Ludwig Watzal

Palästina, aufgeblättert

Bücherüberblick zu einem unendlichen Konflikt

Der Nahe Osten kommt nicht zur Ruhe. Gewalt und Gegengewalt bestimmen das Leben sowohl der Israelis als auch der Palästinenser. Die Terroranschläge des 11. September 2001 wurden von Israels Ministerpräsident Ariel Sharon zum Anlass genommen, Arafat in eine Reihe mit Osama bin Laden zu stellen und den Befreiungskampf der Palästinenser als »Terrorismus« zu brandmarken. Diese Entwicklung hat zu einer Flut von Publikationen über den Nahostkonflikt geführt.

 

Baruch Kimmerling gehört zu den renommiertesten Soziologen Israels. Geboren in Rumänien, kam er 1952 nach Israel und begleitet seither die Politik des Landes engagiert kritisch. Der Autor beschreibt die israelische Politik als die eines fortwährenden Politizids, dessen Ziel es sei, »das Ende der Existenz des palästinensischen Volkes als soziale, politische und wirtschaftliche Größe« herbeizuführen. Der Politiker, der dies zu seinem Lebensinhalt gemacht habe, sei der jetzige Ministerpräsident Ariel Sharon. Der Autor lässt nochmals dessen Rücksichtslosigkeit, aber auch seine Verschlagenheit und politische Klugheit aufscheinen. Das Ergebnis seiner Politik sei ein doppelter Politizid, das Ende der Palästinenser, aber auf lange Sicht auch das Ende der jüdischen Gemeinschaft. Was vor Sharon als undenkbar galt, nämlich die ethnische Säuberung als ein legitimer Lösungsansatz für die demographischen Probleme Israels, sei zu einem »ausdrücklich anerkannten Bestandteil des alltäglichen politischen Diskurses in Israel geworden«. Dagegen müssen sich die Israelis durch zivilen Ungehorsam wehren.

Für den Autor ist Israel »eine militärische, wirtschaftliche, und technologische Supermacht«. Israel wurde »auf den Ruinen einer anderen Kultur aufgebaut, die dem Politizid und einer teilweisen ethnischen Säuberung zum Opfer fiel, auch wenn es dem neuen Staat Israel nicht gelang, die rivalisierende Kultur der ›Eingeborenen‹ auszulöschen«. Anders als andere Staaten Afrikas »konnten sich die Palästinenser und die arabischen Staaten ihrer Kolonialherren nicht entledigen«. Kimmerling beschreibt den Zustand seines Landes durch die Besatzung wie folgt: »Im Laufe der Zeit wurde dieser Zustand institutionalisiert, und Israel wurde von einer echten Demokratie zu einer Herrenvolk-Demokratie.«

Gegen mögliche Angriffe baut der Autor vor; er sei israelischer Patriot. Folglich schickt er seinen Ausführungen einen außergewöhnlichen Appell voraus: Er habe dieses Buch »voller Schmerz und Trauer verfasst. Es ist keineswegs mein persönliches Ziel, aus ›jüdischem Selbsthass Israel zu diffamieren‹, wie die meisten meiner politischen und ideologischen Gegner behaupten werden«. Die Ausführungen Kimmerlings vermitteln ein Israel-Bild, das nur zu realistisch ist und das so gar nicht den deutschen Vorstellungen von Israel entspricht. Ein überaus wichtiges und empfehlenswertes Buch.

 

Ähnlich realistisch ist der Erlebnisbericht Gaza. Tage und Nächte in einem besetzten Land der israelischen Journalistin Amira Hass, die einige Jahre in Gaza-Stadt unter Palästinensern gelebt und gearbeitet hat. Sie wollte Gaza durch die Augen seiner Bewohner und nicht durch die Windschutzscheibe eines Armeejeeps kennen lernen. Hass lehnte schon immer die israelische Dämonisierung der Palästinenser ab. Für viele Israelis sind die Palästinenser »primitiv, gewalttätig und den Juden gegenüber feindlich gesinnt«. Dieses Klischee will die Journalistin der angesehenen Tageszeitung Haáretz bei ihren Landsleuten bis heute erschüttern. Das andere Motiv liegt in ihrer Herkunft begründet. Ihre Eltern stammten aus Rumänien und haben den Terror des Nazi-Regimes überlebt. Sie rebellierten gegen jede Form von Ungerechtigkeit, waren links und antizionistisch. Der Widerspruch ist der Autorin Vermächtnis.

Hass dokumentiert den Alltag der Menschen im Gaza-Streifen unter Besatzung. Sie kritisiert sowohl das israelische Besatzungsregime, das die totale Kontrolle während des ganzen »Friedensprozesses« aufrechterhalten habe, als auch die Selbstherrlichkeit von Arafats Autonomiebehörde und deren schamlose Privilegien, die aber nur von Israel geliehen seien. Das Leben im »Gefängnis von Gaza« ist mehr als bedrückend. Die Autorin gehörte zu den Ersten, welche die Logik des »Friedensprozesses« durchschauten und als Mythos entlarvte. Für Hass ist die Besatzung ursächlich für die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, die einige von ihnen zu Selbstmordattentätern werden lässt. Nicht die Gewalt der Palästinenser sei Ursache des Terrors, sondern die israelische Besatzung. In einem Epilog für die deutsche Ausgabe geht sie nochmals auf die wirkliche Absicht des »Friedensprozesses« ein, nämlich »die militärische Besatzung durch ein sehr viel ausgeklügelteres System zu ersetzen, in dem zwar das Militär unsichtbar sein, Israels Kontrolle über das Leben eines anderen Volkes jedoch weiterhin erhalten bleiben würde«.

 

Auch Tanya Reinhart, Professorin für Linguistik an der Universität von Tel Aviv, geht in »Operation Dornenfeld« mit ihrer eigenen Regierung überaus kritisch um. Anhand israelischer Presseberichte, Armee- und Regierungsdokumente analysiert sie in zehn Kapiteln die Entwicklung im Nahen Osten seit dem Scheitern der Verhandlungen von Camp David im Juli 2000. Für sie war der Friedensprozess ein »Täuschungsmanöver«. Dazu gehörten auch die Camp-David-Verhandlungen. Sie entzaubert den Mythos von Camp David, und dies anhand von israelischen Presseberichten und einer genauen Analyse offizieller Regierungsverlautbarungen. So beruhten Baraks Vorschläge in Camp David auf dem so genannten Beilin-Abu-Mazen-Plan, nach dem alle Siedlungen unangetastet bleiben sollten. Für die Autorin ist die Vereinbarung ein »Dokument der Schande«. Auch die Hauptstadt eines »Palästinenserstaates« hätte aus dem Dorf Abu Dis am Rande von Ost-Jerusalem bestanden. Nach Reinhart wollte Barak wie auch jetzt Sharon den Palästinensern für ihren Staat nur maximal 42 Prozent geben.

Die Autorin weist nach, dass die Pläne zum »Sturz Arafats und der Palästinensischen Autonomiebehörde« nicht von Sharon, sondern von Barak stammten; »Operation Dornenfeld« lag bereits im Oktober 2000 vor, noch bevor die Autonomiebehörde zum »Terror« überging. Der Plan wurde von »Baraks Berater Danny Yatom erstellt«. Die Dämonisierung Arafats als Komplize des Terrorismus ist unter anderem auch der Konkurrenz der verschiedenen israelischen Geheimdienste geschuldet. Der augenblickliche Generalstabschef Moshe Yaálon und damalige Chef des militärischen Geheimdienstes Amán vertrat seit 1997 die These »vom grünen Licht für den Terror« durch Arafat. Glaubt man der Autorin, so hätte auch eine von Barak geführte Regierung ähnlich gehandelt. Was die Autorin in den anderen Kapiteln offen legt, ist für die Sharon-Regierung wenig schmeichelhaft.

Ein überaus kritisches Buch zur Politik Israels, dem man aber etwas mehr Selbstkritik von Seiten der Autorin gewünscht hätte. Für die deutsche Öffentlichkeit und die politische Klasse allemal eine Pflichtlektüre.

 

Alain Gresh, Chefredakteur der renommierten Monatszeitung Le Monde diplomatique, hat eine kurze, aber sehr prägnante Geschichte des Nahostkonfliktes vorgelegt. Das Buch handelt von der Entstehung des Konfliktes, von Judentum und Zionismus, der Staatsgründung Israels und dem Untergang Palästinas, dem Völkermord und dem Leiden des anderen sowie der Besatzungspolitik Israels und dem Scheitern des so genannten Friedensprozesses.

Der Autor gehört zu einer Spezies, die in den Sechzigerjahren, der Zeit der Entkolonisierungsbewegungen, sozialisiert wurde und für die Solidarität mit den »Verdammten dieser Erde« kein Fremdwort ist. Die Ausführungen des Autors sind stark von der französischen Debatte zum Nahostkonflikt und zum Antisemitismus geprägt. Er setzt sich intensiv mit Holocaust-Leugnern à la Garaudy auseinander. Für den Autor lässt sich die Shoah mit dem Leiden der Palästinenser nicht gleichsetzen, gleichwohl steht Gresh auf der Seite der unterdrückten Palästinenser.

Für den Autor hat der Bau der Umgehungsstraßen und die Verdoppelung der Siedler während des Friedensprozesses diesen ad absurdum geführt. Den aus Hoffnungslosigkeit begangenen palästinensischen Terroranschlägen hätte man »entschlossene Schritte zur Beendigung der Besatzung, zur Schaffung eines palästinensischen Staates« entgegensetzen müssen. Dazu sei auch Barak nicht bereit gewesen. Gresh kritisiert Sharon, weil sein Ziel nicht nur die »Zermalmung« der Autonomiebehörde und die Beerdigung der Osloer Abkommen sei, sondern vielmehr »die Kapitulation der palästinensischen Bevölkerung, ihr Verzicht auf jede Art von Widerstand«.

Abgerundet wird diese Darstellung durch eine Zeittafel vom Ersten Weltkrieg bis zur zweiten Intifada sowie durch acht hervorragende Karten. Dieses Buch ist sehr gut geschrieben, was für Sachbücher nicht immer gilt. Eine ausgezeichnete Abhandlung, die jeder gelesen haben sollte.

 

Endlich, so könnte man sagen, wurde das Buch Fateful Triangle des renommierten Linguisten Noam Chomsky ins Deutsche übersetzt; es erschien erstmalig 1983. Das Buch ist ein Klassiker. Angeklagt werden die USA und Israel. Der Autor kritisiert aber die Politik der USA schärfer als diejenige Israels. So könne Israel die 35-jährige Besatzungs- und Siedlungspolitik nur aufrechterhalten, weil sie von den USA zum großen Teil finanziert werde. Beide bilden sie die »Verweigerungsfront« gegenüber den Unterprivilegierten. Für den Autor ist es völlig klar, dass Israel das tut, was Washington will. Macht es sich da der Autor nicht zu einfach? Sind nicht die USA auch teilweise von Israel abhängig?

Im Kapitel über die »Vorgeschichte des Nahost-Konfliktes« entwirft Chomsky eine historische Sichtweise, die der gängigen historischen Narration in Israel in zentralen Punkten widerspricht. So belegt der Autor, dass die zionistischen Politiker nie einen wirklichen Ausgleich mit der einheimischen arabischen Bevölkerung anstrebten und den Teilungsplan vom November 1947 nur aus taktischen Gründen akzeptiert hatten.

Erfrischend an Chomskys Ausführungen ist, dass er die historischen Verzerrungen, relativierenden Rechtfertigungen und scheinbar bewussten Desinformationen nicht nur beim Namen nennt, sondern auch mit zahlreichen Belegen zurückweist. Wenn dem Autor eines gelungen ist, dann ist es die Lüftung des Schleiers, der sich um die Mythen des Nahostkonfliktes gelegt hat. Er hat eine fantastische Analyse einer der großen Tragödien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vorgelegt.

 

Wie konnte aus einem Land der Opfer ein Land der Täter werden, so könnte man Marcel Potts Buch Schuld und Sühne im Gelobten Land resümierend zusammenfassen. Dass wir als Deutsche auch für die Misere der Palästinenser mit schuldig sind, ist erst nach intensivem Nachdenken einsichtig. Aus dieser These resultiere eine doppelte Verantwortung der Deutschen, die sich besonders dann verbal äußern müssen, wenn Menschenrechte verletzt, Antisemitismus und Rassismus bekämpft sowie gegen Unterdrückung vorgegangen werden müsse. Pott geißelt die Sonderrolle Israels, die das Land nur unter dem Schutz der USA spielen könne, wider alle völkerrechtlichen und demokratischen Standards, ohne Konsequenzen, wie sie zum Beispiel der Irak befürchten muss. Der Autor hat eine engagierte Abhandlung über den Nahostkonflikt und die Rolle der USA verfasst, die jedes Tabu vom Tisch wischt. Ob man mit dieser Vorgehensweise das Kind nicht mit dem Bade ausschüttet, bleibt dem Urteil des Lesers anheim gestellt.

 

Im Sammelband Gefangen zwischen Terror und Krieg? sind AutorInnen aus Israel, Palästina und Deutschland versammelt, deren gemeinsames Anliegen die Förderung des Endes der Besatzung der palästinensischen Gebiete und die Solidarität mit allen denjenigen Kräften ist, die sich gegen eine Militärisierung im Nahen Osten und eine friedliche Lösung einsetzen. In dem Buch werden die Friedenskräfte in Israel vorgestellt. Einen besonderen Schwerpunkt bildet die Solidarität mit den Wehrdienstverweigerern in Israel. Ein Highlight ist das Interview mit Moshe Zuckermann.

Neben den zahlreichen Beiträgen für eine Wehrdienstverweigerung befindet sich im Dossier der Appell zur Beendigung der Selbstmordattentate, ein offener Brief von Soldaten und Reservisten sowie ein offener Brief von Schülerinnen und Schülern. Eine kurze Chronologie, diverse Karten sowie Kontaktadressen runden dieses interessante Bändchen ab. Schade, dass die palästinensische Seite so unterrepräsentiert ist. Trotzdem ein mutiges Unterfangen in Zeiten der Aufrüstung und der Kriegsgefahr.

 

Baruch Kimmerling: Politizid. Ariel Sharons Verbrechen gegen das palästinensische Volk. Aus dem Englischen von Dirk Oetzmann und Horst M. Langer, München (Diederichs Verlag) 2003 (244 S., 19,95 €)
Amira Hass: Gaza. Tage und Nächte in einem besetzten Land. Aus dem Englischen von Sigrid Langhäuser, München (C. H. Beck Verlag) 2003 (410 S., 24,90 €)
Tanya Reinhart: »Operation Dornenfeld«. Der Israel-Palästina-Konflikt: Gerechter Frieden oder endloser Krieg. Aus dem Englischen von Michael Schiffmann, Bremen (Atlantik-Verlag) 2002 (203 S., 14,00 €)
Alain Gresh: Israel-Palästina. Die Hintergründe eines unendlichen Konflikts. Aus dem Französischen von Bodo Schulze, Zürich (Rotpunktverlag) 2002 (192 S., 19,80 €)
Noam Chomsky: Offene Wunde Nahost. Israel, die Palästinenser und die US-Politik, Hamburg (Europa Verlag) 2002 (352 S., 19,90 €)
Marcel Pott: Schuld und Sühne im Gelobten Land. Israels Sonderrolle im Schutz der westlichen Welt, Köln (Verlag Kiepenheuer & Witsch) 2002 (226 S., 14,50 €)
Rudi Friedrich (Hrsg.): Gefangen zwischen Terror und Krieg? Israel/Palästina: Stimmen für Frieden und Verständigung, Grafenau (Trotzdem Verlag) 2002 (145 S., 12,00 €)