Thomas Heberer
Entwicklungskonturen einer
künftigen Weltmacht?
25 Jahre
Reformpolitik in China
Ende des
Jahres 1978 leitete die politische Führung der KP Chinas einen personellen
Umbau der Parteispitze und zugleich Reformen ein, deren Umfang und Charakter
für ein sozialistisches Land damals erstaunlich waren. Keines dieser Länder
hatte bis dahin derart weitgehende Reformen eingeleitet, die auf einen
deutlichen Abbau als »sozialistisch« verstandener kollektiv- und
planwirtschaftlicher Elemente und Strukturen abzielten. Unser Autor skizziert
die Stationen der politischen Entwicklung und die neuen Probleme und
Paradigmen.
Als
Zeitzeuge, nämlich im Rahmen eines vierjährigen Arbeitsaufenthaltes als Lektor
und Übersetzer bei einem chinesischen Verlag (1977–81), erlebte ich damals
nicht nur jene Plenartagung, sondern überhaupt den beginnenden graduellen
Wandlungsprozess direkt vor Ort mit. China trug damals noch die Züge einer
geschlossenen totalitären Gesellschaft. Termin, Inhalte und Teilnehmer solcher
Tagungen waren streng geheim. Höchstens aus vagen Informationen des US-Senders
»Voice of America« konnte man entnehmen, dass in Peking eine wichtige Sitzung
stattfand. Wenige Tage vor Weihnachten 1978 kam mein chinesischer Chef in das
Zimmer, in dem ich arbeitete, und erklärte mir, ich werde jetzt eine mehrtägige
Reise unternehmen. Geheimhaltung sei oberstes Prinzip und ich dürfe mit
niemandem darüber sprechen. Man fuhr mich in meine Wohnung im
»Freundschaftshotel«, in dem die damals in chinesischen Diensten stehenden
Ausländer wohnten, um Waschzeug und ein wenig Kleidung zu holen, bevor wir dann
als Gruppe von Vertretern verschiedener Sprachen in einen anderen Stadtteil
Pekings gebracht wurden. Unser Fahrzeug brachte uns in eine von Soldaten
bewachte alte Stadtvilla, in der jedem von uns ein Zimmer zugewiesen wurde.
Einer der Verlagsleiter erklärte uns, dass wir auserwählt seien, die Dokumente
der 3. Plenartagung des XI. ZK zu übersetzen. Es sei uns nicht erlaubt, Kontakt
mit der Außenwelt aufzunehmen oder gar das Gelände zu verlassen. Und wir waren
damals wohl die ersten Ausländer, die von den umwälzenden Beschlüssen jener
Tagung erfuhren.
Zumindest bis zum Herbst 1978
stellte sich China als geschlossene, totalitäre Gesellschaft dar, deren
politische Führung den Kontakt von Ausländern und Chinesen weitgehend zu
unterbinden suchte. Dies änderte sich mit der Rückkehr Deng Xiaopings an die
Macht Zug um Zug. Der Druck im Land ließ nach, erste Rehabilitierungen von zu
Unrecht Verfolgten erfolgten. Auch wir »ausländischen Experten« in chinesischen
Diensten profitierten von der vorsichtigen Liberalisierung. Eine Rede Dengs
erläuterte zum Beispiel, dass über 90 Prozent der ausländischen Experten »gut«
und Freunde Chinas seien. Fortan durften Chinesen, wenn auch zunächst noch
kontrolliert, uns in unserem Wohngelände besuchen. Freundschaften entstanden
und Eheschließungen.
Die Rückkehr zur
Familienbewirtschaftung auf dem Lande, die Einführung von Anreizsystemen auch
im Staatssektor und die Wiederzulassung privater Wirtschaftstätigkeiten führten
relativ rasch zu einer spürbaren Verbesserung der allgemeinen Versorgung der
Bevölkerung. Bis dahin war die Versorgungslage von deutlicher Knappheit im
Angebot an Nahrungsmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs gekennzeichnet.
In der chinesischen Presse setzte
damals zugleich eine rege Diskussion ein, die ideologische Positionen, die bis
dahin als unverrückbar gegolten hatten, immer mehr in Frage stellte. Dies
betraf unter anderem Fragen der Privatwirtschaft, die Bewertung von Warenwirtschaft
und Märkten, die Rolle des Privatsektors, aber auch die Rolle der Partei und
ihrer zentralen Aufgaben, eines Rechtssystems und der individuellen Rechte. Ein
zentraler Faktor war die Frage, wie die Kulturrevolution, ihre Ergebnisse und
die Stellung Maos darin bewertet werden sollten. Die genannte Plenartagung
klärte viele dieser Fragen und räumte der Wirtschaftsentwicklung fortan oberste
Priorität ein. 1981 veröffentlichte die Parteiführung dann eine Resolution zur
Bewertung der Parteigeschichte, mit der die Kulturrevolution als »zehnjährige
Katastrophe, die China ins Chaos gestürzt hat«, verurteilt wurde. Mao wurden
zwar schwerwiegende Fehler vorgeworfen, aber im Prinzip blieb seine Person
weitgehend unangetastet.
Viele Veränderungen wurden
zunächst symbolisch dokumentiert. Ich erinnere mich noch, dass bei einer
Großveranstaltung in der »Halle des Volkes« in Peking an Silvester 1978, zu der
auch die »ausländischen Experten« eingeladen waren, sich plötzlich eine Tür an
der rechten Seite des Saales, in dem wir uns befanden, öffnete und eine ältere
Dame raschen Schrittes quer durch den Saal eilte und diesen durch eine Tür auf
der linken Seite wieder verließ. Ein erstauntes Raunen ging durch die
anwesenden Chinesen. »Wer war das?«, fragte ich. »Wang Guangmei, die Frau von
Liu Shaoqi« (Staatspräsident, der zu Beginn der Kulturrevolution als »höchster
Machthaber auf dem kapitalistischen Weg« gestürzt, inhaftiert und schließlich
ums Leben gekommen war; T.<|>H.), lautete die Antwort. Es war
nicht nur das Signal von Lius postumer Rehabilitierung, die allerdings erst
zwei Wochen später offiziell bekannt gegeben wurde, sondern auch für die
Rehabilitierung der politischen Maßstäbe, für die seine Person stand.
Nichts verdeutlicht vielleicht
besser den gewaltigen Veränderungsprozess, der in China stattgefunden hat, als
diese Ereignisse.
Die Bauernschaft als Akteur der Reformeinleitung
Stagnierende
Erträge in der Landwirtschaft und die weit verbreitete Armut auf dem Land sowie
eine Vertrauenskrise der Bevölkerung in die Kommunistische Partei und das
sozialistische System (nicht zuletzt durch die Stagnation der
Lebensverhältnisse und die permanenten politischen Kampagnen mit ihren hohen
menschlichen und sozialen Kosten) führten auch innerhalb der politischen Elite
zu einer Bereitschaft zu grundlegenden Reformmaßnahmen. Doch das
»Reformprogramm« war zunächst nicht Ergebnis der so häufig behaupteten
»Weitsichtigkeit« der Parteiführung beziehungsweise einzelner Parteiführer.
Vielmehr kam es zunächst in ländlichen Armutsgebieten zu spontaner Aufteilung
des Bodens unter die Familien und damit zu einer Rückkehr zu familiärer
Bewirtschaftung. Die Bedeutung dieser spontanen Aktivitäten wurde zunächst von
den politischen Führungen auf regionaler Ebene erkannt, weil sie zu einer raschen
Verbesserung der Versorgungslage, einer Erhöhung der Agrarerträge und somit zur
Minderung von Armut beitrugen, ohne dass der Staat sich finanziell engagieren
musste. Die positiven Auswirkungen dieser strukturellen Umgestaltung in den
Dörfern auf die Wirtschaftsentwicklung, die Versorgung der Bevölkerung und
deren Leistungsbereitschaft wurden von der Mehrheit der Parteiführung durchaus
begriffen, so dass die Familienbewirtschaftung als »Landwirtschaftsreform«
zunächst beschränkt auf ärmere Gebiete, dann auf durchschnittlich entwickelte
Gebiete (wo man diese Entwicklung rasch aufgriff), schließlich im ganzen Land
durchgeführt wurde. Spontanes kollektives Handeln der Bauernschaft ging von
daher mit der Bereitschaft einer Mehrheit der Parteielite einher, derartige
Prozesse politisch zu akzeptieren. Damit wurde eine Büchse der Pandora
geöffnet, mit wichtigen Implikationen für die weitere Entwicklung Chinas.
Die Rückkehr zu familiärer
Bewirtschaftung setzte in der Landwirtschaft eine große Zahl von Arbeitskräften
frei, die nun nicht mehr im Agrarsektor benötigt wurden. Da diesen
Surplusarbeitskräften der Zugang zum urbanen und staatlichen Sektor verwehrt
war, blieb als alternative Beschäftigungsmöglichkeit nur das self-employment,
das heißt eine Tätigkeit im Privatsektor: der Hauptgrund dafür, dass sich
private Wirtschaftstätigkeiten so rasch entfalteten.
Vom Primat der Politik zum Primat ökonomischer
Entwicklung
Ende 1978
wurde die Wirtschaftsentwicklung zum zentralen Moment der Parteiarbeit erklärt.
Ideologische Überlegungen traten zunehmend in den Hintergrund. Und heute
bestimmen Wirtschaftsentwicklung und Wirtschaftserfolg das Handeln der Partei
und ihrer Funktionäre ebenso wie das der Bevölkerung. Dabei trat der Staat
zunächst als Unternehmer auf. Solange es keine starke Unternehmerschaft gab,
vermochten nur Parteifunktionäre Entwicklungsprozesse in Gang zu setzen.
Erreicht wurde dies durch die Politik, Karriere, Aufstieg und Abstieg,
Einkommen und Prämien der Funktionäre wesentlich von den ökonomischen Erfolgen
abhängig zu machen und nicht mehr, wie zuvor, von vermeintlicher politischer
oder ideologischer Standfestigkeit. Der alte Kaderstamm, der noch aus der Zeit
vor Gründung der Volksrepublik oder den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren
stammte und sich überwiegend aus Personen mit relativ geringem Bildungsniveau
zusammensetzte, wurde durch eine jüngere Funktionärsschicht mit besserer
Bildung ersetzt. Lokal erhielt jeder Funktionär Vorgaben, was er, ökonomisch,
in den nächsten drei bis fünf Jahren in seinem Aufgabengebiet vor Ort zu
leisten habe. Bei Erfüllung dieser Aufgaben wurde er materiell belohnt, nicht
nur durch Prämien, sondern auch durch Sachleistungen und gegebenenfalls durch
Aufstieg auf der Karriereleiter. Selbst ein gewisses Maß an Korruption solcher
Funktionäre wurde geduldet, wenn und insofern sie lokal Entwicklungserfolge
aufzuweisen hatten.
Vom Staatsunternehmer zur unternehmerischen
Privatisierung
Auch wenn
es nicht »Privatisierung« genannt werden durfte: Zentral für den Reformprozess
in China war die bottom-up-Privatisierung, das heißt die Ausweitung
privaten Eigentums durch Unternehmensgründungen aus der Bevölkerung heraus, die
ich unternehmerische Privatisierung nenne. Dies unterschied sich
grundlegend von der Privatisierung von oben in den meisten
osteuropäischen Ländern. Bei Letzterer wurden Staatsunternehmen vom Staat in
der Regel auf private Eigentümer übertragen, wobei häufig die ehemalige
Nomenklatura der eigentliche Nutznießer war.
Die Entwicklung von circa
330<|>000 offiziell als Einzelwirtschaftende erfassten Personen im Jahr
der Wiederzulassung der »Einzelwirtschaft« im Jahre 1978 auf mittlerweile weit
mehr als hundert Millionen verdeutlicht den Privatisierungsprozess auch in
quantitativer Hinsicht. Der Privatsektor in diesem Sinne umfasst die
registrierten privaten Klein-, Mittel- und Großbetriebe, mit ausländischem
Kapital betriebene Unternehmen sowie private Händler und Handwerker, aber auch
diejenigen Unternehmen, die sich aus unterschiedlichen Gründen unter falschen
Eigentumsformen haben registrieren lassen (Kollektiv- und Staatsbetriebe, die
faktisch privat geführt werden), sowie nicht-registrierte private Betriebe
(Schattenwirtschaft). Insgesamt dürften heute bereits circa 90 Prozent aller
Betriebe und 40 Prozent aller Erwerbspersonen im Privatsektor tätig sein.
Privatisierung darf dabei nicht
nur als primär ökonomischer oder wirtschaftspolitischer Prozess begriffen
werden. Er impliziert zugleich Momente von Pluralisierung und damit
Demokratisierung, weil er Eigenverantwortung und gesellschaftliche Mitwirkung
schafft beziehungsweise stärkt; das Moment direkter staatlicher Intervention in
Wirtschaftsprozesse reduzieren hilft; zur Privatisierung des gesellschaftlichen
Lebens beiträgt, weil mehr und mehr gesellschaftliche Bereiche (Erziehung,
Wohnung, Bildung, Sozialwesen, Geburtenplanung, ideologische und politische
Fragen) nicht mehr vom Staat, sondern von den Familien und Individuen
entschieden werden; die Gesellschaft und die Individuen gegenüber dem Staat
stärkt und auf diese Weise Pluralisierung begünstigt; Wirtschaftseliten
gegenüber politischen Eliten stärkt; und erfolgreiche Privatisierung der
Verrechtlichung, das heißt der Absicherung von Rechten bedarf und somit die
Herausbildung eines Rechtssystems gefördert wird.
Durch den Privatisierungsprozess
wird die Rolle des Staates gleichwohl nicht einfach nur geschwächt, vielmehr
verlagert sich das staatliche Aufgabenfeld auf andere Bereiche (Schaffung von
Rahmenbedingungen für Existenz und Entwicklung des Privatsektors, soziale Sicherung,
arbeitsrechtliche Fragen und anderes). Durch Selbst- und Mitentscheidungsrechte
des privaten Sektors entstehen neue gesellschaftliche Partizipationsmuster und
eine neue Machtverteilung.
Die Ausrufung der »sozialistischen
Marktwirtschaft« auf dem XIV. Parteitag 1992 bestätigte diesen Prozess und
führte zu signifikanten Uminterpretationen marktwirtschaftlicher Elemente im
Sinne einer »sozialistischen Marktwirtschaft«. Der XV. Parteitag 1997 stellte
dann Privatunternehmen den staatlichen gleich und der XVI. Parteitag 2002
billigte die Aufnahme von Privatunternehmern in die Partei.
Politischer Wandel: Pluralisierung, nicht
Demokratisierung
Die
Auffassung, China führe lediglich wirtschaftliche, nicht aber politische
Reformen durch, ist so nicht zutreffend. Zwar steht der ökonomische Umbau zu
einer Marktwirtschaft im Mittelpunkt des Reformprozesses. Aber dieser Umbau
selbst ist natürlich auch ein politischer Prozess, weil er auch zu einem Umbau
der politischen und ideologischen Strukturen geführt hat. In einem Beitrag in
der Kommune (Heft 1/03) habe ich diesen Wandlungsprozess bereits
detailliert dargestellt, sodass ich hier lediglich einige Kernfaktoren benennen
will: Die Veränderung der Wirtschafts- und Eigentumsstruktur, die Zulassung
ausländischer Direktinvestitionen, sozialer Wandel und gesellschaftliche
Liberalisierung, größere Rechtssicherheit, größere Partizipationsmöglichkeiten
(unter anderem durch Ausdehnung des Wahlsystems auf die Dörfer und Stadtviertel
oder die Zulassung themenbezogener Nichtregierungsorganisationen) sind als Teil
eines umfassenderen politischen Wandlungsprozesses zu begreifen, weil sich
dadurch politische Strukturen und Institutionen verändert haben.
Reformmaßnahmen und politischer
Wandel bedeuten indessen noch nicht systemische Veränderung. Politischer Wandel
meint hier vielmehr, dass politische Systeme spezifische Fähigkeiten
entwickeln, die zu Veränderungen der politischen Strukturen führen. Die
Entwicklung solcher Fähigkeiten erfolgt dabei stets in Reaktion auf ökonomische
und gesellschaftliche Veränderungsprozesse und Umbrüche. Gleichwohl definiert
das von der Akademie der Sozialwissenschaften herausgegebene »Blaubuch zur Lage
der chinesischen Gesellschaft im Jahre 2002« politische Reformen als
Beschränkung von Kontrolle von Macht, als politische Transparenz, Minimierung
von Korruption, politische Demokratisierung und politische Modernisierung.
Dies darf allerdings nicht mit
einer Demokratisierung gleichgesetzt werden. Demokratisierung bezieht sich auf
den Prozess der Etablierung und Institutionalisierung demokratischer
Institutionen. Politische Reformen beziehungsweise politischer Wandel verändert
ein System ohne dass ein Systemwandel oder ein Prozess der Demokratisierung
stattfinden muss. Was wir in China beobachten können, ist eine Verbesserung von
Governance, das heißt eine Effektivierung und Rationalisierung der
Tätigkeiten des Staates und der Partei, um das Gesamtsystem transparenter zu
gestalten, Korruption zu mindern und den Partizipationsgrad zu erhöhen. Das
politische System in Form der Parteiherrschaft soll nicht grundsätzlich
verändert werden, jedoch seine Strukturen und Institutionen. Zwar gilt
»Demokratie« sowohl für die Parteiführung als auch für viele Diskursteilnehmer
als ein vages Ziel, das anzustreben ist; es wird jedoch bislang nicht näher
definiert.
Von der Klassen- zur Volkspartei
Ideologisch gesehen fungieren
Muster wie die »Drei Vertretungen«, die vom früheren Parteichef Jiang Zemin
entworfen und inzwischen zu einem zentralen Faktor der Parteiideologie geworden
sind, dazu, die Partei nicht mehr als Vertreterin einer Klasse zu begreifen,
sondern als Repräsentantin des gesamten (chinesischen) Volkes. In der Anbindung
aller Chinesen an eine »Partei des ganzen Volkes« sieht die Führung einen
wichtigen Mechanismus zur Verbreiterung ihrer sozialen Basis. Idealiter soll –
so die politische Elite – das gesamte Volk sich im Interesse der Modernisierung
und Stärkung der Nation hinter der Avantgarde des Volkes, nämlich der Partei,
zusammenschließen. Die KP in diesem Sinne, so heißt es, vertrete die
fortgeschrittenen Produktivkräfte, die fortgeschrittene Kultur Chinas und die
grundlegenden Interessen des gesamten chinesischen Volkes.
Die oben erwähnte Aufnahme von
Unternehmern in die Partei hat aber noch weiter reichende Konsequenzen. Sie
entspricht dem neuen Parteikonzept, demzufolge die Partei die Interessen der
Bevölkerungsmehrheit repräsentieren muss, zumal sich Klassenlinien immer
stärker aufweichen. Dies entspricht auch der seit einigen Jahren zu
beobachtenden Tendenz, sich von einer Arbeiter- und Bauernpartei, das heißt von
einer Klassen- zu einer Volkspartei, zu wandeln. Darauf weist
nicht nur die jüngste Diskussion um die Ersetzung des Klassen- durch den
Schichtbegriff hin, in der argumentiert wird, unter der Herrschaft der KP sei
die Zeit der Existenz von Klassen beendet worden. Die Partei diene nunmehr
allen Schichten. Auch die innerparteiliche Debatte um den Charakter der Partei,
die Verbindung von sozialistischer und sozialdemokratischer Bewegung oder den Dritten
Weg sind Ausdruck eines Umdenkens von Teilen der Mitgliedschaft. Noch ist es zu
früh für einen offenen Ideologiewechsel, aber sublim zeichnet er sich bereits
seit Jahren ab.
Das Konzept der »Drei
Vertretungen« und die Modernisierung der Partei ist vor dem Hintergrund zu
begreifen, dass die gewaltigen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft
auch von einer Veränderung der Partei und der Verbreiterung ihrer sozialen
Basis begleitet sein müssen. Dabei erscheint eine Entwicklung interessant zu
sein, die im Zusammenhang mit dem XVI. Parteitag relativ unbeachtet geblieben
ist, nämlich die neuerlich aufgelebte Diskussion über die Sozialdemokratie.
Akademische Befürworter eines sozialdemokratischen Kurses in China
argumentieren, auch die Sozialdemokratie sei ein Zweig des Sozialismus, der
stets für Gleichheit, soziale Gerechtigkeit und soziale Wohlfahrt eingetreten
sei. Und ein renommierter Experte der internationalen kommunistischen Bewegung
schlug ein »sozialistisches Mehrparteiensystem« vor. Schließlich hätten auch
Marx und Engels für ein solches System votiert, erst Stalin habe dies
abgeschafft. Auch Mao habe in den Vierzigerjahren ein Mehrparteiensystem
präferiert. Das Scheitern des Sozialismus in der Sowjetunion und in Osteuropa
belegten, dass das Ein-Parteien-System keine wirkliche Alternative sei.
Solche Diskurse bedeuten natürlich
nicht, dass China sich in die Richtung eines demokratischen Mehrparteiensystems
bewegen wird. Dies hat der XVI. Parteitag im November 2002 neuerlich
verdeutlicht: Ein Mehrparteiensystem und Demokratisierung nach westlichem
Muster wurde explizite zurückgewiesen. Doch auch der »sozialistische
Unternehmer«, das »sozialistische Aktiensystem« oder die »sozialistische
Marktwirtschaft« waren zunächst verworfen, später aber zu offizieller Politik
erklärt worden. Von daher ist ein »sozialistisches Mehrparteiensystem« auf
Dauer keineswegs auszuschließen.
Wachsende soziale Probleme
Der
Modernisierungsprozess hat indessen seinen Preis. Soziale Gemeinschaften in
Stadt und Land zerfallen, soziale Unsicherheit wächst durch den Zusammenbruch
vieler Staatsbetriebe und die damit verbundene Arbeitslosigkeit und den damit
verbundenen Verlust sozialer Sicherungssysteme für die Betroffenen. Die
Einkommensunterschiede zwischen Regionen, zwischen Stadt und Land sowie
innerhalb des städtischen und ländlichen Raums nehmen zu. Das Krebsübel
Korruption, ein zentrales Phänomen sozialer Unzufriedenheit, nagt an der
Legitimität der Partei. Trotz aller Bekämpfungsversuche gelang es bislang
nicht, das Übel einzudämmen. Auch der Ausbau des Rechtssystems hält mit den
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfordernissen nicht Schritt.
Hinzu kommen die desolate Lage und
die Überschuldung der Staatsbetriebe, neue Herausforderungen durch den
WTO-Beitritt (Konkurrenzsituation für Unternehmen und für die Landwirtschaft et
cetera), das wachsende Haushaltsdefizit, das die von der Weltbank als zu
tolerierende Grenze von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bereits
überschritten hat, sodass Experten bereits von einem fiscal deficit trap
sprechen, oder das Ausmaß ökologischer und von Umweltzerstörungen.
Zeichen für soziale Ungleichheit
ist unter anderem, dass der GINI-Koeffizient, das Maß für die ungleichmäßige
Verteilung materiellen Besitzes in einer Gesellschaft, in China in den letzten
Jahren signifikant angestiegen ist und nach offizieller chinesischer
Darstellung bereits Ende der Neunzigerjahre nahezu die international als
kritisch angesehene Grenze von 0.4 erreicht hat (1999: 0.397). Betrug die
Differenz zwischen dem Fünftel der Bevölkerung mit höchstem und dem Fünftel mit
niedrigstem Einkommen 1990 noch das 4,2fache, so 1998 bereits das 9,6fache. Der
Anteil des Fünftels mit niedrigstem Einkommen am Gesamteinkommen lag 1990 noch
bei 9 Prozent und sank bis 1998 auf 5,5 Prozent. Umgekehrt stieg der Anteil des
Fünftels mit den höchsten Einkommen im gleichen Zeitraum von 39,1 auf 52,3
Prozent. 1998 hatten das Zehntel der Großverdiener bereits einen Anteil von
38,4 Prozent am Gesamteinkommen. Die Journalistin und Sozialwissenschaftlerin
He Qinglian hat, sicherlich übertrieben, argumentiert, 80 Prozent der
Bevölkerung seien der »marginalen Schicht« zuzurechnen.
Die Zunahme sozialer Probleme
bleibt nicht ohne Antwort von Seiten der Bevölkerung. Ein Untersuchungsbericht
der Organisationsabteilung des Zentralkomitees der KPCh aus dem Jahre 2001
dokumentiert die steigende Zahl von Unruhen, Streiks, Sitzstreiks vor Ämtern,
nicht genehmigten Demonstrationen, Übergriffen auf Ämter und Behörden oder
Verkehrsblockaden. Die Zahl der daran Beteiligten und die verschiedenen
gesellschaftlichen Gruppen, die solche Aktivitäten organisierten, nähmen
ständig zu.
Der Staat reagiert auf solche
Proteste in unterschiedlicher Weise: Er versucht zunächst auf dem
Verhandlungswege soziale Unzufriedenheit zu kanalisieren. Falls dies nicht
gelingt, behandelt er die Anführer solcher Bewegungen als Kriminelle und
verurteilt sie zu hohen Haftstrafen. Einerseits Zuckerbrot, wie zum Beispiel
die Einführung und Gewährung von Sozialhilfe für die städtischen Armen,
andererseits die Peitsche für diejenigen, von denen man glaubt, dass sie die
Parteiherrschaft aktiv und grundsätzlich in Frage stellten. Der Versuch,
soziale Konflikte zu kriminalisieren und mit harter Faust zu bekämpfen,
verhindert vor dem Hintergrund relativ erfolgreicher Entwicklung momentan das
Entstehen überregionaler Protestbewegungen; es verhindert andererseits auch die
Lösung sozialer Probleme. Es ist genau dieser Versuch, »Stabilität« unter allen
Umständen aufrechtzuerhalten, den die Mehrheit der Bevölkerung zweifellos
unterstützt, indem vermeintliche Verursacher politischer »Instabilität«
drastisch verfolgt werden. Doch gerade dadurch wird die Stabilität des Systems
immer wieder in Frage gestellt. Und genau dieser Faktor macht das aus, was bei
uns als Menschenrechtsproblematik eigentlich zu diskutieren wäre und was im
Zuge eines »Rechtsstaatsdialogs« allein nicht zu lösen ist.
Die Protestbewegung von 1989, die
von den damaligen Machthabern blutig niedergeschlagen wurde, war keine
demokratische, sondern eine städtische Bewegung. Der ländliche Raum und die
Bauernschaft blieben davon unberührt. Es handelte sich um eine Koalition
verschiedener städtischer Schichten, die die Unzufriedenheit über Korruption,
Inflation und die beständigen Auseinandersetzungen über den weiteren
Entwicklungsweg innerhalb der Partei einte. Der mit der Niederschlagung
verbundene Versuch konservativer Kräfte, markwirtschaftliche zugunsten stärker
planwirtschaftlicher Momente zurückzufahren und die ideologische Uhr ein Stück
zurückzudrehen, misslang indessen. Es dauerte allerdings fast zwei Jahre, ehe
Deng Xiaoping mit seiner berühmten Reise in den Süden und mit einer Rede über
die Beschleunigung von Reformen den Reformimpetus wieder anstieß.
Neue außenpolitische Wege und Paradigmen
Die
innenpolitischen Prioritäten bestimmen auch die außenpolitischen. Die
Entwicklung (»Modernisierung«) Chinas ist allen anderen Faktoren übergeordnet.
Zweifellos hängt die Rolle Chinas in der Weltpolitik im 21. Jahrhundert daher
vor allem von seiner inneren Entwicklung ab.
Wir können heute fünf zentrale
außenpolitische Interessen der chinesischen Außenpolitik feststellen: Sicherung
eines ruhigen und stabilen Umfeldes für wirtschaftliche Entwicklung, eine
Ökonomisierung der Außenpolitik (»Primat der Wirtschaft«), Wiedervereinigung
mit Taiwan, Förderung einer multipolaren Weltordnung und Akzeptanz Chinas als
wichtiger internationaler Akteur (Konsultierung und Respektierung in wichtigen
Angelegenheiten). Auch der außenpolitische Stil hat sich in den letzten Jahren
verändert: Ideologische Ziele (»Klasseninteressen«) wurden aufgegeben;
Konfrontationsbereitschaft und außenpolitische Rhetorik haben abgenommen; die
Bereitschaft zur Mitwirkung an einer Weltinnenpolitik (wie am Blauhelmeinsatz
im Kongo) hat zugenommen; China bemüht sich intensiver um Bündnispartner auf
der Grundlage gemeinsamer Wirtschaftsinteressen (vgl. die Vorschläge zum
nordostasiatischen Freihandelsabkommen, zur Schaffung eines asiatischen
Währungsfonds oder einer Organisation ostasiatischer Zusammenarbeit). Auf diese
Weise bemüht sich China um strategische Partnerschaften wie mit dem ASEAN oder
der EU, um in dem kontinuierlichen Konfliktgemenge mit den USA strategische
Gegengewichte zu schaffen und seine Isolierung zu verhindern.
Mit dem WTO-Beitritt hat China
zugleich verdeutlicht, dass es an einer weiteren marktwirtschaftlichen
Transformation interessiert und bereit ist, zunächst Wettbewerbsnachteile auf
dem Binnenmarkt in Kauf zu nehmen, um langfristig die binnenwirtschaftlichen
Strukturen zu verändern.
Zusammenfassend lässt sich
feststellen, dass es in China zwar einen erfolgreichen Prozess wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Wandels gegeben hat. Dieser Prozess hat zugleich aber
ein hohes Maß an Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und sozialer Unsicherheit mit
sich gebracht. Gleichwohl sieht es gegenwärtig so aus, dass sich der
wirtschaftliche Auftrieb fortsetzen wird, solange es nicht zu größeren
ökonomischen und sozialen Krisen im Landesmaßstab kommt. Erfolgreiche
wirtschaftliche Entwicklung vorausgesetzt ist auch mit weiteren graduellen
politischen Reformen zu rechnen, zumal nur so auf Dauer Korruption und
Intransparenz einzugrenzen sind. In den nächsten zwei Jahrzehnten dürfte China
allerdings noch mit sich selbst beschäftigt sein, zumal es sich immer noch um
ein Entwicklungsland handelt, dessen militärische Stärke zudem begrenzt und
dessen internationaler Einfluss noch immer gering ist.
Mit wachsender Wirtschaftskraft
dürfte allerdings Chinas Selbstbewusstsein wachsen und damit das Bedürfnis,
auch außenpolitisch eine wichtige Rolle einzunehmen. Allerdings könnten
innenpolitische Krisen zu einem Anwachsen des Nationalismus führen und China in
eine aggressivere Rolle drängen. Andererseits könnten wirtschaftliche Erfolge
und weiter zunehmende Pluralisierung bewirken, dass China sich auch
international als zuverlässiger Partner erweist, der regional stabilisierend
wirken könnte und sich zunehmend in der Weltinnenpolitik engagiert.