Das Anliegen der Türkei, dem europäischen Christen-Klub beizutreten,
lässt die Wogen hoch schlagen. Der Autor weist neben einigen Besonderheiten auf
den Probleme schaffenden Charakter der türkischen Trennung von Kirche und Staat
hin. Auch das Paradox einer islamischen Liberalisierung weckt Befürchtungen,
aber auch Möglichkeiten. Er warnt vor hypothetischen Freundschaften, empfiehlt
Aufschub und Abstimmungen des Verhältnisses.
Jemand erscheint am Eingang
eines Privatklubs. Man sagt ihm, dass die Mitglieder zu dieser Zeit nicht
empfangen, aber er könne später wiederkommen, vorausgesetzt, er habe sich in
der Zwischenzeit geändert. Er kehrt mit einem neuen Anzug zurück. Zehn Personen
warten vor ihm und dürfen eintreten. Aber als er an der Reihe ist, sagt einer
der Portiers: »Niemals!« Und die anderen: »Noch nicht!« Ist es seine jugendliche
Kraft, die missfällt, sein Schnurrbart oder etwas anderes? So sieht das
kafkaeske Schicksal aus, das Europa über die Türkei verhängt: ein Szenario für
einen bürgerrechtlichen Videoclip gegen den Rassismus am Eingang von Nachtlokalen.
Und in unserer demokratischen Welt wird die Nicht-Zulassung sogleich für eine
Ausschließung gehalten – in deren Namen man Europa vorwirft, sich als
»Christen-Klub« zu verhalten.
Diese Legende, die offensichtlich Schuldgefühle hervorrufen
soll, ist allerdings zu einfach. Es könnte ein anderes, besser zutreffendes
Bild herangezogen werden, nämlich das der theologischen Auseinandersetzungen
über die doppelte Natur. Die europäischen Beratungen erinnern in der Tat an die
ersten ökumenischen Konzile, die alle in Kleinasien stattfanden und auf denen
ausführlich über die doppelte Natur von Christus diskutiert wurde. In Ephesos
wurde sie als göttlich-menschlich dekretiert, und zwanzig Jahre später, in
Chalcedon (heute Kadikoy (1)), als voll göttlich und voll menschlich neu
definiert. Die Frage lautet, ob die Türkei eine islamisch-laizistische Natur sui
generis hat oder ob sie voll islamisch und voll weltlich sein kann. Dieses
Mysterium der Doppelnatur der Türkei scheint den Schlüssel für unsere
gemeinsame Zukunft zu enthalten, und jeder bemüht sich, ihn zu entdecken.
Gewiss, die Türkei wird seit mehr als einem Jahrhundert durch eine geographische
oder kulturelle Dualität charakterisiert. Ihre Bevölkerungsteile nehmen sie
hin, ihre Diplomatie hat es immer verstanden, sie in einem Maße auszunutzen,
dass der Bruch zwischen den Eliten und der Gesellschaft hier so auffällig ist
wie sonst nirgendwo auf der ganzen Erde. Aber heute scheint die Stunde der
Wahrheit zu schlagen.
Die Türkei steht durchaus nicht allein da. Als Folge ihrer
Akzeptierung des Marshall-Plans und ihres Eintritts in die NATO arbeitet sie
seit dem Zweiten Weltkrieg in vielen europäischen Organisationen mit. Diese
Bindung an Europa kam sozusagen durch negative Voraussetzungen zu Stande: durch
die Ablehnung des Kommunismus und durch die geographische Unmöglichkeit, in Amerika
zu sein.(2) Der Zusammenbruch des Kommunismus hat es ihr erlaubt, in eine neue
Organisation von Anrainern des Schwarzen Meeres einzutreten und Verbindungen
zum turkophonen Zentralasien anzuknüpfen. Es war zum Teil die Enttäuschung über
diese neuen Bestrebungen, die erneut den Wunsch nach einer Annäherung an Europa
ausgelöst hat, der von all ihren politischen Parteien getragen wird. Aber die
Türkei ist und bleibt auch Mitglied der Organisation der Islamischen Konferenz
(OCI). Keiner der Gegner des »Christen-Klubs« verlangt von der Türkei, aus der
OCI auszutreten, um in ein Europa einzutreten, das – ihnen zufolge – den
Beitritt der Türkei braucht, um seine Neutralität in Religionsfragen zu
beweisen. Es ist richtig, dass diese OCI eine recht lockere Gruppierung ist,
dass sie fast gar keine gemeinsamen Positionen hat und dass die Türkei dort
eine westliche diplomatische Linie verteidigt – und zwar recht deutlich, was Bosnien
betrifft, und eher zurückhaltend im Nahen Osten.
Die türkische Trennung von
Staat und Kirche
Neben dieser institutionellen
Dimension ist die Türkei, was ihre Dynamik betrifft, vom Islam geprägt, und das
ist kein unwichtiger Aspekt. Die europäischen Gesellschaften sind immer
atheistischer geworden und religiös zusammengebrochen, wenngleich es eine
islamische Präsenz von etwa fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung gibt. Die
türkische Gesellschaft ist religiös immer homogener geworden – genauso wie
andere islamistische Gesellschaften. Aber sie hat eine abwechslungsweise und
höchst spektakuläre Entwicklung durchgemacht. Vor 1914 bestand ein gutes Viertel
der Bevölkerung, die auf dem heutigen Gebiet der Türkei lebte, aus Christen.
Dann hat es den Völkermord an den Armeniern und Assyrern im Jahre 1915 gegeben
(dessen Verleugnung weiterhin zur offiziellen Politik der türkischen Republik
seit Mustafa Kemal, genannt Atatürk, gehört), dann das Massaker an den Griechen
in Smyrna im Jahre 1923, den Abzug aller Griechen aus Kleinasien im Austausch
gegen die Türken in Griechenland im Jahre 1929, die Flucht der Griechen aus
Istanbul nach den Aufständen in Zypern von 1963 und seit den Siebzigerjahren
die freiwillige Auswanderung der wenigen Armenier und Assyrer, die im Osten
übrig geblieben waren. Das ist ein Teil des Schattens, den die seit 1923
verfolgte Verwestlichung warf.(3) Die Trennung von Staat und Kirche vollzog
sich in »zwei Phasen«, das heißt auf ungleiche Weise, zumindest bis zum
jüngsten Gesetz von 2002, das religiösen Minderheiten erlaubt, Besitztümer zu
erwerben. Sie wurde von Kemal zwangsverordnet, und die Armee hütet sein Erbe
für die Islamisten mit Hilfe eines Klerus, der vom Staat bezahlt und
kontrolliert wird, und durch ihre Leitung eines Amtes für religiöse Angelegenheiten,
das nach den Worten des Gesetzes die Aufgabe hat, »die Gesellschaft zu erleuchten«.
Aber die »Trennung von Staat und Kirche« kann Verschiedenes bedeuten: In der
Türkei beinhaltete dieser Begriff seit Kemal eine antireligiöse Strategie und
eine Einmischung in die Gesellschaft, was sich deutlich von der klaren Trennung
von Staat und Zivilgesellschaft im Westen und in Frankreich unterscheidet.(4)
Die Wirkungen sind nicht alle negativ gewesen: Die türkische
Gesellschaft unterscheidet sich durch ihren Grad der Verweltlichung auf vielen
Ebenen von den meisten anderen islamischen Gesellschaften, aber diese
Neutralität in Religionsfragen ist im Vergleich mit den europäischen
Auffassungen unvollständig, und die geschichtliche Identität, auf die sie sich
stützt, ist voll und ganz vom Islam geprägt. Im Gegensatz zu Albanien zum
Beispiel, dessen Gründungsheld der Christ Skanderbeg ist, feiert die Türkei an
jedem 29. Mai die Eroberung von Konstantinopel [im Jahre 1453] und hat in den
Neunzigerjahren mit großem Pomp die Asche von Enver Pascha in die Heimat
zurückgeholt, einem der beiden Verantwortlichen für den Völkermord in Armenien.
Es kommt also zu Fehldeutungen und einer Verkehrung der Rollen, wenn man
behauptet, dass die Türkei offen sei und Europa ein in sich geschlossener Klub
von Christen. Dieser Vorwurf hat übrigens, solange diese Debatte läuft, zumeist
nichts gebracht. Es handelt sich weniger um ein religiös-neutrales Gebilde, das
man heute stärken will, wenn man die Türkei aufnimmt, sondern um ein
multikonfessionelles Gebilde, auf das man setzen möchte.
Der Sieg der gemäßigten Islamisten unter der Führung von
Recep Erdogan hat das Verdienst gehabt, diese Wende zum Ausdruck zu bringen.
Mit diesem Votum hat in der Tat etwas Wichtiges stattgefunden, das nicht
unbedingt schlecht ist. Die Intelligenzija und die liberale Bourgeoisie zeigen
ihr wohl wollendes Interesse, wenngleich sie diese Partei auch noch nicht
unterstützen. Die neuen Führer sind vielleicht noch nicht genügend verwurzelt,
um der Unruhe in der Armee Herr zu werden, aber anscheinend doch intelligent
genug, um eine Re-Islamisierung der Kleidung (in der Türkei immer eine höchst politische
Frage) als ein individuelles Recht zu präsentieren. Eine Korrektur des
Kemalismus ist nützlich und vielversprechend. Diese autoritäre
Modernisierungsideologie erschien immer mehr als ein Weg in die Sackgasse, als
ein »primitiver Nationalismus« (Orhan Pamuk), eine freiwillige Amnesie und eine
Ablehnung der Verbindungen sowohl zur arabisch-persischen Welt wie zu den ethnischen
und nichtislamischen Minderheiten. So paradox es ist, die Europäisierung, die
durch Methoden des asiatischen Despotismus erreicht werden soll, weicht einer
individualistischen Re-Islamisierung, die potenziell freundlichere Erinnerungen
mit sich bringt.
Das Paradox einer
islamischen Liberalisierung
Die Debatte hat sich somit
verschoben, und die Anhänger eines Beitritts der Türkei stützen sich weniger
auf die zweifelhafte Ähnlichkeit als auf die Differenz, die einem Bündel von
Hoffnungen und Befürchtungen gleicht. Die Furcht, die allzu gern auf die Gegner
eines Eintritts der Türken projiziert wird, beherrscht eher ihre Anhänger. Die
Befürchtung, ein mächtiges Land zu enttäuschen, dessen staatlicher Stolz unter
anderem die Drohung enthält, die europäischen Produkte zu boykottieren und
Zypern erneut zum Faustpfand zu machen. Die Islamisten haben dieses Spiel ihrer
Vorgänger schnell begriffen. Sodann die Befürchtung, ein Zeichen zu setzen, das
den »Kampf der Zivilisationen« nährt, dessen Heraufbeschwörung bis heute vor
allem dazu gedient hat, die verschiedenen islamistischen Zielsetzungen zu stärken.
Aber es gibt auch eine Hoffnung pädagogischer Art: nämlich die Hoffnung, den
erfolgreichen Weg des guten Schülers der Muslim-Klasse zu begünstigen. Ihm Zugang
zu einer höheren Stufe zu gewähren, müsste seinen neuen europäischen Mitschülern
viel mehr Mittel geben, mit denen dafür gesorgt werden kann, dass er sich
vorteilhaft entwickelt. Eben diese Hoffnung nähren die Minderheiten und die Demokraten
in der Türkei, die Hoffnung, dass Nationalismus, Militarismus und Fanatismus
sich in den Reusen des europäischen Rechtes verfangen mögen.
Aber man kann die Geschichte der modernen Türkei auch als
einen permanenten Wechsel zwischen einer autoritären religiösen Neutralität und
einer islamischen Liberalisierung sehen, deren Exzesse schließlich zu einer
Wiederbelebung des Kemalismus führen. Die Waage kann zu weit ausschlagen: Von
heute an, in dem Moment, in dem die Kurden aufatmen, fürchtet die islamische
Minderheit der schiitischen Aleviten die Rückkehr des arroganten Sunnismus.
Allein schon die Tatsache, dass in Europa darüber diskutiert wird, wie man
überhaupt mit dem Islam umgehen soll, weist darauf hin, dass eine der beiden
Naturen immer wichtiger werden wird. Nichts deutet darauf hin, dass die
türkische Geschichte ein ausreichendes Bollwerk gegen die identitätsmäßige
Versteifung darstellt, die den ganzen Islam durchzieht.
Man kann also davon ausgehen, dass eine Ablehnung der Türkei
– nach einer langen Debatte, deren Thema auch die Natur Europas ist – die
Hoffnung auf ein übernationales Europa wiederbeleben würde, während der
Eintritt Ankaras diese Hoffnung, wenn nicht für immer, so doch für lange Zeit
zunichte machen würde. Man kann auch befürchten, dass eine europäische Türkei
weder ihre Umgebung noch Europa befriedet, sondern vielmehr dazu neigt, ihre
neuen diplomatischen Trümpfe in den Dienst ihrer ethnisch-nationalen Interessen
zu stellen, wie sie es regelmäßig an ihren griechischen, kaukasischen und
arabischen Grenzen getan hat. Anstatt die europäische Trennung von Staat und
Kirche weiterzuführen, könnte der Eintritt in das, was dann dennoch ein
gemeinsames Haus, ein Innenraum und nicht nur ein Korpus von Regeln zwischen
Staaten wäre, rückschrittliche Kettenreaktionen auslösen. Ankara könnte sich
eine Führungsrolle über die europäischen Moslems anmaßen, die schnell zu einer
Belastung würde. Auf christlicher Seite würden Forderungen nach konfessioneller
Neuidentifikation laut werden. Die türkische Differenz bewirkt, dass allein
schon die Zugehörigkeit der Türkei das Bild eines Europas hervorruft, das weder
an die Vereinigten Staaten noch an die Schweiz erinnert, sondern an
Österreich-Ungarn. Es ist zu wünschen, dass es nicht zu einer Art soft-Nigeria
wird, in dem Christen und Moslems ständig Argwohn gegeneinander hegen und sich
bekämpfen.
Eben deshalb ist die Lösung »Aufschub« weiterhin die beste.
Sie muss es erlauben, von der Türkei Garantien zu bekommen. Institutionelle: Es
darf nicht sein, dass der Präsident der Europäischen Union, wenn die Türkei an
der Reihe wäre, unter dem Einfluss des türkischen Generalstabs stünde.
Kulturelle: durch eine wirkliche Umsetzung der Rechte der Kurden, die
vergleichbar wäre mit der, die Europa für die albanische Moslemminderheit in
Makedonien erwirkt hat. Moralische: durch die Anerkennung des Völkermordes an
den Armeniern. Dann wird die Neigung für die Amerikaner und diejenigen, die wie
sie denken, groß sein (und ist es ja auch schon), nach einer Vermählung der
Türkei mit Europa die Türkei aus strategischen Gründen besonders wohlwollend zu
betrachten. Das wäre ein schwerer Fehler. Die europäischen Völker haben vielleicht
auf die Ambition verzichtet, ein einziges europäisches Volk zu sein, sie
befinden sich nicht in einer Lage, in der sie einen schließlich gefundenen
Zusammenhalt gutheißen würden, aber sie sind zweifellos nicht bereit, den
fragilen, zivilen und kosmopolitischen Frieden, den sie geschaffen haben, auf
dem Altar einer rein hypothetischen Freundschaft zwischen den Zivilisationen zu
opfern.
Dieser Artikel erschien unter dem
Titel »Les deux natures de la Turquie« in der französischen Zeitschrift Esprit,
Revue internationale, Paris, Januar 2003. Übersetzung und Abdruck erfolgten mit
freundlicher Genehmigung der Esprit-Redaktion und des Autors. Aus dem
Französischen von Ronald Voullié.
1 Die
politischen Eliten in der Türkei versuchen selber, die byzantinische Vergangenheit
ihres Landes wieder zu beleben, um das Wohlwollen der Europäer zu gewinnen
(siehe Kema Dervis, Le Monde, 13.11.03).
2 Eine
geographische Unmöglichkeit, aber eine politische Versuchung, die erneut durch
den eventuellen Beitritt der neuen türkischen Führer zum NAFTA, dem Nordamerikanischen
Freihandelsabkommen, heraufbeschworen wird.
3 Diese
Entwicklung entgeht Beweihräucherern der jahrhundertelangen Annäherung der
Türkei und Europas wie Guy Sorman völlig.
4 Siehe den
Artikel von Aytun Ugur in der Beilage von Cemoti, Nr. 19, »Laïcités en
France et en Turquie«, 1995.