ROLAND SCHAEFFER

 

Die Grünen nach der Systemveränderung

 

Mit »weniger Staat« werden sich soziale Diskriminierung und Armut nur noch verschärfen

 

 

Von Systemveränderung war einst bei den Grünen viel die Rede. Inzwischen hat sie auf andere Weise stattgefunden, politisch mit der Wende von 1989, ökonomisch mit der Globalisierung, getragen von der »informationstechnologischen Revolution«. Eine neue gesellschaftspolitische Situation wirft für das Verhältnis zu Wirtschaft, Staat und Soziales neue Fragen auf. Die Grünen müssen dazu einen öffentlich sichtbaren Beitrag erarbeiten: einen eigenen wirtschaftspolitischen Kurs, einen eigenen Standpunkt in der neuen sozialen Frage.

 

Als die Grünen vor 25 Jahren gegründet wurden, erschien vielen von ihnen eine »Systemveränderung« die Voraussetzung für die Durchsetzung ihrer ökologischen, friedenspolitischen und sozialen Programme. Davon ist seit einigen Jahren nicht mehr die Rede. Dafür haben inzwischen andere Systemveränderungen stattgefunden – auf der weltpolitischen Arena vor aller Augen als Zusammenbruch des Sowjetreiches und als wirtschaftlicher Aufstieg Chinas und des südasiatischen Raumes, innerhalb der westlichen Gesellschaften in Form einer schrittweisen Verschiebung der Verhältnisse »hinter dem Rücken« (wie Marx formulierte) der Akteure.

Natürlich folgte der Umsturz nicht den Pfaden, die die ideologischen Drehbücher der Siebzigerjahre ihm weisen wollten. Aber während die Grünen immer weniger von Systemveränderung sprachen, wurde sie in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur immer spürbarer. Die örtlichen Zentren und die materiellen Grundlagen der Produktivität, die die Industriegesellschaft der Sechzigerjahre ausgemacht hatten, sind weitgehend zusammengebrochen; soweit die Produktionssysteme etatistisch organisiert waren, wurde der Nachlass marktwirtschaftlich umgeordnet (das heißt von alten und neuen Eliten angeeignet, manchmal auf durchaus kriminelle Weise). Eine neue Wirtschaftsordnung, eine neue Kultur und ein neuer technologischer Zugriff auf die Welt haben sich durchgesetzt. Sie haben das Individuum neu geformt, vieles, was privat war, ist politisch, und Politisches privat geworden. Manchen der frühen Träume wurde eine zweite Bedeutungsebene aufgezwungen: Zwar ist die Fantasie »nicht an der Macht«, aber die Symbolmanipulation hat im Medienraum neue Macht erobert und ist mit den politischen und wirtschaftlichen Mächten neuartige Beziehungen eingegangen. In den Worten des Soziologen Manuel Castells: Der informationelle hat den industriellen Kapitalismus abgelöst.(1)

Die Entwicklung der Grünen zu einer neuen politischen Kraft könnte vor diesem Hintergrund der Ablösung des industriellen durch den informationellen Kapitalismus beschrieben werden. »Die informationstechnologische Revolution hat den libertären Geist, der in den Bewegungen der 1960er Jahre zur Blüte gekommen war, halbbewusst in der materiellen Kultur unserer Gesellschaft verbreitet.«(2) Denn auch die technische Basis der neuen Arbeits- und Finanzorganisation, das Internet und seine Bestandteile, war von einer jungen Generation von Pionieren bewusst gegen den traditionellen Zentralismus der alten Kommunikations- und Organisationssysteme entwickelt worden. Seither sind Dezentralität und Vernetzung, ist der »Bruch mit festgefahrenen Verhaltensmustern« zum festen Bestandteil der Alltagsphilosophie geworden – in der Managementtheorie ebenso wie im Liebesleben – und eben auch der Politik. Auch die Grünen wurden mit ihren auf den ersten Blick exzentrischen Anliegen von einem stetigen Strom weitergetrieben, der Fundamente alter Institutionen unterhöhlte und neue Themen und Interessen nach vorne brachte. Die Tatsache, dass dabei wirtschaftliche Spielregeln und gesellschaftliche Verbindlichkeiten selbst umgestürzt wurden, konnte lange verdrängt werden.

In Deutschlands Westen war die Zeitverzögerung möglich, weil das Verschwinden der industriegesellschaftlichen Lebensgrundlagen wegen der Stärke und der Weltmarktpräsenz wichtiger Industriezweige besser abgefedert werden konnte als im Rest Europas. Deshalb werden die neuen Regeln des informationellen Kapitalismus erst jetzt mit voller Wucht spürbar. Die Regierung hat erst vor einem Jahr begonnen, systematisch gegenzusteuern, nachdem sie allzu lange gehofft hatte, die Probleme auf den Arbeitsmärkten als konjunkturelle Eintrübung behandeln und abwarten zu können. Die Grünen allerdings haben auch da noch weitgehend darauf verzichtet, den Kernbereich der wirtschaftlichen Probleme ins Zentrum ihrer Programmatik zu rücken. »Wir haben die Konzepte, sie müssen nur umgesetzt werden« – die Botschaft der Spitze war beruhigend. Ging der Weg nicht letztlich von allein in die richtige Richtung – so wie die »grünen« Themen, von der Neuordnung der Geschlechterverhältnisse bis zur Ökologie, fast von allein die Medienaufmerksamkeit auf sich zogen? Angesichts einer säkularen Neuordnung der globalen Wirtschaft war das viel Optimismus.

Die »harten« Themen blieben auf diese Weise vor allem bei der SPD.(3) Erst jetzt, wo ein »Skandal« den Zusammenhang zwischen Außen- und Arbeitsmarktpolitik aufrührt und die Partei mit dem Rücken an die Wand schiebt, wird das Problem zusehends sichtbar.

Die Programmatik der Grünen reichte demnach aus, um sich mit einigen, spezifisch »grünen« Themen in der medialen Öffentlichkeit zu halten und die übrigen Bereiche »abzudecken«. Auf die Neuordnung der gesellschaftlichen Grundlagen und die soziale Polarisierung, die für das neue System charakteristisch ist, konnte sie kaum antworten. Das unterscheidet sie zwar nicht von anderen politischen Kräften, die ebenfalls je nach öffentlicher Stimmungslage die alten Werkzeugkisten plündern. Es macht sie aber besonders angreifbar.

 

Der informationelle Kapitalismus führt zu einer Neuordnung der Arbeitsmärkte. Sie werden zwischen einem relativ kleinen Anteil von »selbstprogrammierfähigen, hochproduktiven Arbeitskräften« auf der einen und einer großen Zahl von »generischen, ersetzbaren Arbeitskräften«(Castells) auf der anderen gespalten. Der soziale Kompromiss zwischen Arbeit und Kapital, der die Industriegesellschaften kennzeichnete, wird damit ausgehebelt. Einfache Tätigkeiten erscheinen beliebig verlagerbar, immer größere Teile der Beschäftigten werden als nicht mehr ausreichend »produktiv« aus dem Produktionsprozess ausgegliedert. Dem Wohlfahrtsstaat droht die Implosion.

Zumindest Teile der Mittelschichten sind allerdings in der Lage, einen Teil der neuen Risiken auszugleichen. Wer über Geld- und Kapitalvermögen, über Fondsanteile, Rentenversicherungen und Sparguthaben verfügt, kann über die globalen Kapitalmärkte sowie über den Börsenerfolg weltweit agierender Unternehmen an den Gewinnen teilhaben. »Sie sind also zugleich auch kollektive Eigentümer von kollektivem Kapital und werden so vom Verlauf der Kapitalmärkte abhängig.«(4)

Nichts an diesen Entwicklungen ist völlig neu. Aber erst in der informationellen Wirtschaft mit ihrer globalen Vernetzung und ihrem Informationsaustausch in Lichtgeschwindigkeit können sie großflächig die gesellschaftlichen Grundlagen unterspülen. Neue gesellschaftliche Schichten und Trennungslinien entstehen oder werden, nach dem industriegesellschaftlichen Zwischenspiel, reaktualisiert. Vor allem das Ende der Aufstiegsgesellschaft – in der jeder hoffen konnte, dass es ihm in einigen Jahren ein wenig besser gehen und dass die Kinder ihre eigene Chance haben würden – wird dramatisch bewusst.

Die Reaktion der staatlichen Institutionen – weit davon entfernt, auf die neue gesellschaftliche Konstellation steuernd einzuwirken – ist widersprüchlich. So werden auf Grund der Forderungen grüner Sozialpolitiker die Armutsprobleme durch die Bundesregierung mit einem eigenen Bericht gewürdigt – ein Bericht, der auch zeigt, dass Deutschland bezüglich der Verteilungsgerechtigkeit noch immer direkt an die skandinavischen Länder anschließen kann. Für eine angemessene Reaktion und eine entsprechende Umorientierung der Politik in den zentralen Bereichen fehlt bisher aber das programmatische und institutionelle Fundament.

Ein Beispiel aus dem deutschen Alltag. Chancengleichheit, also optimale Förderung gerade für Kinder aus bildungsfernen und Immigrantenfamilien, wäre bekanntlich die wirksamste Maßnahme zur Verbesserung der Standortbedingungen und insofern im Interesse aller. Trotzdem schleppt sich die Umorientierung des Bildungssystems hin, ebenso wie die Konzentration der Ressourcen auf die Grundschule. Die Mittelklasseeltern ihrerseits reagieren auf das Versagen des Staates mit einem Run auf private Grundschulen und knallharter Konkurrenz um die Gymnasiumsplätze. Und unterhalb der Sichtbarkeitsschwelle passieren noch ganz andere Dinge. So machen immer mehr Länder den Schwimmunterricht in der Grundschule und damit ein offizielles Unterrichtsangebot der staatlichen Schule neuerdings kostenpflichtig. Die Kinder von Arbeitslosengeld-II-Empfängern werden die Preise nicht bezahlen können. Statt mehr Chancengleichheit entstehen so neue Ausschlussverfahren für die ärmeren Schichten.(5)

Dass es dabei um Diskriminierung geht, nicht um »Sparen«, ist durch eine einfache Überlegung festzustellen. Sowohl Schulen und Schwimmbäder als auch öffentliche Verkehrsmittel werden bekanntlich mit guten Gründen hoch subventioniert. Wer von ihrer Nutzung ausgeschlossen bleibt, weil er die normalen Preise nicht bezahlen kann, kommt also nicht in den Genuss der staatlichen Mittel, die zu ihrem Betrieb aufgewandt werden. Mit anderen Worten: Wer arm ist, dem wird sein Anteil auch an solchen Leistungen gestrichen, die eigentlich allen zustehen.

Von einem öffentlichen Aufschrei indes ist nichts zu hören. Die Betroffenen zählen zu jenen, die in der Mediengesellschaft unsichtbar bleiben – und mit jedem weiteren Diskriminierungsschritt noch unsichtbarer werden.

Das Thema Diskriminierung gehört also wirklich ins Zentrum linksliberaler ökologischer Politik. Allerdings: Die alten Diskriminierungen, die sich gegen Frauen oder sexuelle, religiöse oder kulturelle Minderheiten richteten und deren Rechte sowohl in traditionalen als auch noch in den Industriegesellschaften einschränkten, sind seit dreißig Jahren zurückgedrängt, abweichendes Verhalten enttabuisiert worden. Das ist gut so, es ist auch ein Erfolg grüner Politik sowie der sie tragenden sozialen Gruppen, und es gibt keinen Grund, davon abzurücken oder nachzulassen.

Die neuen Diskriminierungen durch Armut hingegen werden kaum zum Thema – sie sind mit Tabus belegt, von denen manche stärker scheinen als die alten Sexualverbote. Sie mischen sich mit anderen Obsessionen, etwa der Angst vor Verbrechen, die die Medienproduktion beherrscht wie nie zuvor. Die Frage ist, ob und was Politik dazu beiträgt – oder ob sie gar gegensteuern kann.

 

In den grünen Debatten gibt es eine frappierende Lücke. Der Staat kommt kaum vor. Gewiss war und ist von ihm die Rede – als Gegenbegriff zur Zivilgesellschaft, zur Eigeninitiative, als bürokratische Quälveranstaltung, der man dringend Beine machen sollte. Es gibt ihn auch als abstrakte Instanz, die technische Risiken beherrschen und die Umwelt schützen sollte. Mittlerweile sogar als Polizeigewalt, die man notgedrungen akzeptieren muss. Aber letztlich interessiert der Staat, interessieren seine Institutionen und ihr Funktionieren nicht wirklich.

Die Gründe für diese Lücke sind vielfältig. Schließlich waren für die westlichen Aufbruchsgenerationen der Siebziger- und Achtzigerjahre der Staat und die wirtschaftlichen Großinstitutionen der Gegner, gegen den es die libertäre, dezentrale, vernetzte neue Welt durchzusetzen galt. War er nicht am verbrecherischen Teil der deutschen Geschichte beteiligt? Ist er nicht extrem teuer und ineffizient, verglichen mit den Institutionen der privaten Wirtschaft – oder auch den eigenen Institutionen der sozialen Bewegungen, vom Öko-Institut bis zu den NGOs?

Übersehen wird dabei, dass Demokratie des Staates bedarf. Die gesellschaftliche Einhegung der Marktkräfte braucht einen rechtlichen und organisatorischen Rahmen. Ohne institutionelle Korsettstangen kann das Gemeinwesen nicht handeln. Reformdebatten in einer Regierung müssen deshalb die Konsequenz haben, dass die Reformer sich selbst reformieren. Wenn die neue Wirtschaftsweise und Gesellschaftsform den gesellschaftlichen Zusammenhang gefährdet, reichen traditionell verfasste Bürokratien allenfalls aus, um manche Tendenzen zeitweise zu blockieren. Für zielgerichtete Einflussnahmen fehlt es an Kraft, Wahrnehmungsfähigkeit und Flexibilität.

Der realpolitische »Realismus«, den die Grünen so bitter gelernt haben, spielt dabei eine eher unglückliche Rolle. Die Behauptung, »staatliche« seien notwendigerweise weniger effizient als »privatwirtschaftliche« Strukturen, ist bei heutigen Amts- und Mandatsträgern weit verbreitet – und doch ist sie Ideologie.(6) Vielmehr lässt sich das Auseinanderdriften der Produktivität staatlicher und privatwirtschaftlicher Verwaltungen sowohl datieren als auch erklären. Dass Lenin Anfang der Zwanzigerjahre die deutsche Post zum Vorbild des sozialistischen Wirtschaftens erklärte, lag eben nicht an deren extremer Bürokratisierung, sondern vor allem an ihrer, im Vergleich zu allen Privaten, hohen Effizienz. Der Gründervater der deutschen Soziologie, Max Weber, hielt die Bürokratie deshalb für ein unaufhaltsames Schicksal – ein Gedanke, der noch lange überzeugend und wirksam blieb.

Erst mit der Informationalisierung der Verwaltungsprozesse seit den 1970er-Jahren ist die Effizienzlücke entstanden, die die öffentliche Verwaltung (häufig, nicht immer) von privaten Institutionen trennt. Während große Konzerne – etwa die alte Hoechst AG bei Frankfurt – ganze Steuerungsebenen mit Hunderten von Führungskräften stilllegten, während sie in ihren Forschungslabors die Hierarchiestufen von sieben auf drei reduzierten und stattdessen Netzwerke mit kleinen Forschungslabors in der ganzen Welt aufbauten, hat die öffentliche Verwaltung die neuen Organisationsverfahren eher abwartend behandelt. Zwar erreichen (vor allem auf kommunaler Ebene) manche Verwaltungen längst wieder die Effizienz und die Steuerungsfähigkeiten privatwirtschaftlicher Institutionen oder übertreffen sie. Im Ganzen aber gelingt es dem öffentlichen Sektor kaum, die Apparate an die neue technisch-soziale Welt und ihre Steuerungskulturen anzupassen. Pragmatisches »muddling through« oder das Hantieren mit ökonomischen Anreizen, die in die alte Kultur gepflanzt werden, erscheinen erfolgversprechender. So gilt der Staat bei seinen Repräsentanten als von Natur aus unbeweglich, unkreativ und bürokratisch – eine sich selbst bestätigende Diagnose.

Wenn sich dann gesellschaftliche Krisenerscheinungen häufen und der Handlungsbedarf wächst, sucht sich die Politik Wege an der offiziellen Verwaltung vorbei, über Beiräte, Kommissionen und Berater. Dabei lassen die Erzählungen aus dem Innenleben der Berliner Republik auch bei den unglaublichsten Pannen für Verschwörungstheorien keinen Raum – it’s bureaucracy, stupid. Gewiss, es wird mit dem PC gearbeitet und E-Mails werden verschickt, aber der PC gilt als schnellere Schreibmaschine und Internet und E-Mails als eine Art von Turbo-Aktenwagen, der, weil ohne institutionelle Integration, Chaos eher verbreitet und Komplexität steigert. Die der informationellen Organisation eigenen neuen Möglichkeiten für die interne Kooperation über Hierarchien und Ministerien hinweg bleiben nicht nur ungenutzt, sie werden, mangels bewusster und gezielter Integration in die Arbeitsprozesse, als zu offen und zu wenig steuerbar angesehen – als ob die Privatwirtschaft ohne Steuerung auskäme und Vorstände weniger verantwortlich seien als politisches Führungspersonal. Die alte, vertikale Anweisungskultur allerdings verträgt sich nur schlecht mit den neuen, vernetzten Strukturen (Dany Cohn Bendit meinte möglicherweise diesen Punkt, als er dem Kiewer Botschafter nahe legte, er hätte »streiken« sollen).

Mit anderen Worten: Genau das, was die alte Hoechst AG von der neuen Aventis unterscheidet, unterscheidet noch immer den Staat von den Arbeitsweisen der Privatwirtschaft.

Der Staat, die Schutzmacht der kleinen Leute, ist deshalb nicht nur dem ideologischen Trommelfeuer der Neoliberalen ausgesetzt. Viel schlimmer ist, dass seine Repräsentanten nicht daran glauben, dass er handlungsfähig sein oder werden könnte. Denn Reformpolitik bedarf eines ebenso selbstbewussten wie selbstkritischen Staates. Eines Staates, der sich selbst und seinen DienerInnen neue Regeln gibt und darüber zu diskutieren in der Lage ist.

 

Von der Fähigkeit des Staates, erkennbar für seine Bürger zu handeln, hängt der Ausgang von Wahlen ab. It’s not the economy, stupid. Nicht die Probleme, ihre Bewältigung entscheidet. Trotzdem fangen die Augen der Politiker aller Parteien an zu leuchten, wenn ihnen wieder einmal ein Blick in den Zauberkasten der neoliberalen Ökonomie gestattet wird. Da mag die bisherige Bilanz des Bahn-Vorstandes noch so bescheiden sein (die Übertragung des Preissystems der Fluggesellschaften auf den Bahnverkehr war ein ideologisch verursachter, sehr teurer Fehlschlag) –, der »Börsengang« des größten deutschen Unternehmens scheint dennoch, ohne jede öffentliche Debatte, eine ausgemachte Sache. Die Trennung des Staates vom kollektiven Eigentum seiner Bürger scheint zur Anpassung an die »neue Zeit« so selbstverständlich, dass sich die Nachfrage erübrigt. Kann nicht an einer privaten Deutschen Bahn jeder, der sein Geld in den globalen Finanzströmen erhalten oder vermehren will, teilhaben? Voraussetzung ist, dass die Regierung dafür sorgt, dass die Ergebnisse des größten deutschen Unternehmens stimmen. Das wird jede Regierung tun, und es ist keine unlösbare Aufgabe, solange die Bahn ihr natürliches Monopol – das Netz – erhält. Mehdorn ist deshalb konsequent, wenn er Betrieb und Netz vor dem Börsengang nicht trennen will. Die Privatisierung natürlicher Monopole wäre für Ludwig Erhards Ordoliberale zwar noch eine ordnungspolitische Todsünde gewesen – für die neue shareholder-Wirtschaft gehört dergleichen dazu.

Von den sonstigen Folgen hingegen ist wenig die Rede. Durch die Finanzierung über den Kapitalmarkt müssen Schulden künftig deutlich höher verzinst werden, als das bei staatlichen Anleihen der Fall ist. Zusätzlich müssen Renditen erwirtschaftet werden, die sich an globalen benchmarks orientieren. Die Regierung wird Kartell- und Regulierungsbehörden bremsen müssen, damit die Bilanzen stimmen – dass Wettbewerb mehr Effizienz erbringt, bleibt deshalb wenig wahrscheinlich. Der Verdacht liegt zudem nahe, dass nicht die ICE-Kunden, sondern jene, die nicht ausweichen können, die Pendler im Regionalverkehr, die Rechnung bezahlen – oder der »Börsengang« zum Vorwand für den beschleunigten Abbau öffentlicher Verkehrsdienstleistungen wird. In beiden Fällen würden die Kosten, gemäß ihrer derzeitigen natürlichen Tendenz, bei den sozial Schwächeren anfallen.

Ernst-Ulrich von Weizsäcker hat in einem Bericht an den Club of Rome kürzlich das Beispiel der staatlichen Gebäude-Brandversicherung dargestellt:(7) Deren Privatisierung hat eine Kostensteigerung um 50 Prozent nach sich gezogen, da die Verwaltungskosten und die Gewinne privater Unternehmen eingerechnet werden mussten und auf diese Weise die Kommunen, das heißt die Bürgerinnen und Bürger, einen Milliardenbetrag kostete. Gewiss sind auch dabei Gewinne angefallen. Nur folgen die derzeit einer natürlichen Tendenz, nach oben zu wandern, zu den Anteilseignern der Versicherungsunternehmen.

Gewiss gibt es Fälle und Bereiche, die von Privaten besser gemanagt werden. Aber wer das behauptet, ist begründungspflichtig. Denn wenn die Belastung der sozial Schwächeren wächst, zahlt am Ende der Staat mit. Schon deshalb müsste ein moderner Staat, anstatt dem Mainstream hinterherzulaufen und irreversible Entscheidungen im Handstreichverfahren zu treffen, erst einmal über eine neue Ausstattung seines ökonomischen Instrumentenkastens nachdenken.(8)

Wer zu Privatisierung rät, hat demnach zumindest plausibel zu machen, dass sie dem Wettbewerb dient, dass dadurch Effizienzgewinne entstehen und dass diese in Form von Preissenkungen an die Normalkunden weitergegeben werden. Das war im Telefonsektor zeitweise der Fall, weil das natürliche Monopol des Telefonnetzes technisch aufgebrochen worden war und auf mehreren Wegen (über die Handy- wie über die Internet-Technologie) angegriffen werden konnte. In anderen Bereichen der öffentlichen Wirtschaft – etwa im Wassersektor – ist Privatisierung einfach die Schaffung privater Monopole. Die Privatisierung der Berliner Wasserbetriebe wird überproportional von den ärmeren Kunden (etwa kinderreichen Familien) mit drastischen Preiserhöhungen bezahlt (20 Prozent in den letzten beiden Jahren), insgesamt müssen Stadt und Kunden nach Expertenschätzung Kosten in Milliardenhöhe tragen. Auch sonst wird die Kundenbevölkerung der Republik für die Fütterung von Dutzenden »Nationaler Champions« herangezogen, die sich ihre tatsächliche oder vermeintliche Weltmarktperformance mit überhöhten Preisen im Inland bezahlen lassen – von der Pharma- über die Versicherungsbranche bis zu den Gas-, Strom- und Wasserversorgern. Da der eigene Ehrgeiz der Bundesregierung zur Regulierung von Monopolen (wie bei ihren Vorgängerinnen) wenig entwickelt ist, bleibt dieses Feld der EU-Wettbewerbskommission überlassen – einer derzeit extrem ideologisch besetzten Institution, die den starken Kontrahenten ausweicht. Stattdessen hat sie wirtschaftliche Aktivitäten deutscher Kommunen zu ihrem Hauptproblem erklärt und möchte deren Möglichkeiten, einzelne Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern gegen soziale Ausschlusstendenzen zu schützen, weiter einschränken.

 

Mit den Ereignissen in Schleswig-Holstein ist eine Arbeitsteilung endgültig Vergangenheit, in der die SPD für soziale und sonstige Sicherheit zuständig war, während die Grünen die »neuen« Mittelschichtsthemen bearbeiteten. Wenn sie nicht als Risikofaktor für ihre politischen Partner marginalisiert werden wollen, müssen sie künftig als linksliberale und ökologische politische Kraft selbst die gesellschaftlichen Mehrheiten ansprechen. Es ginge um ein neues Bündnis jener Schichten, denen die neue Ordnung eine aktive und produktive Rolle ermöglicht, mit den anderen, den von Exklusion bedrohten Mitgliedern der Gesellschaft. Das ist kein einfacher Weg.

Politik kann Arbeitsplätze nur sehr begrenzt schaffen, und sie kann nicht garantieren, dass der Arbeitslohn über der Armutsgrenze liegt. Die Träume von der Wiederholung des industriegesellschaftlichen Beschäftigungswunders der Fünfzigerjahre werden für die überwältigende Mehrheit der Betroffenen, auch wenn sie von höchster Stelle verkündet werden, Träume bleiben.

Jenseits der Arbeitsmarktpolitik wird deshalb der Umgang mit Armut wichtiger. Wie häufig in der Geschichte sozialer Bewegungen tauchen Fragen wieder auf, die für die Grünen »zu früh« gekommen sind. Die Diskussion um das »Ende der Arbeitsgesellschaft« hat zusammen mit der Forderung nach einer garantierten Grundrente grüne Programmdebatten der frühen Achtzigerjahre geprägt. Ein Leben ohne bezahlte Berufsarbeit sollte ohne Diskriminierung anerkannt und alimentiert werden. Was damals, in Zeiten des »tunix«-Kongresses, halb ernsthaft in die Diskussion geworfen wurde (»direkter Übergang vom Studium in die Rente«), kann heute bittere Realität werden. Das Tabu allerdings, das damals spielerisch gebrochen wurde, hat sich seither eher verhärtet. Angesichts wachsender Kinderarmut ist es schwierig, über Lebensgenuss mit wenig Ressourcen zu philosophieren.

Gerade deshalb erwarten die WählerInnen und Mitglieder Orientierung. Die Grünen zählen bekanntlich zu den eher Bessergestellten. Doch auch für viele von ihnen wird das Sicherheitsnetz dünner, das sie vor dem Absturz in die wachsenden »schwarzen Löcher des informationellen Kapitalismus“ bewahrt – »...in eine stigmatisierte Unterwelt abgewerteter Arbeitskraft und sozial untauglich gewordener Menschen« (Castells). Manche werden durch private Vermögen noch geschützt, andere pendeln zwischen den Welten.

Auch die anderen politischen Kräfte formulieren die Alternative »Polarisierung oder Zusammenhalt der Gesellschaft« zusehends schärfer. Es gibt im politischen Wettbewerb und den Kampagnenstrategien der neuen Medienwelt keine Schön-Wetter-Zonen mehr. Gerade weil das Aufkommen der Grünen als politische Kraft samt ihren Themen in enger Beziehung zur Durchsetzung der neuen Gesellschaftsform stand, werden sie sich künftig mehr als bisher mit der Rückseite dieser neuen Welt zu befassen haben.

Ansatzpunkte gibt es genug. Eine gerechte Versorgung mit öffentlichen Gütern (vom Park bis zur Sicherheit), eine Bildungs- und Kulturpolitik, die die eigene Beteiligung und die Zugangsmöglichkeiten von »bildungsfernen« Schichten und der Immigrantenbevölkerung verbessert, möglichst kostenlose, qualitätsvolle Verbraucherinformation, zugängliche und qualitätsvolle öffentliche Infrastrukturen. Wer soziale Sicherheit stärken will, muss sich klarer gegen die immer weiter gehende Einschänkung des Gemeinwesens und seiner institutionellen Möglichkeiten wenden.

An politischen Mehrheiten, die einen solchen Kurs stützen könnten, fehlt es nicht. Und dass er im Interesse aller liegt, zeigt ein Blick über die Grenzen Europas. Lebensqualität hängt davon ab, dass niemand ganz ausgeschlossen wird.

 

1

Es gibt viele Begriffe, die die neue Wirtschafts- und Gesellschaftsform beschreiben sollen – »Hochkapitalismus« , »Postfordismus«, »Zweite Moderne«, »Globalisierung«, »Wissensgesellschaft« u. a. Ich stütze mich im Folgenden auf Manuel Castells: Das Informationszeitalter. 3 Bd., Opladen (Leske und Budrich) 2001.

2

Castells, a. a. O., Bd. I, S. 6.

3

Ob Landwirtschafts-, Verbraucher- oder Umweltpolitik mit Armut und Reichtum einer Gesellschaft etwas zu tun haben, wurde eher am Rande mitbedacht (Renate Künasts Thema »dicke Kinder« z. B. berührt eine derartige Schnittfläche), aber nicht systematisch weiter verfolgt.

4

Castells, a. a. O., Bd. III, S. 397.

5

Oder ein anderes Beispiel: Die Abschaffung der Sozialtickets im öffentlichen Verkehr in Berlin oder Hamburg. Während der Schutz des sozialen Zusammenhaltes immer deutlicher zu einem zentralen Thema der Gesellschaft wird, werden jene Teile der Bevölkerung, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, gezwungen, zu Fuß zu gehen (falls sie laufen können) oder schwarz zu fahren.

6

Wer dafür ökonomischer Kronzeugen bedarf, möge bei Nobelpreisträgern wie Josef Stiglitz nachlesen.

7

Ernst Ulrich von Weizsäcker, Mathias Finger, Oran Young (Hrsg.): Limits to Privatization. How to Avoid Too Much of a Good Thing, London 2005.

8

Der ebenso heroische wie brillante publizistische Kampf des MIT-Ökonomen Paul Krugman gegen die von der Bush-Regierung geplante Privatisierung des staatlichen Sozialversicherungssystems in den USA – in dessen New York Times-Kolumne zu bestaunen – könnte hier Anregung über Anregung liefern.

 

 

Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe 2/05