Ereignisse und Meinungen

 

BALDUIN WINTER

 

Europas Türkei?

 

 

Für den Bayern Edmund Stoiber ist alles eine Frage des Geldes. »Wer soll das bezahlen«, klagt er in einem Gespräch mit der SZ (21.2.). Während der Interviewer versucht, Stoiber auf den Demokratisierungsprozess in der Türkei anzusprechen, entgegnet dieser nur, eine Aufnahme der Türkei »ist das Ende der Vision von der politischen Union Europas«. Und spricht gleich wieder von der Anhebung des EU-Beitrags für Deutschland und zusätzlichen Beträgen für Strukturhilfen. Fraglich, ob man sich Rumänien und Bulgarien wird leisten können. Für Stoiber gibt es »eine Lebenslüge in Europa ... Es wurde immer so getan, als ob eine Erweiterung und eine Vertiefung gleichzeitig möglich seien. Jetzt sind wir an die Grenzen gestoßen.« Die Grenzen Europas in Stoibers Kopf. Das christliche Abendland ohne Orthodoxie, den schaurigen Balkan ex, Griechenland in, da (vielleicht) Wiege des Abendlandes. Das muss jetzt integriert und dicht gemacht werden, wie es auch Peter Glotz vorschlägt, der aus St. Gallen seine kleineuropäische »Außenansicht: Fischer macht den Wehner« (SZ, 5.3.) in seiner nachahmlich süffisanten Weise vorträgt. Der »außenpolitische Kurswechsel« – wiewohl seit spätestens November 2003 mit der Vorlage einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik lebhaft diskutiert – gerät dem Kommunikationsmanager Glotz zu einem autoritären Hinterzimmerakt Fischers, den er mit einer wehnerschen Verschwörungsranküne vergleicht. Spätestens hier wird verständlich, dass Erweiterungskommissar Günter Verheugen sich jüngst in der Welt (4.3.) von solchen Debattenbeiträgen genervt zeigt: »Ja, das ist auch nur in Deutschland so, und es macht mich traurig, wenn ich das intellektuelle Niveau der Diskussion in meinem Heimatland betrachte. Das hat mit der Türkei nichts mehr zu tun, sondern ist Teil des innenpolitischen Machtkampfes.«

 

Sieht man von jenen Bevölkerungstheoretikern ab, die mit den »Geburtenraten islamischer Bevölkerungen« und der Panikmache, dass unsere Kinder bald »einer künftigen ethnischen Minderheit angehören« werden (Lorenz Jäger in der FAZ, 17.2.), so zeichnet sich, grob vereinfacht, ein »Kampf zweier Linien« ab: Gegner einer Türkei-Aufnahme, die vor allem mit einem historisch-kulturellen Bild von Europa und einem europäischen Wir-Gefühl argumentieren, und Befürworter, die mehr aus politischen und Globalisierungsaspekten ein strategisches Bild ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen.

Gegner wie Matthias Wissmann machen es sich dabei sehr leicht. Der Vorsitzende des Europa-Ausschusses des Deutschen Bundestages lässt sich in der Welt (17.2.) über vier Spalten aus, um »Schluss mit den falschen Hoffnungen« zu machen. »Wo sind die Grenzen der EU? Wie weit lässt sich Europa ausdehnen? Welche Aufgabe soll die EU in Zukunft haben? Solange sich die EU diesen Fragen nicht ...« und so weiter. Wissmann sagt nur, dass, selbst wenn die Türkei alle Kriterien erfüllen könnte, die Frage bleibt, »ob die EU die Hürde Türkei nehmen kann«. Das ist nicht mehr europäisches Wir-Gefühl, das ist »Wir-sind-wir«-Gefühl, »overidentity«. Mit großer Geste wird dann der »dritte Weg« offeriert, nämlich der einer »privilegierten Partnerschaft«. Ruprecht Polenz vom Auswärtigen Ausschuss mildert am nächsten Tag im selben Blatt Wissmanns hanebüchene Ausführungen. Er verlässt sich auf Helmut Kohl und die EU-Kommission, denn »die Türkei hat eine faire Chance verdient«, und kann in einer künftigen Mitgliedschaft »starke Signale in die islamischen Länder ausgehen« sehen. Denn »das europäische Modell von Demokratie und Rechtsstaat, Menschenrechten und Marktwirtschaft ist auch geeignet für Länder mit moslemischer Bevölkerung. Islam und Demokratie sind miteinander vereinbar.« Allerdings würde eine Anpassung der Türkei an Europa noch längere Zeit dauern, es könnte auch zu nicht ausräumbaren Schwierigkeiten kommen, daher würde sich der CDU-Vorschlag der »privilegierten Partnerschaft« als »sehr hilfreich« erweisen. Nach Stoiber sieht diese über die Zollfreiheit hinaus so aus: »Sie soll an den europäischen Grundfreiheiten beteiligt werden: freier Warenverkehr, mehr Freizügigkeit im Personenverkehr, Dienstleistungsfreiheit, freier Kapitalverkehr. Und in die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik soll die Türkei ebenfalls voll mit einbezogen werden. Auch an EU-Programmen soll sie teilhaben können, etwa zur Stärkung der Zivilgesellschaft in den Bereichen Frauen und Menschenrechte. Langfristig muss die türkische Lira gestützt und fest an den Euro gebunden werden.«

 

Der Historiker Heinrich August Winkler hat schon wiederholt unter alarmierenden Titeln Stellung bezogen. »Die Türkei ist kein Teil des ›Projekts Europa‹«, lautet der Untertitel eines Aufsatzes für die Internationale Politik 2/03, »Selbstzerstörung inbegriffen« der eines Artikels in der FR (1.3.). Ihn alarmiert, dass die EU-Kommission im Oktober 2004 dem Europäischen Rat wahrscheinlich eine Empfehlung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen geben wird. So legt er eine Reihe bedenkenswerter Argumente vor, einschließlich ökonomischer, insbesondere, dass heute das Pro-Kopf-Einkommen gerade einmal 22 Prozent des durchschnittlichen EU-Einkommens erreicht. Immerhin, das sagt er nicht, hat die Türkei den drohenden Staatsbankrott abgewendet, hat die Wirtschaftskrise von 2001 nicht nur weggesteckt, sondern weist auch beeindruckende Zahlen des Aufschwungs auf, wie die FAZ am 23.2. anlässlich der Reise Angela Merkels (»Während die Türkei ein dynamisches Land ist und ihre Wirtschaft um fünf Prozent wächst, stagniert Deutschland.«) in die Türkei berichtet. Angelpunkt seiner Kritik aber ist ein historisches Argument: »Der Gegensatz zwischen Rom und Byzanz wirkt bis heute nach. Die Teilung von geistlicher und weltlicher Gewalt im hohen Mittelalter war die historisch früheste Form der Gewaltenteilung und des politischen Pluralismus. Es ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer einzigartigen Sonderentwicklung des Okzidents, dass sich hier, und nur hier, Pluralismus und Gewaltenteilung, Rechtsstaat und Demokratie herausgebildet haben.« (IP, 2/03) Keine Chance für Ostrom.

Hans-Ulrich Wehler, ein weiterer Hardliner der Gegnerfront, weiß sieben Gründe gegen die Aufnahme der Türkei: die andere Geschichte, die Grenze zwischen zwei Kulturkreisen, sprich: die religiöse Gefahr, die rückständige Ökonomie, die Gefahr der Migration, die Geostrategie der gefährlichen Nachbarn, die Gefahr für Europas Integration, die Erhöhung des europäischen Demokratiedefizits. Das sind zu diskutierende Fragen, wobei sich manche Probleme, holt man sie aus der öffentlichen Erregung heraus, als geringer erweisen können, als sie scheinen: Religion, Ökonomie, Migration, Demokratiedefizit; auch die geostrategische Frage ist zumindest ein Doppeldecker. Ob das unter dem Strich wirklich ein Contra ergibt?

In der FAS vom 15.2. präsentiert der Leipziger Soziologieprofessor Jürgen Gerhards eine Studie, ausgehend vom »European Value Survey«, der Fragen nach der Toleranz der Bürger gegenüber anderen Menschen enthält. Ihm geht es nicht um die unterschiedlichen religiösen Traditionen, sondern um die EU als Wertegemeinschaft und in welchen Wertebereichen die Türkei von den Wunschvorstellungen der EU abweicht. Eklatant hoch ist, trotz hoher Werte für die Demokratie, die Zustimmung für eine autoritäre Führung, die Ablehnung von Juden als Nachbarn und die Einstellung, dass Männer eher ein Recht auf einen Arbeitsplatz haben als Frauen. Gerhards bilanziert, dass die Türkei in vielen Bereichen deutlich bis drastisch abweicht, will aber daraus keine Schlussfolgerung pro oder contra ziehen – »Werteorientierungen können sich wandeln«, das braucht Zeit, das hängt von vielen Rahmenbedingungen ab, die Wissenschaft kann diese Frage auch nicht beantworten.

Vernachlässigt wird oft dabei, dass die Einstellungen und Werte in den EU-Ländern ebenso wenig eine konstante Größe sind; dass jene, die eine europäische Identität einfordern und an spezifischen historischen und kulturellen Entwicklungen festmachen wie Wehler und Winkler, politische, soziologische und sozialpsychologische Komponenten der Identitätsbildung vernachlässigen. In einer Untersuchung, die Bettina Westle in der Politischen Vierteljahresschrift 4/03 über »Europäische Identifikationen im Spannungsfeld regionaler und nationaler Identitäten« präsentiert, zeichnen sich ihre Schlussfolgerungen durch hohe Komplexität aktueller Faktoren aus. Eine Kernaussage besteht darin, dass uneindeutige EU-Politik der Herausbildung einer stabilen Identifikation im Weg steht; eine weitere, dass die Zufriedenheit mit der Demokratie im eigenen Land eine wesentliche Rolle für die EU-Identifizierung spielt; und eine dritte ist die Forderung nach Strukturen, »die eine nicht-konkurrierende Verknüpfung von regionaler, nationaler und europäischer Identifikation ermöglichen« – was für ein erweitertes Spektrum an Mitgliedern erst recht gilt.

 

Europa stellt sich aber auch als »internationales System« dar, wie die Professorin an der International University Vienna, Andrea K. Riemer, in ihrem Beitrag »Die Türkei und die Europäische Union« (Aus Politik und Zeitgeschichte, 10–11/03) auf ein Konzept der English School of International Relations verweist. Eher in diesem Rahmen sind die jüngsten umstrittenen Äußerungen des Außenministers Joschka Fischer zu sehen, für den der 9.11. ein Datum der Neuorientierung markiert. »Seitdem wurde immer klarer, dass die europäische Einigung auch eine strategische Dimension hat«, erklärt er im Interview, das er am 28.2. der Berliner Zeitung gab. Die Humboldt-Rede würde er heute in Teilen anders halten, Kerneuropa ist heute für ihn passé. In einem Gespräch mit Redakteuren der FAZ (6.3.) über »Die Rekonstruktion des Westens« stellt er einerseits die Brückenfunktion der Türkei und andererseits die neue strategische Situation in der Welt heraus, die eine Neubeurteilung erfordere. »Wir haben ein Dreieck, in dem wir strategische Weichen stellen können. Das Dreieck heißt: feste europäische Verankerung der Türkei, das ist ganz entscheidend für die Transformationsperspektive. Wir haben die Frage eines zweiten strategisch zentralen Landes, des Irans, nämlich ob dort in den kommenden Jahren die innere Demokratisierung gelingt. Wir haben als drittes eine dauerhafte Lösung des Nahost-Konflikts.«

Herfried Münkler befasst sich in seiner Replik auf Heinrich August Winkler in der FR (8.3.) nur zum geringeren Teil mit der Widerlegung der identitätspolitischen Argumente. Sein Anliegen ist, dass Europa nicht eine eurozentrische »Politik der Nestwärme« betreiben darf, sondern als weltpolitischer Akteur handeln muss. Die Türkei habe drei geopolitische Optionen: die europäische, die islamische und die großtürkische. Europa ist die attraktivste, doch wenn die EU nicht mitzieht, könnten die beiden anderen rasch an Zulauf gewinnen, und die »hätten freilich verheerende Folgen für die Stabilität der europäischen Südostflanke. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass die Türkei eine Dominanz über die zentralasiatischen Turkvölker tatsächlich herzustellen vermag, dürfte allein der Versuch dazu einen Krisenherd schaffen, der in Verbindung mit den Problemen der Kaukasus-Region gefährliche Ausmaße annehmen würde. Gerade die Europäer haben ein vitales Interesse daran, dass die Probleme des Nahen Ostens, eingeschlossen Irak, und die des südlichen Rands der ehemaligen Sowjetunion nicht zusammenfließen«. Münkler hält die Sichtweise, die Türkei könne für Europa eine Art Puffer zur islamischen Welt bilden, für naiv. So oder so würde Europa an diese islamische Welt grenzen: entweder mit der Türkei als Grenzposten, wodurch eine Option der Einflussnahme gegeben wäre; oder an die Türkei als Vorposten der islamischen Welt, denn es wird auf längere Sicht nur eine direkte Grenze geben.

In einem geistreichen Aufsatz (»Türkei ante portas«, FAZ, 21.2.) hat Michael Borgolte die vielseitigen und verästelten Verwandtschaften und Beeinflussungen von Orient und Okzident skizziert. Ob Völker in neuen Gemeinschaften gut zusammenleben können, komme darauf an, inwieweit sie ihre Geschichtsbilder abstimmen können und »ob sie Gemeinsamkeiten entdecken, die ihnen vorher kaum bewußt gewesen waren«. Über die Grenze Europas nach Osten lässt sich sagen, dass sie »nicht nur geographisch, sondern auch politisch, kulturell und religiös stets fließend war«. Er zitiert dazu Herodot, den kleinasiatischen griechischen Historiker: »Ich weiß auch nicht, warum man zur Grenze ... zwischen Asien und Europa den kolchischen Phasis gemacht hat.« Der Phasis fließt hinter Anatolien vom Kaukasus ins Schwarze Meer.