Evelyn Hanzig-Bätzing

 

Dreißig geklonte menschliche Embryonen

 

Der Stammzellenforschung letzter Erfolg

 

 

Solange sich der Embryo in vitro befindet, fehlt ihm eine wesentliche Voraussetzung dafür, sich aus sich heraus zum Menschen oder als Mensch zu entwickeln.« Er habe »lediglich (die) abstrakte Möglichkeit, sich in diesem Sinne weiter zu entwickeln«, und dies reiche »für die Zuerkennung von Menschenwürde nicht aus«. So die Justizministerin Brigitte Zypris in ihrer denkwürdigen Rede beim Humboldt-Forum der Berliner Humboldt-Universität Ende Oktober letzten Jahres. Die Abwägung bei der Zuerkennung der Menschenwürde des auf dem Labortisch erzeugten menschlichen Embryos war ein Vorstoß der Bundesregierung, die Grenzen der Gentechnologie, die im Embryonenschutzgesetz von 1991 und im Stammzellgesetz von 2002 festgeschrieben sind, aufzuweichen, um den Interessen der Forschung, das heißt der global vernetzten Biotechnologie, die ungeheure ökonomische Gewinne verspricht, schrittweise Priorität gegenüber dem Forschungsgegenstand (dem im Reagenzglas, »in vitro« erzeugten menschlichen Embryo) zu verleihen. Die Vorsitzende des Forschungsausschusses im Bundestag Flach begrüßte die »biopolitische Wende« der Bundesregierung und sprach von einer Genugtuung. Dieser grundlegenden Positionsveränderung in der Auffassung des Grundrechtsschutzes des in vitro erzeugten menschlichen Lebens wird zunächst ein »Nein« der Justizministerin zum therapeutischen Klonen vorgeblendet; es ist als bloße Strategie zu deuten. »Das ist ein edler Versuch, aber er wird ihr nicht gelingen. Doch wenn erst einmal ein Loch in der Mauer ist, werden auch die anderen Steine fallen« – so die sicher berechtigte Hoffnung der FDP-Politikerin Flach.

Die In-vitro-Fertilisation stellt heutzutage eine selbstverständliche, normative Gegebenheit dar; die neue Biotechnologie hat allein hierin ihre Wurzeln. Die grundlegende Voraussetzung für das Entstehen der neuen Biowissenschaften wurde vor mehr als zwei Jahrzehnten durch einen qualitativen Sprung in der Fortpflanzungsmedizin gelegt: Mit der Geburt des ersten exkorporal erzeugten Menschen, dem materiellen Ergebnis eines technisch hergestellten Zeugungsaktes namens Louise Brown, legten britische Wissenschaftler im Jahre 1978 den Beweis des Gelingens der künstlichen Befruchtung ab und schufen die Voraussetzung für die heute unter dem Titel Biomedizin sich versammelnden Forschungsbereiche, die inzwischen das Prädikat »Lebenswissenschaften« tragen und somit die Stelle einnehmen, die bisher alle mit dem menschlichen Wesen befassten Wissenschaften innehatten (das gilt auch und vor allem zunehmend für die »Ethik«). Das erste Retortenbaby verkörperte den gelungenen Versuch der Fortpflanzungsmedizin, die Zeugung menschlichen Lebens unabhängig vom Menschen, außerhalb des Körpers, nämlich im Reagenzglas (in vitro), stattfinden zu lassen und damit das Entstehen menschlichen Lebens als ein technisch herstellbares Faktum zu konsolidieren. So schuf der in vitro erzeugte Embryo die Möglichkeit, sich selbst zum Experiment, zum Forschungsgegenstand, zum Beispiel seiner genetischen Ausstattung zu werden. Und damit schuf er zugleich die Basis, sein Lebensrecht gegenüber der Forschungsfreiheit beweisen zu müssen.

Die Verfügbarkeit des menschlichen Erbguts auf dem Labortisch – bisher ein unbewältigt gebliebenes ethisches Folgeproblem der »überzähligen« Embryonen, die bei der In-vitro-Fertilisation entstehen, weil eine Vielzahl befruchteter Eizellen erzeugt werden muss, um eine Schwangerschaft herbeizuführen – hat das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Das Embryonenschutzgesetz stellt aber Tatbestände unter Strafe, die die In-vitro-Fertilisation zu anderen Zwecken verwendet als die Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der das Erbgut stammt. Das Stammzellgesetz hat unter dem Druck der Forschungsfreiheit und der Großindustrie die Forschung an diesen überzähligen Embryonen – wenn auch derzeit gesetzlich begrenzt – zu Forschungszwecken freigegeben und damit das Embryonenschutzgesetz erstmals gelockert mit dem vermeintlich plausiblen Argument, dass diese Embryonen tiefgefroren eingelagert oder ohnehin abgetötet werden.

 

Die embryonale Stammzellforschung, an deren vorderster Front der Bonner Neuropathologe Oliver Brüstle steht, hat vom Verfahren der In-vitro-Fertilisation profitiert. Den öffentlichen Diskurs hat man mit dem utilitaristisch motivierten Argument der Maximierung menschlichen Wohlergehens davon überzeugen wollen, dass die Stammzellforscher eine ethisch fundierte Option auf den in vitro erzeugten Embryo besitzen. Worum geht es? In der Stammzellforschung geht es um die Gewinnung der Stammzellen der befruchteten menschlichen Eizelle zur Herstellung von Ersatzgewebe für defektes oder abgestorbenes Körpergewebe erwachsener Menschen. In einzigartiger Weise zeichnet sich nämlich das frühe Stadium embryonaler Entwicklung (3 bis 10 Tage) durch eine absolute, das heißt durch eine noch undifferenzierte Leistungsfähigkeit aus. Der Embryo in diesem frühen Stadium, dem »Blastozystenstadium«, wird deshalb auch als »totipotent« bezeichnet: Aus seinen »Stammzellen« (die das Potenzial der befruchteten Eizelle besitzen!) entwickeln sich alle Zelltypen, aus denen der Körper des Menschen besteht; erst später spezialisieren sie sich, differenzieren sich aus, werden zu Organen. Entnimmt man nun der Blastozyste diese totipotenten Stammzellen – so jedenfalls die Bekundung der Forscher – und vermehrt sie unter Hinzufügung entsprechend geeigneter Wachstumsfaktoren in einer Kulturschale, so können sich diese Stammzellen – wie die erfolgreiche Grundlagenforschung embryonaler Stammzellen der Maus zeigt – zu unterschiedlichen Zelltypen oder Gewebearten entwickeln. Dem Menschen transplantiert, sollen sie krankes Gewebe reparieren oder abgestorbenes Gewebe ersetzen können. Herzinfarkt, Krebserkrankungen, Alzheimer-Erkrankung, Diabetes, Multiple Sklerose bis hin zur Parkinson-Erkrankung stehen auf der Heilungsliste der Wissenschaftler.

 

Ein anderes Verfahren zur Produktion von Zellersatz aus technisch erzeugten Stammzellen ist nun erstmals südkoreanischen Wissenschaftlern gelungen. Am 12. Februar 2004 hat dieses Forscherteam bekannt gegeben, dass es ihnen gelungen ist, menschliche Embryonen zu »klonen«. Eine Revolution in der Stammzellforschung hat sich ereignet. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit konnten aus geklonten menschlichen Embryonen embryonale Stammzellen gewonnen werden. Dieses Verfahren verdankt sich jener umstrittenen Methode der ungeschlechtlichen Herstellung von Embryonen, mit der im Jahre 1996 das berühmte Klonschaf »Dolly« hergestellt worden ist. Mit der Geburt von Dolly konnte der schottische Wissenschaftler Ian Wilmut den Beweis erbringen, dass sich aus dem Transfer des Zellkerns einer beliebigen Körperzelle (hier aus dem Kern einer Euterzelle) in eine zuvor entkernte weibliche Eizelle ein Embryo herstellen ließ, der sich im Mutterleib zu einem lebensfähigen Tier entwickelte. Man hat es bei diesem Verfahren mit einer künstlich erzeugten Totipotenz zu tun: Aus dem Transfer des Zellkerns einer beliebigen Körperzelle (mittels spezieller Proteine wird die Differenziertheit des Zellkerns derart manipuliert, dass seine Differenziertheit aufgehoben und »reprogrammierbar«, das heißt in seinen Urzustand zurückversetzt wird, zum Zwecke der Eizellteilung – so, als ob die Eizelle befruchtet worden wäre) in eine zuvor entkernte weibliche Eizelle wird ein Embryo gemacht.

Die koreanischen Wissenschaftler haben vermocht, was man bislang nur für eine theoretische Möglichkeit hielt: aus geklonten menschlichen Embryonen Stammzellen zu gewinnen. Sechzehn Frauen, die über den Zweck des Experiments informiert waren, haben sich bereit erklärt, eine künstliche Hormonstimulation an sich vornehmen zu lassen mit dem Ergebnis, dass man von ihnen 242 Eizellen als Ausgangsmaterial für das Verfahren gewinnen konnte. Des Weiteren wurden diesen Frauen Nährzellen des Eierstocks, »Cumuluszellen«, entnommen, in die zuvor entkernten Eizellen transferiert und durch chemische Manipulation reprogrammiert und so zur Zellteilung gebracht. In dreißig Fällen gelang es, Blastozysten herzustellen, also geklonte menschliche Embryonen zu gewinnen. Aus diesen wiederum haben die koreanischen Wissenschaftler allerdings nur eine Stammzelllinie gewinnen können. Dennoch ist damit der wissenschaftliche Beweis erbracht, dass das, was beim Tier funktioniert, auch beim Menschen machbar ist. Der amerikanische Stammzellforscher Robert Lanza spricht denn auch von einem medizinischen Meilenstein, den er mit der Entwicklung von Antibiotika gleichsetzt. Und der am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge tätige deutsche Molekularbiologe Rudolf Jaenisch reagiert begeistert auf das gelungene koreanische Klon-Experiment indem er schon einmal prophezeit, dass die »Politik der Amerikaner und der Deutschen dazu führen (wird), dass vieles im Verborgenen gemacht wird, getrieben von kommerziellen Interessen«.

Das Klon-Experiment soll therapeutischen Zwecken dienen, genauso wie dies die Stammzellforschung an überzähligen menschlichen Embryonen verspricht. Wegen der Vermehrung körpereigener Zellen meint man aber demgegenüber, insofern vorteilhafter, zum Nutzen des Einzelnen zu forschen, als mit körpereigenen Zellen immunologisch verträgliche, da genetisch nahezu identische Transplantate hergestellt werden können, die deshalb keine Abstoßungsreaktionen mehr hervorrufen. Und was den Unterschied zwischen diesem so genannten »therapeutischen Klonen«, das man inzwischen vernebelnd auch »Forschungsklonen« nennt, und dem »reproduktiven Klonen« (wie bei »Dolly«) betrifft, so besteht er allein darin, dass beim therapeutischen Klonen die embryonale Entwicklung im Stadium der Blastozyste (der Frau Zypris das Recht auf Menschenwürde abspricht, indem sie sie mit dem Recht auf Forschungsfreiheit gleichsetzt und dieser damit unterordnet) zur Entnahme der totipotenten Stammzellen abgebrochen, also der Frau nicht in den Uterus implantiert wird. Der einzige Unterschied zwischen therapeutischem und reproduktivem Klonen ist ein vom Forscher gemachter; er besteht gleichsam in der Intention des Wissenschaftlers: Allein seine »Handlungsabsicht und spätere Verwendung des geklonten Embryos« bestimmt den qualitativen Unterschied.(1)

 

Ein Aufschrei der Empörung und Verachtung war die Reaktion auf den Klonerfolg von Seoul, zumal der koreanische Klonerfolg zeitlich in eins fiel mit dem 200. Geburtstag Immanuel Kants, so, als hätte man ihm diesen nachträglich auf den Gabentisch legen wollen. Kants Selbstzweckargument, auf das man sich in diesen Tagen gern beruft, um sich vom koreanischen Erfolg zu distanzieren, besagt ja, dass menschliches Leben nicht instrumentalisiert, also nicht zum Zweck für andere, zur Verwertung für Dritte benutzt werden darf. In der berühmten Formel des kategorischen Imperativs lautet dieses Argument: »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als (auch) in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«

Umso unglaubwürdiger tönen die Empörungen vor allem bei jenen, die der verbrauchenden Embryonenforschung den Weg bereiten, indem sie die embryonale Stammzellforschung mit Millionenbeträgen voranzutreiben suchen und das Embryonenschutzgesetz und Stammzellgesetz, kaum dass es Anwendung finden könnte, auch schon lockern beziehungsweise revidieren wollen. »Um Ersatzgewebe zu bekommen, brauchen wir das Klonen nicht« – so der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Ernst Ludwig Winnacker, in der FAZ (13.2.2004). Dieser Reaktion Winnackers auf den Klonerfolg wäre aber hinzuzufügen: »Um Ersatzgewebe zu bekommen«, (ver-)brauchen wir Embryonen, also menschliches Leben zur Verwertung für Dritte, also zum Zweck für andere. Winnacker war es auch, der der Stammzellforschung in Deutschland wesentlich mit den Boden bereitete und jenen Stammzellforscher (Brüstle) unterstützt, der sich für sein »Patent auf Zellen aus geklonten menschlichen Embryonen« vor dem Bundespatentamt verantworten muss.(2) Es gebe mächtige Interessenten wie die kalifornische Geron Corporation – beim therapeutischen Klonen herrsche eine große Euphorie –, so die Begründung Brüstles.(3)

Die forschungspolitische Sprecherin der CDU, Katharina Reiche, hat in ihrer Rede vor dem Deutschen Bundestag am 20.2.2003 zur »Genetischen Diagnostik vor und während der Schwangerschaft« dem therapeutischen Klonen das Wort gesprochen, indem sie es in die diskursfähige Formel »Reprogrammierung körpereigener Zellen« umformulierte. Das therapeutische Klonen folgt der Logik der Ausweitungsdynamik (als zwangsläufige Folge der Stammzellforschung) vor allem jener Wissenschaften, die enorme Profite versprechen. »Wer in zehn, fünfzehn Jahren als Erster mit Stammzellen aus geklonten Embryonen Alzheimer behandeln könnte, hätte die Lizenz zum Gelddrucken gefunden.«(4)

Die Vision, die in dieser Auffassung anklingt, ist nun möglicherweise durch die Kerntransplantation umprogrammierter menschlicher Zellen für viele Biotechnologieunternehmen und für die Pharmaindustrie ein Stück weit in die Realität umgesetzt worden: Hatte die Zulassung von Medikamenten einen langen und enorm kostenaufwändigen Weg zu nehmen, bei dem an Probanden mögliche Nebenwirkungen oder Unverträglichkeiten der Wirkstoffe sich zu erweisen hatten, so stellt das Verfahren des Klonens eine völlig neue Perspektive in Aussicht, nämlich die, dass sich nun die Möglichkeit eröffnet, »Wirkstoffe an Gewebekulturen eines Patienten individuell zu erproben. ... Dem Patienten würde dies eine neue Erfahrung bescheren: Sein Körper erweitert sich um eine Gewebekultur, die als Testlabor dient. Ein kleiner genetischer Alter Klonego würde dabei helfen, die geeignete Therapie zu finden. Auch in Deutschland werden bereits die Grundlagen für diese Anwendung gelegt, vorerst freilich nur an importierten embryonalen Stammzellen.«(5)

Das in vitro erzeugte menschliche Leben erscheint wie das Propädeutikum zu einer Epochenschwelle im menschlichen Dasein: Auf dem Labortisch erwächst dem Menschen die Verfügungsmacht über sich selbst. Die ist aber nur um den Preis der Effizienzsteigerung seiner ökonomischen Verwertbarkeit – um den Preis der Verstümmelung seines Selbst – zu haben.

 

Die Autorin beschäftigt sich als Philosophin seit längerem mit dem Bedeutungszusammenhang zwischen den neuen Biotechnologien und der Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Zentrale Ergebnisse werden im Rahmen eines Buches veröffentlicht, das im Frühjahr 2005 im Rotpunktverlag (Zürich) erscheint.

 

1

Ingrid Schneider: »›Reproduktives‹ und ›therapeutisches‹ Klonen‹«, in: Düwell/Steigleder (Hrsg.): Bioethik. Eine Einführung, Frankfurt am Main 2003, S. 269.

2

Alexander Kissler: »Goldene Zukunft. An welcher Wegscheide steht die Biopolitik im neuen Jahr?«, in: FAZ v. 30.12.2003.

3

Christian Schwägerl: »Die Geister, die sie riefen. Hintergründe der politischen Durchsetzung der Embryonennutzung – Eine Erforschung der Forscher«, in: FAZ v. 16.6.2001.

4

Alexander Kissler, a.a.O.

5

Christian Schwägerl: »Werkzeuge der Körperschaffung«, in: FAZ v. 16.2.2004.

 

 

Literatur:

Düwell, M./Steigleder, K. (Hrsg.) (2003): Bioethik. Eine Einführung, Frankfurt am Main

Geyer, Chr. (Hrsg.) (2001): Biopolitik. Die Positionen, Frankfurt am Main

Merkel, R. (2002): Forschungsobjekt Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen, München

Tolmein, Oliver/Schweidler, W. (Hrsg.) (2003): Was den Menschen zum Menschen macht. Eine Gesprächsreihe zur Bioethik-Diskussion, Münster