Michel Marian

Die Doppelnatur der Türkei

Betrachtungen zur europäischen Frage

Das Anliegen der Türkei, dem europäischen Christen-Klub beizutreten, lässt die Wogen hoch schlagen. Der Autor weist neben einigen Besonderheiten auf den Probleme schaffenden Charakter der türkischen Trennung von Kirche und Staat hin. Auch das Paradox einer islamischen Liberalisierung weckt Befürchtungen, aber auch Möglichkeiten. Er warnt vor hypothetischen Freundschaften, empfiehlt Aufschub und Abstimmungen des Verhältnisses.

Jemand erscheint am Eingang eines Privatklubs. Man sagt ihm, dass die Mitglieder zu dieser Zeit nicht empfangen, aber er könne später wiederkommen, vorausgesetzt, er habe sich in der Zwischenzeit geändert. Er kehrt mit einem neuen Anzug zurück. Zehn Personen warten vor ihm und dürfen eintreten. Aber als er an der Reihe ist, sagt einer der Portiers: »Niemals!« Und die anderen: »Noch nicht!« Ist es seine jugendliche Kraft, die missfällt, sein Schnurrbart oder etwas anderes? So sieht das kafkaeske Schicksal aus, das Europa über die Türkei verhängt: ein Szenario für einen bürgerrechtlichen Videoclip gegen den Rassismus am Eingang von Nachtlokalen. Und in unserer demokratischen Welt wird die Nicht-Zulassung sogleich für eine Ausschließung gehalten – in deren Namen man Europa vorwirft, sich als »Christen-Klub« zu verhalten.

Diese Legende, die offensichtlich Schuldgefühle hervorrufen soll, ist allerdings zu einfach. Es könnte ein anderes, besser zutreffendes Bild herangezogen werden, nämlich das der theologischen Auseinandersetzungen über die doppelte Natur. Die europäischen Beratungen erinnern in der Tat an die ersten ökumenischen Konzile, die alle in Kleinasien stattfanden und auf denen ausführlich über die doppelte Natur von Christus diskutiert wurde. In Ephesos wurde sie als göttlich-menschlich dekretiert, und zwanzig Jahre später, in Chalcedon (heute Kadikoy (1)), als voll göttlich und voll menschlich neu definiert. Die Frage lautet, ob die Türkei eine islamisch-laizistische Natur sui generis hat oder ob sie voll islamisch und voll weltlich sein kann. Dieses Mysterium der Doppelnatur der Türkei scheint den Schlüssel für unsere gemeinsame Zukunft zu enthalten, und jeder bemüht sich, ihn zu entdecken. Gewiss, die Türkei wird seit mehr als einem Jahrhundert durch eine geographische oder kulturelle Dualität charakterisiert. Ihre Bevölkerungsteile nehmen sie hin, ihre Diplomatie hat es immer verstanden, sie in einem Maße auszunutzen, dass der Bruch zwischen den Eliten und der Gesellschaft hier so auffällig ist wie sonst nirgendwo auf der ganzen Erde. Aber heute scheint die Stunde der Wahrheit zu schlagen.

Die Türkei steht durchaus nicht allein da. Als Folge ihrer Akzeptierung des Marshall-Plans und ihres Eintritts in die NATO arbeitet sie seit dem Zweiten Weltkrieg in vielen europäischen Organisationen mit. Diese Bindung an Europa kam sozusagen durch negative Voraussetzungen zu Stande: durch die Ablehnung des Kommunismus und durch die geographische Unmöglichkeit, in Amerika zu sein.(2) Der Zusammenbruch des Kommunismus hat es ihr erlaubt, in eine neue Organisation von Anrainern des Schwarzen Meeres einzutreten und Verbindungen zum turkophonen Zentralasien anzuknüpfen. Es war zum Teil die Enttäuschung über diese neuen Bestrebungen, die erneut den Wunsch nach einer Annäherung an Europa ausgelöst hat, der von all ihren politischen Parteien getragen wird. Aber die Türkei ist und bleibt auch Mitglied der Organisation der Islamischen Konferenz (OCI). Keiner der Gegner des »Christen-Klubs« verlangt von der Türkei, aus der OCI auszutreten, um in ein Europa einzutreten, das – ihnen zufolge – den Beitritt der Türkei braucht, um seine Neutralität in Religionsfragen zu beweisen. Es ist richtig, dass diese OCI eine recht lockere Gruppierung ist, dass sie fast gar keine gemeinsamen Positionen hat und dass die Türkei dort eine westliche diplomatische Linie verteidigt – und zwar recht deutlich, was Bosnien betrifft, und eher zurückhaltend im Nahen Osten.

 

Die türkische Trennung von Staat und Kirche

Neben dieser institutionellen Dimension ist die Türkei, was ihre Dynamik betrifft, vom Islam geprägt, und das ist kein unwichtiger Aspekt. Die europäischen Gesellschaften sind immer atheistischer geworden und religiös zusammengebrochen, wenngleich es eine islamische Präsenz von etwa fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung gibt. Die türkische Gesellschaft ist religiös immer homogener geworden – genauso wie andere islamistische Gesellschaften. Aber sie hat eine abwechslungsweise und höchst spektakuläre Entwicklung durchgemacht. Vor 1914 bestand ein gutes Viertel der Bevölkerung, die auf dem heutigen Gebiet der Türkei lebte, aus Christen. Dann hat es den Völkermord an den Armeniern und Assyrern im Jahre 1915 gegeben (dessen Verleugnung weiterhin zur offiziellen Politik der türkischen Republik seit Mustafa Kemal, genannt Atatürk, gehört), dann das Massaker an den Griechen in Smyrna im Jahre 1923, den Abzug aller Griechen aus Kleinasien im Austausch gegen die Türken in Griechenland im Jahre 1929, die Flucht der Griechen aus Istanbul nach den Aufständen in Zypern von 1963 und seit den Siebzigerjahren die freiwillige Auswanderung der wenigen Armenier und Assyrer, die im Osten übrig geblieben waren. Das ist ein Teil des Schattens, den die seit 1923 verfolgte Verwestlichung warf.(3) Die Trennung von Staat und Kirche vollzog sich in »zwei Phasen«, das heißt auf ungleiche Weise, zumindest bis zum jüngsten Gesetz von 2002, das religiösen Minderheiten erlaubt, Besitztümer zu erwerben. Sie wurde von Kemal zwangsverordnet, und die Armee hütet sein Erbe für die Islamisten mit Hilfe eines Klerus, der vom Staat bezahlt und kontrolliert wird, und durch ihre Leitung eines Amtes für religiöse Angelegenheiten, das nach den Worten des Gesetzes die Aufgabe hat, »die Gesellschaft zu erleuchten«. Aber die »Trennung von Staat und Kirche« kann Verschiedenes bedeuten: In der Türkei beinhaltete dieser Begriff seit Kemal eine antireligiöse Strategie und eine Einmischung in die Gesellschaft, was sich deutlich von der klaren Trennung von Staat und Zivilgesellschaft im Westen und in Frankreich unterscheidet.(4)

Die Wirkungen sind nicht alle negativ gewesen: Die türkische Gesellschaft unterscheidet sich durch ihren Grad der Verweltlichung auf vielen Ebenen von den meisten anderen islamischen Gesellschaften, aber diese Neutralität in Religionsfragen ist im Vergleich mit den europäischen Auffassungen unvollständig, und die geschichtliche Identität, auf die sie sich stützt, ist voll und ganz vom Islam geprägt. Im Gegensatz zu Albanien zum Beispiel, dessen Gründungsheld der Christ Skanderbeg ist, feiert die Türkei an jedem 29. Mai die Eroberung von Konstantinopel [im Jahre 1453] und hat in den Neunzigerjahren mit großem Pomp die Asche von Enver Pascha in die Heimat zurückgeholt, einem der beiden Verantwortlichen für den Völkermord in Armenien. Es kommt also zu Fehldeutungen und einer Verkehrung der Rollen, wenn man behauptet, dass die Türkei offen sei und Europa ein in sich geschlossener Klub von Christen. Dieser Vorwurf hat übrigens, solange diese Debatte läuft, zumeist nichts gebracht. Es handelt sich weniger um ein religiös-neutrales Gebilde, das man heute stärken will, wenn man die Türkei aufnimmt, sondern um ein multikonfessionelles Gebilde, auf das man setzen möchte.

Der Sieg der gemäßigten Islamisten unter der Führung von Recep Erdogan hat das Verdienst gehabt, diese Wende zum Ausdruck zu bringen. Mit diesem Votum hat in der Tat etwas Wichtiges stattgefunden, das nicht unbedingt schlecht ist. Die Intelligenzija und die liberale Bourgeoisie zeigen ihr wohl wollendes Interesse, wenngleich sie diese Partei auch noch nicht unterstützen. Die neuen Führer sind vielleicht noch nicht genügend verwurzelt, um der Unruhe in der Armee Herr zu werden, aber anscheinend doch intelligent genug, um eine Re-Islamisierung der Kleidung (in der Türkei immer eine höchst politische Frage) als ein individuelles Recht zu präsentieren. Eine Korrektur des Kemalismus ist nützlich und vielversprechend. Diese autoritäre Modernisierungsideologie erschien immer mehr als ein Weg in die Sackgasse, als ein »primitiver Nationalismus« (Orhan Pamuk), eine freiwillige Amnesie und eine Ablehnung der Verbindungen sowohl zur arabisch-persischen Welt wie zu den ethnischen und nichtislamischen Minderheiten. So paradox es ist, die Europäisierung, die durch Methoden des asiatischen Despotismus erreicht werden soll, weicht einer individualistischen Re-Islamisierung, die potenziell freundlichere Erinnerungen mit sich bringt.

 

Das Paradox einer islamischen Liberalisierung

Die Debatte hat sich somit verschoben, und die Anhänger eines Beitritts der Türkei stützen sich weniger auf die zweifelhafte Ähnlichkeit als auf die Differenz, die einem Bündel von Hoffnungen und Befürchtungen gleicht. Die Furcht, die allzu gern auf die Gegner eines Eintritts der Türken projiziert wird, beherrscht eher ihre Anhänger. Die Befürchtung, ein mächtiges Land zu enttäuschen, dessen staatlicher Stolz unter anderem die Drohung enthält, die europäischen Produkte zu boykottieren und Zypern erneut zum Faustpfand zu machen. Die Islamisten haben dieses Spiel ihrer Vorgänger schnell begriffen. Sodann die Befürchtung, ein Zeichen zu setzen, das den »Kampf der Zivilisationen« nährt, dessen Heraufbeschwörung bis heute vor allem dazu gedient hat, die verschiedenen islamistischen Zielsetzungen zu stärken. Aber es gibt auch eine Hoffnung pädagogischer Art: nämlich die Hoffnung, den erfolgreichen Weg des guten Schülers der Muslim-Klasse zu begünstigen. Ihm Zugang zu einer höheren Stufe zu gewähren, müsste seinen neuen europäischen Mitschülern viel mehr Mittel geben, mit denen dafür gesorgt werden kann, dass er sich vorteilhaft entwickelt. Eben diese Hoffnung nähren die Minderheiten und die Demokraten in der Türkei, die Hoffnung, dass Nationalismus, Militarismus und Fanatismus sich in den Reusen des europäischen Rechtes verfangen mögen.

Aber man kann die Geschichte der modernen Türkei auch als einen permanenten Wechsel zwischen einer autoritären religiösen Neutralität und einer islamischen Liberalisierung sehen, deren Exzesse schließlich zu einer Wiederbelebung des Kemalismus führen. Die Waage kann zu weit ausschlagen: Von heute an, in dem Moment, in dem die Kurden aufatmen, fürchtet die islamische Minderheit der schiitischen Aleviten die Rückkehr des arroganten Sunnismus. Allein schon die Tatsache, dass in Europa darüber diskutiert wird, wie man überhaupt mit dem Islam umgehen soll, weist darauf hin, dass eine der beiden Naturen immer wichtiger werden wird. Nichts deutet darauf hin, dass die türkische Geschichte ein ausreichendes Bollwerk gegen die identitätsmäßige Versteifung darstellt, die den ganzen Islam durchzieht.

Man kann also davon ausgehen, dass eine Ablehnung der Türkei – nach einer langen Debatte, deren Thema auch die Natur Europas ist – die Hoffnung auf ein übernationales Europa wiederbeleben würde, während der Eintritt Ankaras diese Hoffnung, wenn nicht für immer, so doch für lange Zeit zunichte machen würde. Man kann auch befürchten, dass eine europäische Türkei weder ihre Umgebung noch Europa befriedet, sondern vielmehr dazu neigt, ihre neuen diplomatischen Trümpfe in den Dienst ihrer ethnisch-nationalen Interessen zu stellen, wie sie es regelmäßig an ihren griechischen, kaukasischen und arabischen Grenzen getan hat. Anstatt die europäische Trennung von Staat und Kirche weiterzuführen, könnte der Eintritt in das, was dann dennoch ein gemeinsames Haus, ein Innenraum und nicht nur ein Korpus von Regeln zwischen Staaten wäre, rückschrittliche Kettenreaktionen auslösen. Ankara könnte sich eine Führungsrolle über die europäischen Moslems anmaßen, die schnell zu einer Belastung würde. Auf christlicher Seite würden Forderungen nach konfessioneller Neuidentifikation laut werden. Die türkische Differenz bewirkt, dass allein schon die Zugehörigkeit der Türkei das Bild eines Europas hervorruft, das weder an die Vereinigten Staaten noch an die Schweiz erinnert, sondern an Österreich-Ungarn. Es ist zu wünschen, dass es nicht zu einer Art soft-Nigeria wird, in dem Christen und Moslems ständig Argwohn gegeneinander hegen und sich bekämpfen.

Eben deshalb ist die Lösung »Aufschub« weiterhin die beste. Sie muss es erlauben, von der Türkei Garantien zu bekommen. Institutionelle: Es darf nicht sein, dass der Präsident der Europäischen Union, wenn die Türkei an der Reihe wäre, unter dem Einfluss des türkischen Generalstabs stünde. Kulturelle: durch eine wirkliche Umsetzung der Rechte der Kurden, die vergleichbar wäre mit der, die Europa für die albanische Moslemminderheit in Makedonien erwirkt hat. Moralische: durch die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern. Dann wird die Neigung für die Amerikaner und diejenigen, die wie sie denken, groß sein (und ist es ja auch schon), nach einer Vermählung der Türkei mit Europa die Türkei aus strategischen Gründen besonders wohlwollend zu betrachten. Das wäre ein schwerer Fehler. Die europäischen Völker haben vielleicht auf die Ambition verzichtet, ein einziges europäisches Volk zu sein, sie befinden sich nicht in einer Lage, in der sie einen schließlich gefundenen Zusammenhalt gutheißen würden, aber sie sind zweifellos nicht bereit, den fragilen, zivilen und kosmopolitischen Frieden, den sie geschaffen haben, auf dem Altar einer rein hypothetischen Freundschaft zwischen den Zivilisationen zu opfern.

 

Dieser Artikel erschien unter dem Titel »Les deux natures de la Turquie« in der französischen Zeitschrift Esprit, Revue internationale, Paris, Januar 2003. Übersetzung und Abdruck erfolgten mit freundlicher Genehmigung der Esprit-Redaktion und des Autors. Aus dem Französischen von Ronald Voullié.

 

1 Die politischen Eliten in der Türkei versuchen selber, die byzantinische Vergangenheit ihres Landes wieder zu beleben, um das Wohlwollen der Europäer zu gewinnen (siehe Kema Dervis, Le Monde, 13.11.03).

2 Eine geographische Unmöglichkeit, aber eine politische Versuchung, die erneut durch den eventuellen Beitritt der neuen türkischen Führer zum NAFTA, dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen, heraufbeschworen wird.

3 Diese Entwicklung entgeht Beweihräucherern der jahrhundertelangen Annäherung der Türkei und Europas wie Guy Sorman völlig.

4 Siehe den Artikel von Aytun Ugur in der Beilage von Cemoti, Nr. 19, »Laïcités en France et en Turquie«, 1995.