil, man könnte sagen, bei den Regierenden herrsche die Überzeugung, dass die proeuropäische Orientierung nicht notwendigerweise eine Distanzierung vom alten nationalen Projekt erfordert; es genügt, ihm eine demokratische Form zu geben, klar erkennbar genug für den Westen, damit dieser nicht nur mit dem legitimen Ausdruck der serbischen Politik versöhnt wird, sondern ihn darüber hinaus langfristig akzeptiert. Das ist die alte Ambition der serbischen »liberalen« Nationalisten Ende der Achtzigerjahre, deren doktrinärer Liberalismus den verbrecherischen Charakter des Projektes, das sie vertraten, wenn nicht sogar formulierten, nicht vermindern konnte. Das sind zeitgenössische Formen des speziellen Paradox der serbischen Modernisierung, die sich als spezifisches Phänomen ein ganzes Jahrhundert lang perpetuiert haben: durch moderne Formen werden antimoderne Inhalte transportiert. Am Ende lassen sie sich stets auf die eine oder andere Art auf die Dominanz über den anderen und das andere zurückführen. Darin ist auch der Schlüssel zur Erklärung der Kontinuität des großserbischen Projektes der Regierung in Serbien nach dem 5. Oktober suchen.

 

Der Artikel von Olga Popovic-Obradovic ist aus dem Zagreber Kulturmagazin Gordogan‹ (1/2 Winter/Frühjahr 2002-2003) übernommen, einer Zeitschrift, die sich vornimmt, eine große und lang andauernde Lücke im intellektuellen und kulturellen Leben Kroatiens zu schließen.

 

 

Übersetzung aus dem Serbischen von Heiko Hänsel, von der Redaktion leicht gekürzt.

 

1

Gemeint ist die Serbische Akademie der Wissenschaften und Künste (SANU), die 1986 das berüchtigte Memorandum erarbeitete (Anm. d. Übers.).

2

Eine serbische Granate richtete zu Beginn der Belagerung von Sarajevo ein Massaker vor einer Bäckerei am Marktplatz an. Auch Konkret griff die serbische Lüge auf, versehen mit abenteuerlichen ballistischen »Berechnungen«, die Muslime hätten sich selbst beschossen (Anm. d. Red.)

3

AVNOJ – Antifašisticko vece narodnog oslobodjenja Jugoslavije, Antifaschistischer Rat der Volksbefreiung Jugoslawiens, der auf seinem Kongress im November 1943 die Errichtung im bosnischen Jajce einer jugoslawischen Föderation nach dem Krieg beschloss und auch die neuen innerjugoslawischen Grenzen festlegte (Anm. d. Übers.).

4

Abkürzung für die offizielle serbische Bezeichnung »Kosovo und Metohija« (Anm. d. Übers.).