Jörg-Michael Vogl
Politik der Notwendigkeit –
Rückzug des Staates?
Ein
Streifzug
Kann es sein, dass nicht einfach die Erwartungen an Rot-Grün enttäuscht
wurden, sondern die Erwartungen an Politik allgemein? In vieler Hinsicht sind
Möglichkeiten und Verantwortung des Einzelnen erhöht worden. Doch, so unser
Autor, scheinen die Parteien, nicht nur die regierenden, eine Art Selbstentmachtung
der Politik zu Gunsten des Marktes vorzunehmen. Was wird nicht alles als
»notwendig« und »alternativlos« erklärt! Und steckt dahinter nicht eine
totalitäre Perspektive?
Beginnen
wir unseren staatstheoretischen Streifzug mit einem Stammtischzitat:
»Strafgebühren bei Geschwindigkeitsüberschreitungen – das ist doch nur Abzocke.
Damit füllen die sich die Taschen« ... und alle stimmen zu. Hier hat jemand
offensichtlich Dinge verwirrt und verknotet: Die Sanktionierung von
Gesetzesverstößen wird als Parteinahme gegen den Bürger, als »Wegelagerei«
interpretiert. Wenn man die Aussage ernst nimmt, zeigt sich das Desaster.
Welche Sicherheit bleibt noch, wenn der Staat Gegner ist, außer dem Vertrauen
auf die eigene Kraft? Die historische Grundfigur jeder modernen Begründung von
Staatlichkeit ist in Frage gestellt. Für den Staatstheoretiker Hobbes wurde der
Leviathan, ein mythisches, alles verschlingendes Meerungeheuer, im 17.
Jahrhundert zum Bild des Staates: Der Staat befriedet mit seiner
allgegenwärtigen Gewalt den ursprünglichen Kampf aller gegen alle, er zwingt
die Bürger zum regelgeleiteten Verhalten. Dieses Bild des Staates mutet uns
heute fremd an. Wir haben uns zwar an die Einsicht gewöhnt, dass der starke
Staat totalitär werden und der fürsorgliche Staat überfordert werden kann. Dass
der Staat zur privaten Pfründe einer Clique von Machthabern wird, kritisieren
wir jedoch als Rückfall in Barbarismus. Mit Entsetzen nehmen wir zur Kenntnis,
wie in den »neuen Kriegen« staatliche Institutionen zu Stützpunkten einer
lebhaften Ökonomie des Bürgerkrieges werden, erobert mit Hilfe einer »Politik
der Identität«, also des Appells an Kriterien der Geburt. Wir werden darauf
gestoßen, dass diese Politik zuerst diejenigen versucht auszuschalten, die
weiter an einer Politik der Überzeugungen, also der Diskussion von
substanziellen Alternativen festhalten wollen (Mary Kaldor).
Betreten wir die deutsche
politische Bühne. Gegen Ende der ersten Regierung Schröder war die Enttäuschung
untergründig. Mit dem Start von Rot-Grün II ist der Missmut aggressiv und
verächtlich, bis hin zum Vorwurf des Wählerbetrugs, und zwar trotz der
überwältigenden Zustimmung zum außenpolitischen Kurs der Regierung. Aber:
Welche Erwartungen an die Regierung, an Politik wurden hier gehegt, die
enttäuscht wurden? Wenn man sich an die Begriffe erinnert, in denen ähnliche
Grundstimmungen der Unzufriedenheit in Publizistik und Wissenschaft seit langem
verdichtet werden (Politik- und Staatsversagen, Parteien- und
Politikverdrossenheit, Gefahr des Populismus usw.), kann man dies als weiteres
Indiz dafür nehmen, dass sich die Frage nach den Voraussetzungen jener Kritik
lohnt. Es geht anscheinend um die Erwartungen an Politik allgemein, das heißt
um die Vorstellungen von Aufgaben und Möglichkeiten der Politik, in diesem
Sinne um die Staatsbilder, die alle Akteure leiten (Helmut Willke).
Führen wir
unsere Erkundungen weiter: Seit dem 1. Januar 2001 gilt ein neues Gesetz im
Bereich der Lebensmittelbearbeitung. Das bis dahin gültige Bundesseuchengesetz
versuchte durch Reihenuntersuchungen die Ausbreitung ansteckender Krankheiten
über Kantinen und Restaurants zu verhindern. Jetzt gilt der Grundsatz
»Prävention durch Information und Aufklärung«. In einer vom Arbeitgeber
organisierten Veranstaltung, von der Amtärztin durchgeführt, wird man über die
Übertragungswege bestimmter ansteckender Krankheiten sowie deren Symptome
informiert. Die besondere Bedeutung verschiedener Hygienemaßnahmen wird
erklärt. Dies geschieht mit Folien und einem anschaulichen Video. Dort lernt
man an einem Fallbeispiel, dass man sich schon beim ersten Verdachtszeichen auf
eine ansteckende Krankheit krankmelden soll und dass man, falls man
leichtfertig mit ansteckenden Krankheiten umgeht, sogar mit einer Anzeige wegen
fahrlässiger Körperverletzung zu rechnen hat. Der klassische Kern hoheitlicher
staatlicher Aktion wird also deutlich herausgestellt. Auch bei der Unterschrift
wird die Staatlichkeit zelebriert: Jeder Teilnehmer tritt einzeln vor, die
Amtärztin fragt jedes Mal, ob noch Fragen offen sind, dann unterschreiben beide
das Dokument der Belehrung. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, diese Belehrungen
jährlich zu wiederholen.
Ein gelungenes Beispiel der
Entbürokratisierung, der Abkehr von der Anmaßung der Kontrollierbarkeit hin zur
Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen? Ja! Aber auch eine Erhöhung des
juristischen Sanktionsdrucks. Und vor allem eine Demonstration des zynischen
Staates, weil der Teilnehmer seine ungeregelten Arbeitsbedingungen, die
schlechte Bezahlung, den Konkurrenzdruck bei den unqualifizierten Arbeiten im Bereich
der Massenverpflegung im Hinterkopf hat. Er weiß, dass der Arbeitgeber in Zukunft
nur einen formalen Akt wiederholen muss, er selbst aber zwischen Kündigungsdruck
und ungesetzlichem Verhalten steht.
Auch für den Betrachter von außen
zeigt sich hier ein zynischer Staat, weil klar ist, dass diese Gesetzesänderung
Einsparungen im öffentlichen Bereich mit sich bringt und damit Steuersenkungen
finanziert. Was staatliche Aufgabe wäre, nämlich das gemeinsame Ziel einer
hygienisch einwandfreien Lebensmittelversorgung für alle ernsthaft zu
vermitteln, wird durch diesen Zynismus der Umstände unglaubwürdig. Ohne konkret
das gesellschaftliche Kräftefeld zu berücksichtigen, ist also offensichtlich
nicht feststellbar, was »Staat« bedeutet (Nicos Poulantzas).
Der Eindruck, dass Möglichkeiten
und Verantwortung des Einzelnen und der staatliche Druck auf ihn erhöht wurden,
beruht nicht auf einem Missverständnis, das man durch eine Aufklärung über die
Intention der Gesetzgeber oder durch ein besseres Politik-Marketing hätte
vermeiden können. Für die betroffenen gesellschaftlichen Gruppen ist dies
darüber hinaus nur ein Bruchteil einer – natürlich nicht systematisch
gesteuerten – Strategie der Erhöhung des Drucks auf Beschäftigte allgemein. In
dieses Bild gehört genauso jedes Beratungsgespräch mit Schulabgängern, in dem
die Notwendigkeit eines guten schulischen Abschlusses dringend gemacht wird,
die Selbstkasteiungen im Bildungswesen nach PISA, die Vereinheitlichung des
europäischen Bildungsmarktes durch Bachelor-Abschlüsse oder die Begründung des
Green-Card-Versuchs mit der fehlenden Wettbewerbsfähigkeit deutscher Arbeitskraftanbieter.
Die eigene Verantwortung des Arbeitslosen für die Arbeitslosigkeit ist das
strukturierende Diskurselement: Die Erhöhung der Eigenverantwortlichkeit der
Bürger bedeutet damit auch, dass der Staat dann in der Hand »derer da oben« und
nicht mehr für »die Kleinen« da ist.
Auch in
ganz anderen Politikfeldern ist es nicht falsch davon zu sprechen, dass der
Staat die Möglichkeiten und die Verantwortung des Einzelnen vergrößert hat: Umweltbewusste
Verbraucher können inzwischen nicht nur Gemüse, Brot und Fleisch vom Ökohändler
und Wein vom Ökowinzer, sondern auch ökologisch verantwortlich erzeugten Strom
beziehen. Sehen wir uns auch hier das gesellschaftliche Kräftefeld an einem
Beispiel an: Im nordöstlichen Ruhrgebiet wird der frühere Gebietsmonopolist,
die VEW, vom Konzern RWE aufgekauft. Beide waren ursprünglich im Besitz der
Kommunen, die vor dem Hintergrund ihrer Finanznot – und begleitet von den neoliberalen
Chorälen – dankbar waren für die Möglichkeit, durch den Verkauf von Anteilen
zusätzliche Einnahmen zu haben. Beim Aufkauf der VEW durch RWE wird fast ein
Drittel der Mitarbeiter entlassen. Am offensichtlichsten ist das für die Kunden
dadurch, dass die immer stark besuchten Beratungszentren geschlossen werden. Dadurch
verändert sich die Situation für die Kunden völlig: Im Zuge der Übernahme sind
offensichtlich viele Strom-Rechnungen fehlerhaft und überhöht, auf Schreiben reagiert
das Servicezentrum nicht. Abbuchungen werden auch ohne Vollmacht der Kunden
vorgenommen, eine Klärung ist allenfalls noch über Call-Center möglich, wenn
man bereit ist, lange am Telefon zu warten und elektronisch erzeugte Melodien geduldig
zu ertragen. Nach Auskunft der örtlichen Verbraucherberatung war in der Anfangsphase
fast ein Drittel der Rechnungen fehlerhaft, vor allem wegen massiver Probleme
mit einer neuen Software.
Der Wechsel zum kleinen
ökologischen Anbieter löst alle diese Probleme auf einen Schlag, eine gute
Kundenbetreuung bei nicht wesentlich teurerem Strom, gekrönt von der
Mitteilung, wie viel Kilogramm CO2 weniger produziert wurden.
Auch hier wird die neue Qualität
dessen, was Staat ist, deutlich: Er zieht sich aus der direkten Verantwortung
für die Abdeckung der Grundbedürfnisse zurück und macht Preise und insbesondere
die Qualität der Stromerzeugung prinzipiell zu einem Thema der Lieferverträge.
Eine ständige Ausweitung des Anteils der ökologischen Stromerzeugung, das heißt
ein schonenderer Umgang mit den Lebensbedingungen auf der Erde, ist jetzt
denkbar. Aber: Die Rationalisierung der Kundenbetreuung ist auch Teil einer
neuen Geschäftsstrategie des Konzerns, der die Kleinkunden mitnimmt, die sich
gegen den schlechteren Service nicht wehren, einen Teil des Marktes Spezialanbietern
überlässt und mit deren Stromdurchleitungszahlungen so gut verdient, dass der
Einstieg in die US-amerikanische und britische Wasserwirtschaft finanziert
werden kann.
Die Neuorganisation des
Strommarktes mit seiner Unübersichtlichkeit überfordert jedenfalls den
durchschnittlichen Verbraucher, auch hier wieder unterschiedlich je nach
Stellung im sozialen Kräftefeld. Der Staat müsste also ökologische Nachfrage
organisieren. Aber wie kann man sich das konkret vorstellen? Zum Beispiel mit
Hilfe von Institutionen wie der Verbraucherberatung, die Chancen ausgleichen
kann. Sie ist allerdings in jeder Hinsicht überfordert, erst recht, weil ihre
Ressourcen im Zuge des öffentlichen Sparens abgebaut werden. Man könnte sich
darüber hinaus auch vorstellen, dass die örtlichen Parteien einen
entsprechenden Diskurs in ihrer Stadt organisieren. Dies setzt nichts anderes
voraus, als dass die Parteiorganisationen dies als Aufgabe der Politik ansehen.
Dass hier
eine ökologische Wende möglich wäre, aber nicht realisiert wird, liegt auf der
Hand. Die ökologisch orientierten gesellschaftlichen Gruppen sind von Rot-Grün
enttäuscht, weil ihre Ziele nicht erreicht werden. Aber liegt hier nicht eher
Bürger- statt Staatsversagen vor? Jeder und jede kann doch ein Stückchen
konkrete ökologische Politik betreiben! Ist vielleicht die rot-grüne Regierung
dann durchsetzungsfähiger, wenn sie unterstützenden Druck von starken
Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen bekommt, ist vielleicht das
außerparlamentarische Standbein mangels Bewegung kraftlos geworden? Oder löst
die Politik sich gar auf zu Gunsten einer »Subpolitik« (Ulrich Beck), das heißt
einer Politisierung alltäglicher Entscheidungen?
In einer kleinen Stadt im
Ruhrgebiet arbeitet seit zehn Jahren ein Netzwerk von Interessierten aus
Vereinen, Schulen, Volkshochschule und anderen städtischen Ämtern sowie
Verbraucherberatung, das sich zum Ziel gesetzt hat, eine stärkere Beachtung
ökologischer Aspekte in der Öffentlichkeit und bei kommunalen politischen
Entscheidungen zu erreichen: Alle Beteiligten unterstützen zum Beispiel eine
Aktion der Verbraucherberatung »100 Tage ohne Auto«, der Fahrradclub
veranstaltet Tagesausflüge zu Windkraftanlagen, der Solarverein versorgt die
Verwaltung mit neuen Informationen über Fördermöglichkeiten, nach einem
Workshop des Netzwerkes für Stadtverordnete entscheidet sich der Rat für die
Strombelieferung durch einen ökologischen Anbieter. Daneben wird ein
Umwelt-Wettbewerb für jährlich andere Zielgruppen (Sportvereine,
Handwerksbetriebe, Familien, Schulen) ausgeschrieben. Entstanden ist das
Netzwerk unter Federführung einer mit Landesmitteln finanzierten Projektgruppe
im Vorlauf der bundesweiten Bewegung der kommunalen Agenda 21, getragen vom
Gedanken, dass staatliches Handeln allein den Umweltgedanken und den
Nord-Süd-Ausgleich nicht voranbringen kann, sondern nur ein vernetzter, politisch
angeregter Prozess. Die kommunalen Parteien akzeptieren das Netzwerk als
wesentliches Argument im Wettstreit um Förderprogramme ökologischer Stadterneuerung.
Die Teilnehmer beurteilen die Arbeit bis heute weit überwiegend als notwendig,
von Außenstehenden wird sie als exemplarisch angesehen, das Arbeitsklima ist
von Vertrauen geprägt. In letzter Zeit haben die Aktivitäten jedoch deutlich
nachgelassen. Warum?
Natürlich kann man sagen, dass
doch wesentliche Umweltprobleme von der Politik energisch angegangen worden
sind, dass Ressourcenschonung inzwischen ein Exportschlager werden soll. Dann
hat man allerdings vergessen, dass das Ziel der politischen Bewegung, die die
Ökologie in die Politik brachte, nicht Ressourcenschonung war, sondern die Erde
zu erhalten und bewohnbarer zu machen. Niemand würde sagen, dass wir global
oder wenigstens national diesem Zustand entscheidend näher gekommen seien. Der
Staat als Supervisor (Helmut Willke) versagt, wenn diese und andere Grundfragen
nicht artikuliert werden. Der politische Diskurs darf nicht inhaltsleer sein.
Dem kommunalen Netzwerk fehlt aber
nicht nur diskursive Unterstützung der politischen Ebenen. Auch eigene
strukturelle Unsicherheiten werden deutlich: Wie verhält man sich in einem
Netzwerk? Nicht wie in einem Verein mit regelmäßigen Wahlen und
Mitgliederentwicklung als Erfolgskriterium, nicht wie in einer Partei, die sich
öffentlich zur Wahl stellt. Man kann nichts entscheiden, man kann nicht
versuchen Druck auszuüben. Man kann nur Fragen stellen, Vorschläge machen,
Maßnahmen an Zielen prüfen. Wie bemerkt man bei solchen Handlungen, ob man
Erfolg hatte? Ist das überhaupt Politik?
Auch hier Entbürokratisierung und
Vernetzung, Stärkung der Bürger, moderne Staatstheorie in Aktion, die aber
zynisch wird, wenn in einem solchen Netzwerk nicht mehr als nur Stadtmarketing
gesehen wird und die Politik nicht willens ist, ökologische Themen zu
politischen Fragen zu machen. Ureigene und unverzichtbare staatliche Aufgabe
ist es nämlich, den Diskurs über die allgemeinen Ziele und Wege zu ihrer
Erreichung zu organisieren.
Wechseln
wir also wieder auf die politische Bühne: Welches Bild vom Staat haben die
Akteure von Rot-Grün im Kopf? Man hat zum Beispiel die »Münteferisierung« der
SPD, also die straffe Steuerung der Partei ohne konzeptionelle
Weiterentwicklung (Heinz Bude) kritisiert. Es fehlt aber weit mehr. Ein Blick
auf das zur Zeit fortgeschrittenste und mächtigste neoliberale Projekt ist
lehrreich: Die Vision, die biologische Evolution, also auch die zukünftige
Entwicklung des Menschen, den privaten Unternehmern der Gentechnologie, der
Nanotechnologie und der künstlichen Intelligenz zu überlassen, wird unter dem
Titel der »Darwin AG« geradezu schwärmerisch propagiert (Frank Schirrmacher/FAZ).
Dabei wird als durchgehende Argumentationsfigur das Unpolitische, das
Unentscheidbare, der Automatismus dieser »Dritten industriellen Revolution«
postuliert, so als ob es nur um die möglichst schnelle und reibungslose
Durchsetzung einer historischen Gesetzmäßigkeit gehe. Trotzdem wird natürlich
gefordert, dass der Staat die Voraussetzungen für die neuen Technologien
schaffen müsse.
Im folgenden Zitat ist die
bisherige Erkundung der Staatsbilder resümiert: »Die Produkte kommen sowieso
auf den Markt, dann müssen die Verbraucher entscheiden. Ein Gesetz kann nur die
Macht des Faktischen in Regeln fassen«, so die Bundeslandwirtschaftsministerin
über Gen-Lebensmittel, während Greenpeace gleichzeitig eine eindeutige
Ablehnung von genveränderten Lebensmitteln bei Verbrauchern und Handel
ermittelt.
Bis jetzt ist deutlich geworden:
Politik kann sich der Aufgabe, Entscheidungen zu treffen, prinzipiell nicht
entledigen. Sie hat immer einen spezifischen Inhalt, das heißt, sie stellt die
Vorherrschaft bestimmter Werte und Ziele her und gestaltet sich selbst und ihre
Umwelt. Sie tut dies jedoch in der Zeit der neoliberalen Hegemonie quer durch
alle Parteiströmungen, vorherrschend in der Haltung der Selbstentmachtung zu
Gunsten des Marktes, noch mehr in der Haltung der Vollstreckerin eines notwendigen
Prozesses. Das Marktmodell der neoliberalen Wirtschaftspolitik schlägt um in
eine allgemeine historische Perspektive für die Gesellschaft bis in die
elementarsten Lebensbedingungen, nämlich die Lobpreisung der Konkurrenz als
grenzenlose Bewegung.
Mit den Beispielen ist ein
spezifisches grün-rotes Politikmodell und sein Versagen beschrieben. In
bestimmter Weise sind sozialdemokratische Traditionen, speziell die Auffassung
des Staates als Zentrum der Gesellschaft sowie die Selbstdisziplin der Partei unter
ihrer Führung, und Elemente des Emanzipationsdiskurses in der 68er-Tradition
verschmolzen mit der Ahnungslosigkeit über das wirkliche Leben, vor allem
»derer da unten«. Entbürokratisierung, Verschlankung des Staates, Stärkung von
Wettbewerb und Verantwortung des Einzelnen verbinden sich so in einer spezifischen
Weise unauflöslich mit der Grundstruktur des vorherrschenden neoliberalen
ökonomischen Modells, das auf weitere Politikfelder ausgeweitet wird. Dass dies
eine ebenso unsinnige wie fürchterliche Vision ist, war eine historische
Erkenntnis der Arbeiterbewegung in Bezug auf die Arbeit und der ökologischen
Bewegung in Bezug auf die Gefährdung der Erde. Und: Diese Politik in der
Haltung der Nicht-Politik schafft sich strukturelle Probleme. Ihre Fähigkeit
den »Kampf aller gegen alle« zu befrieden, also die klassische Aufgabe des
Staates seit Hobbes, bröckelt genau in dem Maß, in dem der Staat nicht mehr
Bühne inhaltlicher Diskussionen des allgemeinen Interesses ist.
Dass eine Personalisierung dieser
Problematik (»Kanzler der Bosse«) nichts anderes als populistisch ist, liegt
auf der Hand. Dagegen weist Wilhelm Hennis, wenn er von einer »Verluderung« der
Politik spricht, auf strukturelle Probleme des politischen Bereichs selbst
unabhängig von den jeweiligen Regierungsparteien hin: Er vermisst Politikerpersönlichkeiten,
die das von ihm diagnostizierte Problem, nämlich das Aushandeln von
Entscheidungen in internen Runden – unter Kohl vorherrschend geworden und von
Schröder übernommen – aufbrechen könnten und die zentrale Rolle des Bundestags
bei der politischen Willensbildung wieder stärken könnten. Auch das ist
inzwischen eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit: Programmatische Profile,
politische Zielsetzungen werden zwar regelmäßig angemahnt, spielen aber bei der
Erarbeitung von politischen Entscheidungen keine Rolle. Dieser Legitimationsprozess
wird ersetzt durch die Legitimation mit einer Notwendigkeit (der
Modernisierung, der internationalen Konkurrenzfähigkeit, der Globalisierung
...). Wer »vernünftig« ist, sieht diese Notwendigkeit ein, die »Unvernünftigen«
werden immer mehr zu dieser Einsicht gezwungen. Diese »unangenehmen«, aber
»notwendigen« Entscheidungen werden zunehmend auch in politischen Institutionen
vorbereitet, die die dafür vorgesehenen überlagern: in Netzwerken von »guten
Beziehungen« (etwa zur wirtschaftlichen Elite), in »professionellen«, sprich
nichtstaatlichen Beraterstäben, in Kommissionen, durch Stiftungen wie die
Bertelsmann-Stiftung und so fort. In dieser institutionellen Uneindeutigkeit
ist jedoch kein Chaos und keine Pattsituation festzustellen. Im Gegenteil: Tief
greifende Strukturänderungen in vielen Politikbereichen wurden beschlossen.
Diese Handlungsfähigkeit erweist sich trotz der »Falle der föderalen Politikverflechtung«,
wenn Kanzler und Oppositionschefin ein Paket von Gesetzen zur »Reform des
Sozialstaates« aushandeln. Vielleicht muss man hier sogar umgekehrt
formulieren: Nur in einer institutionalisierten Struktur der Ausnahme war eine
solche Entscheidung gegen Widerstände in allen Parteien und in der öffentlichen
Meinung überhaupt möglich.
Was zu
entscheiden ist, muss nicht mehr diskutiert werden, es ist hegemonial bereits
entschieden: die Unausweichlichkeit eines ständigen Wachstums, die
Normalisierung der Beschleunigung und der Optimierung ohne ein Ende, die
Unmöglichkeit des Erreichens eines Zieles bis hin zur Angst vor dem Stillstand,
letztlich die Notwendigkeit der Anpassung an ein historisches Gesetz.
Akzeptiert man die Alternative »Kapitalismus oder Barbarei?«(Karl Heinz
Bohrer/Kurt Scheel), so wird der Markt vom ökonomischen Modell zur
gesellschaftlichen Vision einer sozialen Bewegung, die sie Stück für Stück
realisiert. Damit wird weit mehr bewirkt als nur die Vorherrschaft des
neoliberalen Modells der Wirtschaftspolitik. Wenn eine Bewegung sich
legitimiert fühlt, die Welt ihrer Vision anzugleichen, unabhängig von politisch
widerstreitend ermittelten Zielen, dann ist sie totalitär. Der hier gebrauchte
Begriff der totalitären Bewegung bezieht sich auf Hannah Arendt, die die
»erfolgreichsten« totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts, nämlich
Stalinismus und vor allem Nazismus untersucht hat, denen es gelang, den
Bewegungscharakter sogar während der Phase ihrer Herrschaft zu bewahren. Für
sie treibt der Nationalsozialismus die kruden Rassentheorien des 19.
Jahrhunderts auf die Spitze, indem er sie als Axiom setzt und unberührt von
jeder Realität Schlussfolgerungen daraus zieht. Die Realität bleibt irrelevant
auch in der Phase der Herrschaft, die neuen Machthaber bringen nicht ihre
Schäfchen ins Trockene, wie alle erwarteten, sondern erreichen mit einer
ständigen Beschleunigung der Maßnahmen den permanenten Ausnahmezustand. Er ermöglicht
die immer weiter gehende Umsetzung des Gedankengebäudes in einer Haltung, als
sei dies unabhängig vom Willen der Akteure, nichts als historische
Notwendigkeit, der man alles, auch sich selbst opfern wird. Die Bereitschaft
der Menschen den eigenen Sinn aufzugeben zu Gunsten des »Suprasinns« des
historischen Gesetzes wird vor der Machtergreifung mit Propaganda erreicht,
danach mit Terror.
Man muss sich an die Diskussion
über die Perspektive der marktgesteuerten biologischen Evolution erinnern: Der
Diskurs der »Darwin AG« erscheint als unrealistisch oder gar verrückt, aber er
leitet den Entscheidungsprozess.
Die
Vorstellung einer totalen Herrschaft des Marktes (siehe Carl Amery) vereinfacht
die Polemik allerdings zu sehr: Wenn es stimmt, dass neoliberale Vorherrschaft
in totalitäre Perspektiven umschlägt, dann muss man gleichzeitig feststellen,
dass sich eine Vielfalt von Strömungen bis in den Bundestag hinein dagegen
artikuliert. Und grundlegender: Das Problem ist nicht der Markt, sondern die
Ersetzung gesellschaftlicher Ziele durch den Konkurrenzprozess um der Bewegung
willen, die Ausrufung des latenten Prozesses von Vernichtung und Ersetzung
(Michael Jäger) zum gesellschaftlichen Ziel. Rot-grüne Politik hat nicht
versagt, weil sie Märkte liberalisierte oder die Verantwortlichkeit des
Einzelnen stärkte, sondern weil die Kernaufgabe der Politik unzureichend
wahrgenommen wurde, nämlich die widerstreitende Ermittlung dessen, was
gesellschaftliche Werte und Ziele sind und die Erörterung ihres Verhältnisses
zu den getroffenen Maßnahmen. Wenn der Staat Unausweichlichkeit und
Machtlosigkeit demonstriert, wird er zynisch. In dem Maß, in dem er seine
Legitimation nicht mehr aus der Meinungsbildung, sondern aus der Notwendigkeit
eines historischen Prozesses schöpft, wird er totalitär.
Es soll noch einmal erinnert
werden, dass der Staat sich keineswegs zurückzieht, sondern neue
gesellschaftliche Strukturen schafft, den gesellschaftlichen Anpassungsdruck
und dabei – wie bei Thatcher und Reagan schon – sein repressives Potenzial
erhöht. Statt einer Schwächung durch die Haltung der Nicht-Politik bestünde eine
Stärkung des Staates schon darin, in den dafür vorgesehenen politischen Institutionen
vom Bundestag über die Medien bis zu den Stammtischen über Ziele der Politik
und Methoden ihrer Umsetzung zu sprechen. Man kann also keineswegs nur von
einem rot-grünen Versagen sprechen. Aus jeder der Grundströmungen des deutschen
Parteiensystems gibt es Einwände, gäbe es Gründe genug für prinzipielle
Gegenentwürfe zu einer Politik der Notwendigkeit mit dem Fluchtpunkt einer
»Darwin AG«, die den Reichtum der jeweiligen politischen Traditionen
aufgreifen. Die Glaubwürdigkeit einer rot-grünen Politik, die Verantwortung des
Einzelnen am Arbeitsplatz und in seiner Kommune zu stärken sowie durch mehr
Partizipation den Nord-Süd-Ausgleich und den ökologischen Umbau voranzutreiben,
ist jedoch – unabhängig von der Richtigkeit des Zieles – vermutlich auf lange
Zeit verspielt. Abzuwarten bleibt, ob die Politik aus konservativen,
christlichen und liberalen Traditionen Widerstand gegen die Bewegung des
»totalen Fortschritts« entwickelt. Jemand, der den Staat als Beute einer Clique
von Wegelagerern darstellt, würde sich dann lächerlich machen. Leider ist ein
Populismus der diskursiven Verbrüderung mit dem Volk (gegen Straftäter,
Ausländer, Drogensüchtige, Terroristen ...) wahrscheinlicher.
Literatur:
Amery, Carl (2004): Global Exit. Die Kirchen
und der Totale Markt, München (btb/Goldmann)
Arendt,
Hannah (1995): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München
(Piper) (4. Aufl.)
Beck,
Ulrich (1993): Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver
Modernisierung, Frankfurt am Main (Suhrkamp)
Bude,
Heinz: »An der roten Ampel. Ausblick auf den Herbst: Die SPD nach Schröder«,
in: SZ, 26.4.02
Bohrer,
Karl Heinz und Kurt Scheel (Hrsg.) (2003): »Kapitalismus oder Barbarei?«,
Sonderheft Merkur, Nr. 9/10, Sept./Okt.
Hennis,
Wilhelm (2992): »Starker Pessimismus. Vom Zustand der Bundesrepublik
Deutschland« (Gespräch), in: Blätter für deutsche und internationale Politik,
Nr. 5, Mai, S. 547 ff.
Jäger,
Michael/Kohn-Waechter, Gudrun (1993): »Materialien zur ökologischen
Katastrophe«, in: Kommune 1/93,S. 33 ff., 2/93, S. 44 ff., Nr. 3/93, S.
46 ff., 4/93, S. 50 ff.
Kaldor,
Mary (2000): Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der
Globalisierung, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2000
Poulantzas,
Nicos (1978): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Sozialistische
Demokratie, Hamburg (VSA)
Schirrmacher,
Frank (Hrsg.) (2001): Die Darwin AG. Wie Nanotechnologie, Biotechnologie und
Computer den neuen Menschen träumen, Köln (Kiepenheuer & Witsch)
Willke,
Helmut (1992): Ironie des Staates. Grundlinien einer Staatstheorie
polyzentrischer Gesellschaft, Frankfurt am Main (Suhrkamp)