Ereignisse & Meinungen

 

BALDUIN WINTER

 

Nahöstlicher Frühling?

 

 

 

Tauwetter? Nach dem Tod Arafats, nach den Wahlen in Palästina, nach dem Abkommen von Sharm al-Sheik zwischen Sharon und Abbas, nach der begonnenen Räumung des Gaza-Streifens und, als Rahmenbedingungen, nach den erfolgreichen Wahlen im Irak und dem Aufbruch im Libanon, den die FAZ (15.2.) jubelnd und die ägyptische Al-Ahram Weekly (10.3.) sarkastisch mit der orangenen Revolution der Ukraine vergleicht, scheinen alle Zeichen in Nahost auf eine Wende zu deuten, bietet sich »die größte Chance auf Frieden seit Jahren« (Javier Solana, FAZ, 22.2.).

Der Wunsch nach Veränderung war auf allen Seiten schon länger zu bemerken. Der palästinensische Journalist Subhi al-Zobaidi brachte ihn auf die Formel: »Wir hofften, dass Bush ausgewechselt würde, wir hofften, dass Ariel Sharon ausgewechselt würde, und wir hofften, dass Arafat ausgewechselt würde.« (WoZ, 6.1.) Einer reichte. Die Wahlen in Palästina wurden denn auch mit erstaunlichem Optimismus kommentiert. Es gab politischen Pluralismus, mehrere Kandidaten und Programme, Parteien, Wahlbeobachter, freie und geheime Wahlen, und die Öffentlichkeit in den arabischen Ländern konnte via Satellit einen ihr selbst nahezu unbekannten Vorgang verfolgen. Riad Malki, Leiter des »Panorama«, Center for the Dissemination of Democracy and Community Development in Jerusalem, schätzt die Wahlen als einen Startschuss für andere arabische Länder ein: »Wir Palästinenser haben eine neue arabische Revolution begonnen, die sich Demokratie und ›good governance‹ zum Ziel setzt. ... Ironischerweise ebneten auch die arabischen Führer diesen Weg zur Demokratie mit ihrer unerträglichen Arroganz, ihrer Unterdrückung der Freiheit und ihrer Missachtung der menschlichen Würde.« (Internationale Politik, 2/05)

Keine Freiheitsmission ohne George W. Bush. »Die Anfänge von Reformen und Demokratie in den Palästinensergebieten zeigen die Macht der Freiheit, mit alten Mustern von Gewalt und Misserfolg zu brechen. ... Das Ziel zweier demokratischer Staaten, Israel und Palästina, die Seite an Seite in Frieden leben, ist in Reichweite«, erklärt der US-Präsident in seiner Rede an die Nation am 3. Februar. Zugleich wird der Druck auf Syrien verschärft: »Syrien lässt es nach wie vor zu, dass sein Staatsgebiet und Teile des Libanon von Terroristen genutzt werden, die jede Chance auf Frieden in der Region zunichte machen wollen. ... Wir erwarten von der syrischen Regierung, dass sie jedwede Unterstützung des Terrorismus beendet und der Freiheit die Tore öffnet.«

Es geht um die schiitische Hizbullah im Libanon, von Syrien und vom Iran unterstützt, von den USA als terroristische Organisation eingestuft. Hizbullah selbst versteht sich »als nationale Widerstandbewegung des libanesischen Volkes«, erklärte Ali Fayat vom Ältestenrat der Kairoer Al -Ahram Weekly (10.3.) nach der großen Demonstration, zu der Hizbullah 1,5 Millionen Menschen nach Beirut auf dem Riad Al-Solh mobilisierte, als Gegenveranstaltung zu den Kundgebungen der antisyrischen Opposition auf dem Platz der Märtyrer. Das ist allerdings nur eine Position der islamistischen Hizbullah, die sich andererseits auch als Teil eines schiitischen Netzwerks versteht, zu dem die iranischen Gotteskrieger ebenso zählen wie irakische Widerstandsgruppen. Nach Olivier Roy (Esprit, Juli 2003) ist für Chatami die Hizbullah ein »integraler Bestandteil des Libanon«, der wiederum, so Chatami Anfang Februar 2005, »ein einzigartiges Beispiel des Widerstands gegen den zionistischen Feind geliefert und einen Sieg über ihn errungen« habe; die iranische Regierung werde fortfahren »den Libanon, Syrien sowie die palästinensischen Brüder zu unterstützen und dem irakischen Volk zu helfen, seine Feuerprobe zu bestehen« (FAZ, 4.2.).

 

Da sind unterschiedliche »Brüder« gemeint – an den palästinensischen Wahlen haben sich die linksradikalen und die islamistischen Organisationen nicht beteiligt, die weiterhin gegen die Zwei-Staaten-Lösung opponieren und zum Teil Israel das Existenzrecht aberkennen. Entsprechend vorsichtig waren auch die Einschätzungen zum Gipfel von Sharm al-Sheik, der in den westlichen Medien positiver als in der Region selbst gesehen wurde. Ein Kommentar von Hani Habib in der PA-nahen Zeitung Al-Ayyam vom 9.2. spiegelt die Stimmung auf der palästinensischen Seite. Der Tenor ist positiv, nämlich Hoffnung auf Frieden und einen unabhängigen Staat, auf Verbesserung der Lebensbedingungen und das Ende der Besatzung, doch ist man sich klar, dass Israel die Gesprächsbedingungen vorgegeben hat. Der Schwerpunkt lag auf der Sicherheitsfrage, die grundlegenden Fragen wurden nicht angesprochen, immerhin: »Denn der Gipfel war dazu da, eine neue Phase zu eröffnen ... und nicht dazu, eine endgültige Lösung zu finden. ... So glauben wir, dass die beiderseitige Abwendung von blutiger Gewalt die wichtigste Leistung des Gipfels von Sharm al-Sheik ist. Schließlich besteht in diesem Punkt auch die wirkliche Prüfung für die Fähigkeit der verschiedenen Seiten, die passenden Bedingungen für den Beginn des politischen Prozesses zu schaffen.« Sharon, vermutet der Kommentator, habe den Gipfel angesichts der Konfrontation mit den Siedlern sogar dringender gebraucht für die Umsetzung seines Rückzugsplans aus dem Gazastreifen. Welche »Brüder« an nachfolgenden Gewalttaten beteiligt sind – dem Mord an Libanons Hariri, dem Hizbullah-Anschlag in Israel, den drei geplanten, doch verhinderten Attentaten von Jenin aus – kann man an fünf Fingern auszählen, denn, wie eine libanesische Zeitung schrieb, erstmals seit Jahren scheinen die Fronten in Nahost übersichtlicher zu werden.

Skepsis äußerte der israelische Friedensaktivist Uri Avnery über den Gipfel. Er meint, dass Abbas gegen die militanten Extremisten weder durchgreifen kann noch will: »Er hat sie überzeugt, einer Waffenruhe zuzustimmen. Abbas hat nun die Chance zu zeigen, ob er die palästinensischen Ziele gewaltlos erreichen kann. Das ist ein zeitlich begrenzter Kredit. ... Nach höchstens einem Jahr werden die Palästinenser sagen: Du hast deine Chance gehabt, wir müssen zurück zur Gewalt. Wenn es Abbas nicht gelingt, wird es keinem ohne Krieg gelingen. Das wäre dann Intifada drei.« (FASZ, 13.2.) Avnery weist nicht nur auf eine Reihe palästinensischer Zugeständnisse und auf Meinungen hin, die sich inhaltlich mit den Vorschlägen der Genfer Initiative decken, die wieder verstärkt ins Spiel gebracht wird; er macht auch auf ein israelisches Phänomen aufmerksam, den »Kampf um Israel«: »Die Siedler und ihre Bundesgenossen repräsentieren eine Weltanschauung, die das Gegenteil von dem ist, was wir in Israel wollen: eine antidemokratische, fundamentalistische, extrem messianische, rechtsradikale Einstellung.« Die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong untersucht in ihrem Buch Im Kampf für Gott den religiösen Fundamentalismus und zeigt auf, dass in Palästina wie in Israel eine Art »Doppelkrieg« geführt wird. Neben dem Grundkonflikt gebe es einen Krieg zwischen Fundamentalisten und Säkularisten, »weil sie vollkommen verschiedene Vorstellungen vom Heiligen haben. Den ›Gusch Emunim‹ nannte [Amos] Oz ›eine grausame und verstockte Sekte‹, die ›aus einer dunklen Ecke des Judentums aufgetaucht [ist] und alles, was uns lieb und teuer ist, zu vernichten droht‹. Für Säkularisten und Liberale, ob Juden, Christen oder Muslime, sind die Werte der Aufklärung wie das Selbstbestimmungsrecht des Individuums und die Freiheit des Geistes heilig und unverletzlich; sie können dabei keine Kompromisse oder Zugeständnisse machen. ... Das wahre Ziel des Gusch, fuhr er fort, sei nicht die Eroberung von Nablus oder Hebron, sondern bestehe darin, ›dem Staat Israel ein hässliches Zerrbild des Judentums aufzuzwingen. Das eigentliche Ziel dieses Kultus ist die Vertreibung der Araber, um danach die Juden zu unterdrücken, uns alle unter die Brutalität ihrer falschen Propheten zu zwingen.‹« (S. 491) Das fundamentalistische Potenzial ortet Avnery vor allem hinter der Siedlerbewegung mit einem harten Kern von bis zu 10000 Personen. Diese bekam bislang immer Rückendeckung von der Armee und von Ariel Sharon, den der israelische Schriftsteller David Grossmann als »Geburtshelfer der Siedlungsbewegung« bezeichnet. Noch ein am 8. März dem Ministerpräsidenten vorgelegter offizieller Bericht der ehemaligen Staatsanwältin Talia Sasson über Siedlungstätigkeiten weist zahlreiche selbst nach israelischen Recht illegale Aktivitäten nach, in die, mit Wissen Sharons, Hunderte Millionen Schekel Regierungsgelder geflossen sind (NZZ, 9.3.). Sozusagen alte Sünden. Nun war schon die Regierungsumbildung in Israel eine Absage an die Orthodoxen und ein Schritt zur säkularen Mitte. Grossmann kommt zum Schluss: »Sharon hat eine klare Wahl getroffen. Für ihn ist die Existenz eines kleinen jüdischen und demokratischen Staates Israel wichtiger als alle Träume von einem biblischen Land Israel.« (IP, 2/05) Westliche Kommentare hielten sich zunächst bedeckt: »Doch eine wirkliche politische Klimaerwärmung wird sich erst ausbreiten, wenn es über einen längeren Zeitraum hinweg keine palästinensischen Terrorakte gibt und Israel seine illegalen Siedlungen in großem Stil zu räumen beginnt.« (NZZ, 9.3.) Das hat Sharon nunmehr angekündigt.

 

Können die Ereignisse im Libanon die Friedensaussichten in Nahost befördern? Auch hier ist es so, dass die westlichen Kommentatoren jubilierten, während die Region vorsichtig abwägt. Michael Thumann zufolge (Zeit, 10.3.) hat »das Demokratie-Domino« begonnen: »Revolutionen und demokratische Umstürze brauchen ein Bild, um von der Welt bemerkt zu werden. Dieses Bild haben die Libanesen den arabischen Völkern in den vergangenen Wochen geschenkt. ... Wiederholt sich der Epochenbruch von 1989 in der arabischen Welt?« In der NZZ vom 10.3. fragt der libanesische Schriftsteller Hassan Darwud: »Ein Weckruf für die arabische Intelligenz?« Er nennt die Ereignisse: »Neben dem Volksaufstand in Libanon oder der Ankündigung direkter Präsidentschaftswahlen in Ägypten (auch wenn von diesen vorerst keine tatsächliche Veränderung zu erwarten ist) wären noch die Wahlen im Irak und in Palästina zu nennen; sogar Saudi-Arabien geht erste Schritte, indem es bei den nächsten Lokalwahlen auch den Frauen das Wahlrecht geben will. All dies, auch wenn es im Moment noch wenig Wirkung zeigt, bewegt etwas in der arabischen Welt.«

Nun geht der syrische Truppenabzug aus dem Libanon nicht einfach auf die demonstrierende Opposition zurück, sondern auf den Druck der USA und Frankreichs. Sie bestehen auf der Umsetzung der UN-Resolution 1559, die den Abzug der syrischen Truppen und Geheimdienste sowie die Entwaffnung aller Milizen (also auch und gerade der Hizbullah) fordert. In Libanon selbst ist die Lage durch das konfessionalisierte politische System und durch den starken schiitischen Bevölkerungsanteil, der politisch durch die Hizbullah repräsentiert wird, kompliziert. Ihr Führer Al-Sayed Hassan Nasrallah hat sofort die Opposition beschuldigt, mit den »Ausländern« zu paktieren (USA, Frankreich – Syrien wird jedoch nicht als »Ausland« verstanden ...). Dagegen wäre die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit von dringlicher Priorität. Sie solle, so der Kairoer Staatsrechtler Hassan Nafaa in der Al-Ahram, jede äußere Einmischung zurückweisen – damit sind jene Punkte der UN-Resolution 1559 gemeint, die »innere Angelegenheiten des Libanon« betreffen. Laut Nafaa greift diese Resolution in die Souveränität des Libanon ein, getragen von den westlichen Großmachtinteressen, den libanesischen »nationalen Widerstand« – in Gestalt der Israel unversöhnlich gegenüberstehenden Hizbullah-Milizen – zu unterminieren. Eine Regierung der nationalen Einheit hingegen könnte alle Kräfte sammeln, die Würde und Souveränität des Libanons gegenüber den auswärtigen Mächten und Israel bewahren und einen Ausgleich zu Syrien finden.

Aber das sind vielleicht schon die Argumente von gestern. Nasrallah wirft Kräften der Opposition vor, einem neuen libanesisch-israelischen Friedensabkommen offen gegenüberzustehen. Aber darum geht es doch, sogar Syriens Asad hat sich positiv zu Gesprächen mit Israel geäußert. Die NZZ vom 5.3. brachte es auf den Punkt: »Um die libanesische Krise zu lösen und die sich in den letzten Monaten abzeichnende Entspannung zwischen Israel und den Palästinensern auszuweiten, müssten zwei Ziele ins Auge gefasst werden: die Selbstbestimmung Libanons und die Integration Syriens in den nahöstlichen Friedensprozess. ... Eine israelische Annahme des syrischen Angebots zu Friedensgesprächen, das bisher von Ministerpräsident Sharon beharrlich ignoriert wurde, könnte mit einer Demobilisierung der Hizbullah-Freischärler in Südlibanon aufgewogen werden.«

 

Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe 2/05