Karl H. Klein-Rusteberg

 

Die totalitäre Versuchung heute

 

»Goldenes Zeitalter«, Hannah Arendt und islamistischer Fundamentalismus*

 

 

Die bipolare Welt vor dem Bruch von 1989 war keine Welt der Freiheit, sondern die eines Käfigs. Die in den Zeiten der zweigeteilten politischen Welt zu Identitäten stabilisierten Gewohnheiten in unseren Politikvorstellungen, so unser Autor in seinem Essay, bedürfen einer buchstäblichen Revision. Denn das Auftreten eines islamistischen Fundamentalismus und Terrorismus konfrontiert uns mit der Frage nach den Inhalten und Formen eines »dritten Totalitarismus«. Hannah Arendts Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus kann uns helfen, der Zerstörung von Pluralität zu begegnen. Diese Aufgabe aber kann nur transatlantisch gelöst werden.

 

Im ersten Teil ihres Werks Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, in dem Kapitel über Antisemitismus, erinnert Hannah Arendt an die von Stefan Zweig als »golden« gezeichneten zwanzig Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Es sind »jene zwei Jahrzehnte, die in einer Atmosphäre allgemeiner Zufriedenheit auch das zeitweilige Verschwinden des Antisemitismus aus dem öffentlich-politischen Leben mit sich brachten«(1). Arendt verweist auf die Situationen in Russland, Österreich, Deutschland und Frankreich mit ihren ungeliebten Regierungen und ihren starken innenpolitischen Oppositionen, denen sie jedoch »politische Willensbildung« absprach, sodass alles »in Ruhe weitergehen« konnte: »Die Lösung des Rätsels ist, daß im goldenen Zeitalter der Sicherheit eine eigentümliche Verlagerung des Machtbegriffs stattfand. ... Jedermann meinte, daß Macht gleichbedeutend geworden sei mit ökonomischer Potenz und daß politische Faktoren nur das Widerspiel wirtschaftlicher Kräfte seien. Erst in den Jahrzehnten nach dem ersten Weltkrieg begann man wieder zu verstehen, daß Macht mit wirtschaftlicher Potenz auch dann nicht identisch wird, wenn, wie es unter modernen Bedingungen geschieht, die Industriekapazität eines Landes zur Voraussetzung seiner politischen Macht geworden ist. ... Diese Illusion [der angenommenen Identität von politischer Macht und ökonomischer Potenz, d. A.) platzte im Ersten Weltkrieg, dessen Waffengewalt den Massen wenigstens deutlich vor Augen führte, dass die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung an sich weder das Heil noch überhaupt die Zukunft der Menschen bestimmen würde. Die Juden haben sich vom goldenen Zeitalter der Vorkriegszeit mehr narren lassen als irgendeine andere europäische Bevölkerungsschicht. Da niemand sich sonderlich um den Staat kümmerte, hatte ein politisch aktiver Antisemitismus kaum eine Chance.«(2)

Haben wir nicht mit den epochalen Umbrüchen der Dekade ab 1981, mit der Etablierung der ersten freien Gewerkschaft im kommunistischen Machtbereich, der polnischen Solidarnosc; 1989, dem Zerschneiden des Eisernen Vorhangs an der ungarischen Demarkationslinie und dem Fall der Mauer, sowie dem Ende der Sowjetunion 1991 das Ende eines zweiten »goldenen Zeitalters« der Sicherheit erlebt?

Auch dieses goldene Zeitalter hat Prägungen in politischem Denken hinterlassen, die sich auf das historisch vergewissernde, rückblickende Mehrheitsverständnis für die Gegenwart, das heißt für die Zeit nach 1989 und nach dem 11. September 2001, keineswegs nur marginal auswirken. Diese Prägungen stehen einem politischen Verständnis der Gegenwart vor allem im alten Kerneuropa entgegen und finden nicht zuletzt in den transatlantischen Kontroversen ihren konfliktmächtigen Ausdruck. Ähnlich wie von Arendt beschrieben, gehört heute nach wie vor zentral der Gestus der Kritik der Macht dazu – als vermeintliche Aufarbeitung deutscher Vergangenheit. Die Verschiebung im Begriff des Politischen in den Jahrzehnten des zweiten goldenen Zeitalters der Sicherheit ist eine im Politikverständnis selbst, es wird nach wie vor vergesellschaftet gedacht. Die prekär gesicherte Freiheit im bipolaren Gefüge der Welt hat das Politische gleichermaßen zu einer Gewohnheit werden lassen, wie wir Gewohnheiten in anderen Sphären der Massengesellschaft erleben – Konsum, Arbeit und Nichtarbeit, Risikoentwicklungen, aber auch die zur Gewohnheit gewordenen Rituale der Kritik. Der Sinn des Politischen, sein Spezifikum, ohne den all die anderen Elemente des Zusammenlebens immer in der Gefahr stehen der Zerstörung oder dem Chaos anheim zu fallen, ist, mit Hannah Arendt, die Freiheit. Sie droht ihren Sinn jenseits der individuellen Konsumfreiheiten, jenseits der ästhetisierten und ästhetisierenden Ich-Befindlichkeiten und jenseits der individualistischen Glaubensfreiheiten mehr und mehr zu verlieren. Wird die Freiheit zur Gewohnheit, trägt sie das Kennzeichen der Unfreiheit, wird unpolitisch, wenn sie ihre jeweilige öffentliche und institutionelle Rückversicherung angesichts der Prozesse der immer verunsichernden Moderne ebenso wie gegenüber Angriffen ignoriert. Freiheit verteidigt sich nicht von selbst, sondern bedarf der sichernden Machtinstanzen und ihrer Anerkennung im gesellschaftlichen common sense – im deutschen Kontext meist dezent romantisiert mit »Vertrauen« umschrieben. Geht das Politische im Meer der Gewohnheit unter, entsteht eine Situation, die in Anlehnung an Jean Francois Revel(3) als die einer »totalitären Versuchung« bezeichnet werden kann. Die totalitäre Versuchung liegt nicht in der Arroganz der Macht, sondern in der Arroganz der Machtlosigkeit und in Machtabstinenz.

Eine treffende Umschreibung für die gegenwärtige Versuchung finden wir bei Barbara Spinelli in Der Gebrauch der Erinnerung – Europa und das Erbe des Totalitarismus. Das Verhalten Europas angesichts der Balkankriege im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kennzeichnet Spinelli mit einem Titel des amerikanischen Regisseurs Stanley Kubrick; sie nennt es »emblematisch« dafür, wie sich diese Kriege unter den Augen des europäischen Westens vollzogen: Eyes Wide Shut – die Augen weit geschlossen.(4)

Die totalitäre Versuchung findet ihre Voraussetzungen nahezu in tief geprägten Gewohnheiten und Orientierungen einer zweiten, nunmehr vergangenen »goldenen Zeit der Sicherheit«, der des Kalten Krieges beziehungsweise der Ordnung des Ost-West-Konflikts. Oder um mit Hannah Arendt zu sprechen: »Das Problem jedoch ist, daß wir für diese Tätigkeit des Denkens, des Wohnens in der Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, weder ausgestattet noch auf sie vorbereitet zu sein scheinen. ... Lange Zeit in unserer Geschichte ... war diese Lücke mit dem, was wir mit den Römern Tradition genannt haben, überbrückt. Daß diese Tradition mit dem Fortschreiten der Moderne immer fadenscheiniger geworden ist, ist niemandem ein Geheimnis. Als der Faden schließlich ganz gerissen war, hörte die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft auf, nur eine der Denktätigkeit eigene Bedingung und als Erfahrung auf die Wenigen, die das Denken zu ihrem Hauptgeschäft machten, beschränkt zu sein. Sie wurde zur greifbaren Wirklichkeit für alle und stiftete allgemein Verwirrung, das heißt, sie wurde zu einer Tatsache von politischer Bedeutung.«(5)

Für das politische Denken und Annähern an ein Verstehen der totalen Herrschaft kommt es Hannah Arendt darauf an, sich denkerisch in die Lücke begeben. Und mit dem Blick auf die europäische Situation der bipolaren Ordnung schreibt Hannah Arendt 1954:

»In dem Augenblick, wo ein Krieg schon der bloßen Vorstellung nach die Fortexistenz der Menschen auf Erden bedrohen kann, hat die Alternative zwischen Freiheit und Tod ihre alte Plausibilität verloren.

Solange Europa geteilt bleibt, kann es sich den Luxus erlauben, sich vor diesem unruhigen Problem der modernen Welt zu drücken. Es kann weiterhin so tun, als ob die Bedrohung unserer Zivilisation von außerhalb käme, Europa also von zwei ausländischen Mächten Gefahr drohe, von Amerika und Rußland, von zwei Mächten, die ihm gleichermaßen fremd sind. Beide Strömungen, Antiamerikanismus und Neutralismus, sind in gewisser Hinsicht Anzeichen dafür, daß Europa im Augenblick nicht bereit ist, sich den Konsequenzen und Problemen seiner eigenen Geschichte [Hervorhebung d. A.] zu stellen. ... Wenn Europa vereint wäre, große industrielle Reserven an Menschen und Material zusammenwerfen würde und stark genug wäre, eigene Atomreaktoren und eigene Atomwaffen herzustellen, dann wäre dieser Fluchtweg automatisch versperrt. Dann würde diese Debatte, die derzeit unter dem Deckmantel einer außenpolitischen Diskussion geführt wird, sehr schnell ihr wahres Gesicht enthüllen. Die augenblickliche Entfremdung Europas von Amerika fände ein Ende, weil offenkundig würde, daß die technologische Entwicklung ihren Ursprung in der Gesamtgeschichte des Westens hat und daß es sich dabei nicht um eine bloß amerikanische Angelegenheit handelt, sondern diese Entwicklung lediglich in Amerika erstmals einen Höhepunkt erreicht hat.«(6)

 

1.

Nun sind wir nach 1989 offensichtlich in vielfacher Weise – politisch, kulturell, wirtschaftlich, technologisch, religiös – mit solch enormen Veränderungsschüben konfrontiert, die wiederum keine amerikanischen Angelegenheiten allein sind und ihren Ursprung in der westlichen Welt finden. »Vor einhundertundzwanzig Jahren«, so Arendt 1954 – »war das Amerika-Bild Europas das Bild der Demokratie. ... Heute heißt das Bild von Amerika Modernität. ... Die zentralen Probleme der Welt sind heute die politische Organisation von Massengesellschaften und die politische Integration technischer Macht. [Hervorhebung d. A.] Wegen der diesen Problemen innewohnenden Vernichtungsmöglichkeiten ist sich Europa nicht mehr sicher, ob es sich mit der modernen Welt überhaupt abfinden kann. Und folglich versucht Europa unter dem Vorwand, sich von Amerika zu trennen, vor den Konsequenzen seiner eigenen Geschichte davonzulaufen. Das Bild von Amerika, das in Europa vorhanden ist, mag uns zwar nicht viel über wirkliche Sachverhalte in Amerika oder den Alltag amerikanischer Staatsbürger erzählen, doch wenn wir lernwillig sind, dann kann es uns etwas über die berechtigten Ängste sagen, die sich Europa um seine geistige Identität macht, und über die noch tiefergehenden Befürchtungen, die der Frage des physischen Überlebens gelten. Diese Ängste und Befürchtungen sind nicht spezifisch europäisch, egal was uns die Europäer erklären. Es handelt sich um die Ängste der gesamten westlichen Welt und letztlich der ganzen Menschheit.«(7)

Diese Situation wurde nach der Blockkonfrontation also real. Die Lernfähigkeit, die Hannah Arendt herausfordert, das Denken in der Lücke der Gegenwart, gilt es zu bewahren. Heute also gilt es, aus der Geschichte zu lernen, nachdem ein nicht unerheblicher Anteil des pädagogischen Großprojekts »alte Bundesrepublik« sich in Simulationen längst vergangener oder andernorts ereigneter Vergangenheiten erschöpfte – die viel zitierten sixties stehen hierfür paradigmatisch. Die in den Zeiten der zweigeteilten politischen Welt zu Identitäten stabilisierten Gewohnheiten in unseren Politikvorstellungen bedürfen einer buchstäblichen Re-Vision. Diese neue Befragung ist nicht zuletzt eine Voraussetzung dafür, der totalitären Versuchung heute zu widerstehen.

Die islamistische Herausforderung ist die einer totalen Gefährdung der westlichen Ordnungsvorstellungen der Gewaltenteilung, als Voraussetzung aller politischen Freiheiten. Doch vollzieht sich diese Herausforderung in weiten Teilen Europas unter weit geschlossenen Augen. Das lässt aus amerikanischer Perspektive Europa »alt« aussehen.

Die politisch größte Herausforderung, an der sich diese jenseits aller pädagogischen Moden liegende Notwendigkeit des neuen politischen Lernens erweisen muss, um Gewohnheiten, die den westlichen Gesellschaften im Westen entgegengebracht werden, zu durchbrechen und sich Kontinuitäten der totalitären Gefahren im womöglich doch nicht so kurzen 20. Jahrhundert zu vergegenwärtigen, liegt im globalen Islamismus, im globalen postmodernen Dschihad.

Eine solch gegenwärtige totalitäre Herausforderung bleibt dreist, auch wenn sie – wie von Bundesaußenminister Joschka Fischer immer mal wieder und wie in seiner Rede zu »Europa und die Zukunft der transatlantischen Beziehungen« am 19. November 2003 an der Princeton University geschehen – als »neuer Totalitarismus« bezeichnet wird und Fischer betont, »der islamistische Terrorismus und seine Dschihad-Ideologie bedroht Frieden und Stabilität regional wie global«.(8) Diese Kennzeichnung als totalitär bleibt dreist, weil sie Gefahr läuft in die Fallen zu geraten, die als Hinterlassenschaft des goldenen Zeitalters ideologisch stehen blieben. Die Befangenheit in den Gewohnheiten selbstbezogener Lernerfolge und -ergebnisse aus der Zeit des Kalten Krieges ist nicht gering zu schätzen, weil sie Identitätsmerkmale eben jener Zeit nicht nur berührt, sondern in ihren Kernen trifft. Das »Aus-der-Geschichte-Lernen«, Credo der politisch-moralischen Re-Integration Deutschlands nach 1945, gehörte nicht zuletzt in Deutschland sowohl zu den Überlebensstrategien wie auch zu den Fortschrittsreserven der vergangenen bipolaren Zeit. War es in der Bundesrepublik unter zunächst primär politischen Gesichtspunkten das »Nie-wieder-Weimar«, so wurde dieser Satz in einer gerade der Konstellation des Kalten Krieges zu verdankenden, (mehr oder minder) unbewussten Verschlingung des »Nie-wieder-Krieg« und »Nie-wieder-Auschwitz« kulturrevolutionär abgelöst und vergesellschaftet.

Zur Revision gehört es, den Begriff der Macht, den der Gewalt und den des Krieges neu zu verorten und (damit) zu repolitisieren. Die Gefahr, die neuen totalitären Herausforderungen in den Mustern eigener Vergangenheitsbewältigung zu deuten, ist nicht gering. Das Wort, das nach 1989 zu kurz die öffentliche Runde machte: Geschichte wiederhole sich nicht, kehre aber zurück, gilt. Danach zu fragen, welche Bedeutung hierfür das Jahr 1945 mit der Etablierung der USA als europäischer Ordnungsmacht hat, wäre vermutlich Kern einer zweiten politischen reeducation, wenn es denn um das Ausloten der Perspektiven politischer Freiheiten sowie ihrer Verteidigung angesichts des Islamismus geht.

Vergleiche mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts sind zwingend. Schließlich speist sich der Islamismus aus ideologischen Quellen, die denen des europäischen Totalitarismus des 20. Jahrhunderts mehr als nur ähnlich sind. Der politische Publizist Paul Berman deutet in seinem Buch Terror And Liberalism(9) den Islamismus in der Kontinuität des Anti-Liberalismus und Anti-Modernismus der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Bemerkenswert ungebrochen ist die Kontinuität des antijüdischen Motivs. Die Gaskammern der NS-Vernichtungslager dürfen uns nicht den Blick auf die praktizierte Judenfeindschaft des Islamismus verstellen. Mag Auschwitz beispiellos bleiben, sind Vernichtungsabsicht und -versuche nicht singulär. Der im modernen Kontext immer auch antiliberale, antikapitalistische Beweggrund des Judenhasses hat seinen Sitz auch im Islamismus und seinen Terrorpraktiken. Hier muss von einer Judenfeindschaft gesprochen werden, die, zumal antizionistisch und antiamerikanisch reformiert, auf die Höhe des globalen Zeitgeistes gebracht ist.

Wie die europäischen Faschismen und der Nationalsozialismus ist auch der Anti-Modernismus der islamistischen Bewegungen nicht unmodern. Jeffrey Herf hat der europäischen Linken, insbesondere in Frankreich und Deutschland, vor allem vorgehalten, den Charakter dieser totalitären Bewegungen als »reaktionären Modernismus«(10) nicht in seiner Radikalität zur Kenntnis genommen zu haben und so auch die Reichweite des neuen Totalitarismus nicht annähernd zu erkennen.(11) Dem Totalitarismus sind eben alle Mittel deshalb recht, weil er sie nur als Mittel zu einem Zweck nutzt, nämlich dem seiner Selbstbewegung in der Zerstörung des von ihm angenommenen Feindes.

 

2.

Die Grundelemente dieser modernitätsfeindlich-modernistischen Ideologie lassen sich mit Paul Bermans Zusammenfassung einiger zentraler Motive eines der bedeutendsten, wirkungsmächtigen Ideologen des Islamismus nachzeichnen: Sayyid Qutb, der von 1906 bis 1966 lebte. Nicht zuletzt sind seine Grundgedanken wesentliches Element der Ideologie der al-Qaida. Sayyid Qutb hat die die revolutionär-islamistische Ideologie insgesamt entscheidend geprägt. Sein Buch Milestones erlangte ungeheure Publizität zunächst in Ägypten und wurde zum klassischen Manifest des terroristischen Flügels der islamistischen Fundamentalisten. Als Hauptwerk Qutbs gilt aber sein großer Kommentar zum Koran Im Schatten des Koran.

In Qutbs frühen literarischen Schriften finden sich deutliche Spuren des Individualismus und Existenzialismus. Soziale Gerechtigkeit und Islam hat Qutb vor seinem USA-Aufenthalt geschrieben, und bereits hier liegen Grundzüge seines islamischen Extremismus. Berman geht von einer Radikalisierung in den frühen Fünfzigerjahren aus. Qutb lebt wieder in Ägypten. 1952 wurde der ägyptische König durch Gamal Ab del-Nasser und eine Gruppe von nationalistischen Offizieren gestürzt. Sie praktizieren eine nationale Revolution auf Grundlage pan-arabischer Visionen. Islamisten und Pan-Arabisten versuchten in jener Zeit zu kooperieren.

Ihr Verhältnis beschreibt Berman mit dem Vergleich der Kooperation zwischen den italienischen Faschisten und Nationalsozialisten, ähnlich habe man sich – nach Berman – das Verhältnis von Pan-Arabisten und Islamisten im Ägypten der ersten Fünfzigerjahre vorzustellen. Nach einem fehlgeschlagenen Attentatsversuch auf Nasser gab dieser der Moslem-Bruderschaft hierfür die Verantwortung und das Verhältnis beider Fraktionen wurde zunehmend distanziert. Die Moslem-Bruderschaft wurde durch das Nasser-Regime mehr und mehr unterdrückt. Sayyid Qutb blieb in Ägypten. Nasser warf ihn 1954 ins Gefängnis, ließ ihn kurzzeitig frei, verhaftete ihn erneut für zehn Jahre, ließ ihn nochmals für eine kurze Zeit frei. In der Haftzeit setzte Qutb sein Schreiben fort. Lange schon schrieb er als ein vollständig überzeugter islamistischer Revolutionär. Er wurde 1966 gehängt.

Qutb entwickelt in der Darstellung und Kommentierung des Korans eine enorme theologische Kritik des modernen Lebens. Er geht davon aus, dass die Welt und die Menschen den Moment einer unerträglichen Krise erreicht haben. Danach haben die Menschen die Berührung mit der menschlichen Natur verloren. Menschliche Inspiration, Intelligenz und Moralität würden degenerieren, die sexuellen Beziehungen unter das Niveau von Tieren sinken, die Menschen seien unglücklich, wenden sich den Drogen, dem Alkohol und dem Existenzialismus zu. Qutb bewunderte ökonomische Produktivität und wissenschaftliche Kenntnisse. Reichtum und Wissenschaft aber seien nicht geeignet aus dieser Krise herauszufinden.

Allein in dieser nur kurzen Andeutung des Qutb’schen Krisenszenarios finden sich deutliche Motive, wie sie für die Nihilismen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und die europäische Zivilisationskritik der Zwischenkriegszeit ebenso charakteristisch sind wie für die Entfremdungskritik des romantisierten Marxismus der Neuen Linken. Qutb bringt auf seine Weise nochmals in Erinnerung, wie das kulturpessimistische Denken auch deutscher Mandarine nicht unwesentlich an De-Politisierung und gleichzeitiger gesellschaftlicher Mobilisierung, vor allem zu Weimarer Zeiten, seinen politisch destabilisierenden Anteil hatte und die Krise intensivierend wirkte.

Ohne expliziten Bezug teilte Qutb also nicht unerhebliche Elemente mit den Krisenanalysen des Kulturpessimismus. Während die europäischen und deutschen Kulturpessimisten jedoch vor allem eine Kritik des antiken Griechenlands zum Ausgang nahmen, lokalisierte Qutb nicht in Athen, sondern in Jerusalem das Übel. Die jüdische Beziehung zu Gott nannte er »ein System rigider, lebloser Rituale«.(12)

Während Gott durch Moses und die Propheten zu den Juden gekommen war, brachte der Prophet Jesus den Christen eine für Qutb bewundernswerte Spiritualität und Reformen einer nicht durch Gesetzesvorschriften bestimmten alltäglichen Lebensführung. Der christliche Geist jedoch verwarf, gerade auch durch die konfliktträchtige Nähe zu Juden, letztlich die göttlichen Regeln des Lebens völlig. Er verklärte Jesus als göttlich und verabsolutierte so Spiritualität und Liebe. Sie verwarfen also das jüdische Regelwerk und die Gesetze Mose völlig und waren eher der griechischen Philosophie verpflichtet. Der christliche Glaube trennte das physische und das spirituelle Leben voneinander und es entstand eine Zone reinen Geistes. Für Qutb war Jesus menschlich und galt als Prophet, nicht als Messias.

Kern der Ablehnung blieb aber die christliche Trennung von physischer und spiritueller Welt. Ihm galt diese Trennung als Zerstörung göttlich gegebener Einheit.

Der Prophet Mohammed brachte im 7. Jahrhundert einen neuen Gesetzescode, mit dem Religion wieder in die physische Welt, besser als je zuvor, eingebracht wurde. Der Mensch wurde zum »Vizeregenten Gottes« auf Erden. Diese Sichtweise führte zu einer intensiven Beschäftigung mit der Natur der physischen Existenz. Die bis weit ins Mittelalter hinein so bedeutende islamische Wissenschaftlichkeit fand hier ihren Ausgang. Die mittelalterlichen Wissenschaftler erforschten die Natur der physischen Wirklichkeit, vertieften diese Studien mehr und mehr und brachten der islamischen Welt eine hohe Zeit und Blüte der Erkenntnis. Die christliche Sicht auf die Wissenschaften war eine andere. Ihre Voraussetzungen und Resultate wurden, so Qutb, gemäß der christlichen Trennung von geistiger und physischer Welt, von Göttlichem getrennt: Religion hier, wissenschaftliche Forschung dort. Das bedeutete aus islamischer Sicht auch Trennung von Wissenschaft und gesellschaftlichem, alltäglichem Leben. Nach Qutb findet die frühe Wissenschaftsfeindlichkeit der Kirche hier ihren Ausgang.

Insgesamt ist das Werk Qutbs überaus reichhaltig und komplex, worauf Berman mehrfach verweist. Mit dem kurzen Verweis auf dieses Grundmuster Qutb’scher Argumentation soll an dieser Stelle allein verdeutlicht werden, dass es sich um Interpretationsweisen handelt, die die westlichen Gesellschaften keineswegs in ihrem Selbstverständnis nur von außen treffen. Sie bewegen den Westen immanent, empören und erschüttern nicht unerhebliche Anteile seiner Bevölkerungen. Es sind diese Krisenmentalitäten, die sich in totalitären Versuchungen kristallisieren können. Sie wiederum ergänzen die eingangs erwähnten mit Hannah Arendt erinnerten Herausforderungen, wie sie aus den prägenden Erfahrungen des goldenen Zeitalters als gesellschaftliche Stimmungen hervortreten. Gerade weil dem Westen seine eigenen, immanenten Krisenphänomene vieldeutig vertraut sind, sind sie auch Element totalitärer Versuchung.

Mit der Versuchung, die zivilisatorischen Trennungen des Westens zu verwerfen, geht die Kritik modernen Lebens und moderner Vorstellungen und Ordnungskonzepte zwangsläufig einher. Die liberale Idee, dass Religion und säkulares Leben um der Freiheit des Einzelnen willen getrennt sein müssten, weil der Glaube selbst nicht einheitlich sei und so in seiner Pluralität anerkannt werden müsse, erscheint diese Vorstellung jeder totalitären Ideologie – folgerichtig – als feindlich.

Qutb bezieht seine theologische Kritik jedoch nicht auf die »christliche« Moderne allein. So wie diese blasphemisch sei, so sind es auch die Muslime, die vom Virus der Moderne berührt sind. So wie Juden durch ewigen Hass, durch Impulse des Teuflischen, durch nie enden wollende Verschwörungen, Unglauben und Undankbarkeit Gott gegenüber zu Feinden geworden sind, und Christen durch ihre Kunst der Trennungen, die wiederum mit jüdischem Grundverständnis in Verbindung steht(13), zu Feinden der islamischen Einheit wurden, so gelten auch die Muslime als Verräter und Feinde, die den Kampf gegen diese Trennungen nicht aufnehmen. Die islamische Revolution habe die Einheit von Religion und Weltlichem wieder herzustellen. Diese Vorstellung basiert bei Qutb auf theologischer Analyse, die er im Stil der europäischen Philosophien des 20. Jahrhunderts reflektiert, die der westliche Leser gewohnt zu sein scheint und die in vielen Vorstellungen und im Unbehagen an der Moderne geradezu seiner Kritik entspricht und so an Anfragen anknüpft, die die Moderne an sich selbst stellt.

Historisch galt Qutb und anderen Islamisten der Imperialismus als eine Fortsetzung der Kreuzzüge. Amerikanische Außenpolitik wurde dahingehend von ihm kritisiert, so beispielsweise Trumans Unterstützung für die Zionisten. Überhaupt galt Qutb die Trennung von Kirche und Staat, wie sie in Amerika vollzogen wurde, als besonders drastische Erbschaft der alten christlichen Trennung von Spiritualität und Politik. Zwischen den westlichen liberalen Ländern und der Welt des Islams verbleibt der Konflikt »in seiner Essenz einer der Ideologie«(14). Dieses Stichwort führt an eine erste Annäherung zum Verständnis des Islamismus der Gegenwart als totalitärer Bewegung heran und so zurück zu Hannah Arendt.

 

3.

Totalitarismus ist Bewegung, die sich aus der Schwäche des Politischen, für Hannah Arendt als Folge des Imperialismus, der Krise des Nationalstaates, aus Antisemitismus und totaler Herrschaft komponiert. Dieses Kompositum wird zusammengehalten durch Terror. Die Annahme aber, Terror sei Mittel zum totalitären Zweck, enthielte bereits ein grundsätzliches Unverständnis. Wenn denn überhaupt von »Sinn« oder »Geist« totaler Herrschaft gesprochen werden kann, also dem Versuch, eine religiöse, totale Einheit in dieser Welt herzustellen, die diese Welt von den Übeln der Moderne auch mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln der technischen Moderne reinigt, eine Variante der »Utopie der Säuberung« also, wie Gerd Koenen es nannte(15) , dann besteht dieser Sinn darin, sich selbst diesen Übeln nicht substanziell hinzugeben und sie handelnd aus der Welt zu schaffen. So gerät die hierzu angewandte moderne Technik den Islamisten letztlich als Element der durch Gott bereiteten Mittel, die im globalen Dschihad wieder rückgebunden, vereinheitlicht werden. Auch die technischen Mittel werden so zum buchstäblichen Element der religio, in gewisser Weise »sakralisiert«. Der Begriff der Macht wird, wie er uns politisch unter den Stichworten Balance und legitimierte Befristung bekannt ist, entleert und in totale Gewaltbewegung nicht mit, sondern in Religion zeitlich und territorial entgrenzt, also zerstört. Macht wird all ihrer Formen entledigt. Der islamistische Reinigungsterror zielt so auf die immer offenen, prekären, uneindeutigen, pluralen und also auch doppelmoralisch deutbaren Mechanismen, die der westlichen Welt immanent sind. Die Unsicherheiten der Moderne, die diese gleichzeitig charakterisieren – Zweifel und Kritik, begrenzte Macht, Anerkennung der Pluralität der Menschen, all die Spaltungen und Trennungen, die wir als Leben in Freiheit erfahren und zu verantworten haben – dies haben die Islamisten also im Blick. Der Terror beschleunigt diese prekären modernen Mechanismen und zielt wiederum auf ihre Selbstzerstörung in formeller und legitimatorischer Hinsicht, nicht zuletzt durch die mittels Terror und Angst erzwungene Etablierung freiheitseinschränkender Gesetzlichkeit. Die politisch liberale, offene Gesellschaft ist einem Zwang ausgesetzt, dem sie sich mit ihren selbstregierten Staatswesen und Zivilgesellschaften niemals wird gänzlich entziehen können. Der Staat als seine Bürger schützendes Gewaltmonopol gerät nolens volens in den Sog des Terrors. Die Islamisten wirken in einem komplexen, tödlichen »Spiel«, das sich durch »das eiserne Band des Terrors konstituiert«.(16) Die totale Herrschaft unterscheidet sich von all den historisch bekannten Herrschaftsformen der Diktaturen, der Despotien und Tyranneien dadurch, dass sie nicht auf Einschränkungen der Freiheit orientiert ist. Totalitarismus zielt auf die menschliche Natur. Er zielt nicht auf Einschränkungen der Freiheit, sondern auf die Möglichkeit des Frei-Seins eines und einer jeden Einzelnen, seiner Fähigkeit sich vom Totalen – bis in sein Denken hinein – doch zu distanzieren, wider die totale ideologische Einheit.

Pluralität zu zerstören, ist der Kern totalitärer Dynamik. Dies wurde in den Zeiten der gigantischen Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts in den Lagern exekutiert und konnte gegenüber der NS-Herrschaft erst durch den Befreiungskrieg der Alliierten in der bedingungslosen Kapitulation ein Ende finden. Diese seine Form der Beendigung, uncoditional surrender, war also aus deutscher Perspektive eine »negative Befreiung«. Befreiend zunächst mittels militärisch niedergekämpftem totalem Krieg und so der Versuch der Repolitisierung in Europa. Der NS-Totalitarismus als gegenpolitische Bewegung fand in dieser Form der Beendigung wiederum seine negative Anerkennung. Aus heutiger Sicht angesichts des dritten Totalitarismus erscheint der Kalte Krieg als antitotalitäre Stundung. Unabhängig von der Frage, ob trotz aller Herrschaft und Technologie das totale Ziel erreichbar ist (die Frage ist nur um den Preis totaler Herrschaft empirisch »beantwortbar«), verweist der Charakter des Totalitarismus als Bewegung darauf, dass er in sich seinen Selbstzweck findet. Eine Erreichung dieses »Ziels« widerspricht seinem Zweck als permanent sich dynamisierender Bewegung. Paradox wäre ein Erreichen des Zieles insofern es sich daraufhin legitimatorisch den selbstgesetzten Versprechen – der Erfüllung der Bewegungssehnsüchte totaler Einheit – würde messen lassen. Es wäre zwangsläufig und um den unvorstellbaren Preis maßloser Vernichtung und Zerstörung willen erneut eine Art Enttäuschung der Heilserwartung. Auf erneuten »Lerneffekt« jedoch darf die Menschheit deshalb nicht spekulieren, weil nicht zuletzt die technologischen Mittel die Möglichkeit umfassender Vernichtung längst nicht mehr ausschließen. Mit dem Ende der Bipolarität sind diese Mittel auch nicht mehr primär mittels Abschreckung zu hegen. So ist und bleibt es bei totaler Feindbestimmung in zirkelschlüssigen Terrorhandlungen und es bleibt diese Feindbestimmung ebenfalls bewegt »neu« und politisch außerordentlich prekär. Feindbestimmung ist nicht durch Ort und Zeit strategisch oder gegenstrategisch bestimmbar.

Antisemitismus und Judenfeindschaft finden immer neue Formen und ideologische Selbstrechtfertigungen. Das Jüdische, als prägendes spannungsreiches Element der Moderne, ist aufgeklärt, traditionell und/oder als jüdischer Staat nicht modern »aufzuheben«, im Sinne totaler Herrschaftsideologie also nicht »einheitlich«. Und auch das, was als jüdisch von außen bestimmt oder angenommen wird, bleibt »ewiges« Objekt terroristischer Bewegungsbegierde.

»Totale Herrschaft, die darauf ausgeht, alle Menschen in ihrer Pluralität und Verschiedenheit so zu organisieren, als ob sie alle zusammen nur einen einzigen Menschen darstellen, ist nur möglich, wenn es gelingt, jeden Menschen auf eine immer gleichbleibende Identität von Reaktionen zu reduzieren ... Es handelt sich dabei darum, das herzustellen, was es nicht gibt, nämlich so etwas wie eine Spezies Mensch.«(17)

Die Bestrebungen hierzu sind dem Versuch geschuldet, eine Einheit mit den Gesetzen der Natur, wie im Nationalsozialismus ideosynkratisch als biologistisch-rassistische und antiliberale Ideologie oder in den Doktrinen des Marxismus-Leninismus als wissenschaftlich erkannte und somit zur menschlichen Verfügung stehende Gesetze der Geschichte oder wie im Islamismus theologistisch-antiliberal, zu realisieren.

Auf diesem Weg kennen die totalitären Bewegungen so weit keine immanenten Prinzipien der Rationalität und schließen gleichzeitig den Einsatz der technisierten Mittel der Vernunft nicht aus. Eine Selbstachtung der handelnden Personen wird unmittelbar transzendiert und kommt auf das Äußerste getrieben den Selbstmordattentätern als Vollzugsagenten des Terrors in ihrer Immanenz/Transzendenz – mit westlichen Worten gesprochen – folgerichtig vor. Der selbst ernannte Märtyrer wird zur Waffe.(18) Womöglich vollziehen auch sie eine Art sakralisierter Gegenvernunft, ähnlich wie sie Dan Diner für die Praxis in den NS-Vernichtungslagern begrifflich zu fassen versuchte.(19).Auch in den Lagern geschah die Vernichtung um ihrer selbst willen, dem Bewegungsgrund totaler Herrschaft folgend.

Ähnlich der »Vollendung der Sinnlosigkeit«, wie es Hannah Arendt bezogen auf die NS-Vernichtungslager nannte, sind die Selbstmordattentäter auf Zerstörung um der Zerstörung willen aus. Insofern ist es kein strategischer Kampf oder Krieg, den sie führen. Das Gegenüber ist ihnen wertlos und überflüssig. Anders scheint auch hier der »Sinn« der sinnlosen Tat nicht zu umschreiben.

 

Wir sollten entgegen den Vorstellungen und Gemütlichkeiten des goldenen Zeitalters der Abschreckung die Möglichkeit nicht ausschließen, dass der islamistische Totalitarismus auch selbstmörderisch-mörderische Nuklearwaffen zum Einsatz zu bringen gewillt ist. »So wie Israel jetzt mit individuellen Selbstmordattentätern, die darauf erpicht sind ihr eigenes Leben zu geben und dabei möglichst viele israelische Zivilbürger mitzunehmen, mögen wir nun den Aufstieg von Selbstmordstaaten beobachten, bereit substanzielle Anteile eigener Bevölkerung zu opfern um der Vernichtung der Juden willen.«(20) Die islamistische Verfügung (ob staatlich oder nicht-staatlich) über Nuklear- und andere Massenvernichtungswaffen wäre schon terroristisch genug, um dem entgegen »vernünftige Ängste« zu entwickeln. Aber die von dieser Angst freie weit gehende Ignoranz, eine Freiheit von Tatsächlichkeiten vor allem im alten Europa mit seinen Schuldkulturen und seiner Selbstverleugnung, steht der luxurierenden Kultur des appeasement als Verlängerung des goldenen Zeitalters (das ein goldener, stabiler Käfig der Ordnung war) nicht entgegen.

Was Deutschland und die Länder Kerneuropas nach 1989 und nach dem 11. September benötigen, ist keine Selbstbestätigung in ihren Erfolgen, »richtige« moralische Konsequenzen aus der eigenen Geschichte gezogen zu haben. Ein Neubeginn des Politischen, eine Landung der neuen Welt-Geschichte am Omaha Beach des politischen Lernens wird zur großen Herausforderung, weil die Vorgeschichte totaler Herrschaft in Gestalt des islamistischen Terrors unsere Gegenwart ist.

Diese Zeit hat ihren »D-Day« in den nunmehr alten, europäischen Mittelmächten Deutschland und Frankreich noch nicht erlebt. Es wird eine Landung in der eigenen Gegenwart sein müssen, die nur transatlantisch zu bestehen sein wird. Ob wir an den Illusionen des goldenen Zeitalters identitär-selbstbezogen hängen bleiben oder der Gegenwart gerecht werden, hieran entscheidet sich, ob wir uns erneut in die totalitäre Versuchung führen lassen. Europa hat die Chance, aus der Geschichte der europäischen Befreiung zu lernen. Dass diese Befreiung 1944/45 keine Selbstbefreiung war, darf nicht zur verlängerten, schuldbewusst-pazifistischen Ausflucht vor der Wirklichkeit werden. 1945 war allemal das Jahr der Befreiung. Ob es so bleibt, diese Anfrage steht »ganz gegenwärtig« auf der Tagesordnung.

Das Ende des goldenen Zeitalters ist längst »bombastisch« eingeläutet. Es ist auch das Ende der flüchtigen europäischen Beruhigung eines halben goldenen Jahrhunderts darüber, es möge einen gerechten und womöglich präventiven Krieg als Politikum nicht mehr geben, hingegen sind »die zentralen Probleme der Welt ... heute die politische Organisation von Massengesellschaften und die politische Integration technischer Macht«.

 

*

Überarbeitete Fassung eines Vortrags in der Alten Synagoge Essen vom Dezember 2003.

 

Paul Berman: Terror und Liberalismus. Aus dem Amerikanischen von Hans-Joachim Maass, Hamburg (Europäische Verlagsanstalt) 2004 (266 S., 22,90 €)

 

1

Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986 (5. Auflage seit 1951), S. 102.

2

Ebd., S. 103.

3

Jean Francois Revel: Die totalitäre Versuchung, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1976.

4

Barbara Spinelli: Der Gebrauch der Erinnerung – Europa und das Erbe des Totalitarismus, München 2002.

5

Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 1994, hier: »Vorwort – Die Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft«, S. 17.

6

Hannah Arendt: Europa und Amerika, hier aus: »In der Gegenwart, Übungen im politischen Denken II«, München 2000, S. 252.

7

Ebd., S. 257.

8

Bundesaußenminister Joschka Fischer: Rede an der Princeton University am 19. November 2003, www.auswaertiges-amt.de/www/de/archiv_print

9

Paul Berman: Terror and Liberalismus, New York 2003; siehe auch Dick Howard anlässlich der Originalausgabe, in: Kommune 3/03: »Totalitäre Bedrohung«, S. 14.

10

Jeffrey Herf: Reactionary Modernism: Technology, Culture And Politics in Weimar and the Third Reich, New York 1984.

11

Jeffrey Herf: »What is Old and What is New in the Terrorism of Islamic Fundamentalism?«, in: partisan review, No.1/2002, Vol. LXIX.

12

Paul Berman: »The Philospher of Islamic Terror«, in: New York Times Magazine, 23.März 2003.

13

Vgl. hierzu im modern-orthodoxen Judentum beispielhaft: David Gelernter: Judaism Beyond Words, in: commentary – July-August 2003.

14

Paul Berman: Siehe Fußnote 12.

15

Vgl. Gerd Koenen: Utopie der Säuberung – Was war der Kommunismus?, Berlin 1998.

16

Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 714.

17

Ebd., S. 676.

18

Vgl. hierzu Joseph Croitoru: Der Märtyrer als Waffe – Die historischen Wurzeln des Selbstmordattentats, München/Wien 2003 (siehe Kommune 1/04, S. 92/93).

19

Vgl. Hierzu Dan Diner: »Historical Understanding and Counterrationality: The Judenrat as Epistemological Vantage«, in: Saul Friedlander (Hrsg.): Probing the Limits of Representation – Nazis and the »Final Solution«, Cambridge/Ma. 1992, S. 128–142.

20

Gabriel Schoenfeld: The Return of Anti-Semitism, San Francisco/Ca. 2004, S. 152 (Übersetzung d.A.).