Europäische Identität als Bollwerk gegen die Türkei?
Braucht Europa ein aus langer gemeinsamer Geschichte und Kultur resultierendes »Wir- Gefühl«, um sich als politische Union zu verwirklichen, wie der Hannah-Arendt- Preisträger konstatiert? Um dann die postulierte Identität als Hinderungsgrund für einen EU-Beitritt der Türkei einzusetzen, da ein solcher die EU zur bloßen Wirtschaftsgemeinschaft degradieren würde? Unser Autor pocht dagegen auf den Verfassungsvertrag, auf dem sich sehr unterschiedliche Länder treffen können.
In der letzten Ausgabe der Kommune
wurden die Reden und Diskussionsbeiträge zur Verleihung des
Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken 2004 an Ernst-Wolfgang Böckenförde
dokumentiert. Böckenförde plädierte in seinem Festvortrag »Europa und die
Türkei. Die europäische Union am Scheideweg« gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
mit der Türkei. Die Überraschung des Vortrags waren nicht die überall kontrovers
diskutierten Argumente, die Türkei sei »zu groß, zu arm und zu anders«; überraschend
waren der politische Ort der Rede und die Reaktionen im Umfeld; überraschend
war die behauptete grundsätzliche Unvereinbarkeit der Türkei mit der vage vorausgesetzten
Bestimmung der EU, eine »politische Union« zu werden. Darauf will ich
zurückzukommen: Denn auf Fehleinschätzungen und Illusionen folgen schnell Enttäuschung
und Ablehnung. Dafür aber gibt es nach meiner Überzeugung gegenwärtig gegenüber
den Grundzügen der realen europäischen Integrationspolitik keinen Grund. Im
Gegenteil.
Der Europäische Rat hat im
vergangenen Dezember die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
beschlossen, ergebnisoffen und mit der Option, sie bei Rückschlägen zu
unterbrechen oder abzubrechen; entschieden wird am Ende der Verhandlungen. In
den nächsten Jahren werden wir unser Urteil an der konkreten türkischen Politik
und der Entwicklung der türkischen Gesellschaft bilden können, denn nun handelt
die Türkei unter der aufmerksamen Beobachtung europäischer Öffentlichkeit; das
hat in diesen Tagen schon begonnen. Wer offen ist für einen möglichen Beitritt
der Türkei, ist besonders in der Pflicht, sich nicht mit Papier zufrieden zu
geben, wenn es um Menschenrechte geht, um die Rechte von Frauen und
Minderheiten. Dass Konservative aus anderen Gründen jetzt besonders genau
hinsehen wollen, sollten wir als Unterstützung nehmen – und gleichzeitig auf
fairem Urteil bestehen. Zunehmend werden sich die Großargumente »zu arm« und
»zu groß« und ihre Gegenargumente bewähren müssen in der Analyse und
Beurteilung der realen Entwicklung der Türkei – und der EU selbst. Um sie soll
es daher hier nicht mehr gehen.
Sondern um die Kernthesen
Böckenfördes: Die Europäische Union (bzw. ihre Vorläufer) war und ist auf einem
fortschreitenden Weg von einer »Wirtschaftsgemeinschaft« mit Freihandelszone
hin zu einer »politischen Union«. Die »Gemeinschaft« einer »politischen Union«
erfordert die Existenz eines »Wir-Gefühls«, das nur aus langer gemeinsamer
Geschichte, Mentalität, Kultur erwächst. Diese Gemeinsamkeit (mit Europa) fehlt
der Türkei, deshalb kann die Türkei nicht Mitglied in einer »politischen Union«
sein. Würde sie doch beitreten dürfen, käme es zu einem Rückschritt zu einer
bloßen Freihandelszone. An diesem Scheideweg steht Europa.
Böckenförde beginnt
damit, dass der Frage nicht mehr aus
dem Weg gegangen werden dürfe: »Was ist das eigentliche Ziel, auf das hin die
EU konzipiert ist und sich entwickeln soll?« (X) Aus dem Wirrwarr vielfältiger,
teilweise widerstrebender Interessen und Gründe als den Triebkräften
europäischer Integration (Stichworte: Friedensordnung, Eingrenzung des Nationalismus;
liberale Marktordnung, Wettbewerb und Wohlstand; Binnenmarkt mit Offenheit zum
Welthandel; Wirtschafts- und Sozialraum, auf Ausgleich der Lebensverhältnisse
gerichtet; Konkurrent im globalen Wettbewerb; außenpolitischer Akteur)
abstrahiert Böckenförde drei Integrationsstufen: Wirtschaftsgemeinschaft mit
Freihandelszone, sicherheitsstrategische Aktionsgemeinschaft und politische
Union; die Reihe meint auch eine historische Richtung zum Höheren. Ihre qualitative
Differenz ist wichtig, weil entscheidendes Argument für die Beitrittsfrage:
»Eine politische Union bedarf anderer Grundlagen und Gemeinsamkeiten, einer
anderen Art von Zusammengehörigkeit und Solidarität als eine Freihandels- und
Wirtschaftsgemeinschaft oder eine sicherheitsstrategische Aktionsgemeinschaft.«
(X–XI)
Nun wird niemand übersehen,
dass in den vergangenen 50 Jahren der Umfang der vergemeinschafteten Politiken
und vor allem die Zahl der politischen Fragen, in denen heute die EU
mitgestaltet oder mitredet, erheblich zugenommen haben. Richtig ist auch, dass
wohl die Grundarchitektur der europäischen Integration stabil geblieben ist,
dass neben der tragenden Säule (Mitgliedsstaaten) die zweite Säule, die Union
der Bürgerinnen und Bürger, »nachgebaut« worden ist, vor allem durch Stärkung
des Parlaments. Begriffliche Unterscheidungen sind legitim. Aber dennoch ist
die Vorstellung einer Entwicklung von der »Wirtschaftsgemeinschaft« zur
»politischen Union« irreführend – vor allem, wenn sie so weitreichende
Schlussfolgerungen tragen soll.
Schon die Montanunion und
erst recht die Römischen Verträge waren politische Entscheidungen, deren Kern
der Verzicht auf alleinige nationale Souveränität über die Schwerindustrie und
dann die Landwirtschaft durch die Schaffung gemeinsamer politischer
Organe war. Und auch in der Folge waren die großen Weichenstellungen auf dem
Weg zur »immer engeren Einheit der Völker Europas« (so 1958) politische Entscheidungen
unter dem Druck internationaler Konstellationen und nationaler Interessen. Die
Initiative zur Montanunion folgte auf den Korea-Krieg, um den Wiederaufstieg
Deutschlands durch Einbindung in einen westeuropäischen Block in Schach zu
halten; der Euro (als erneute Einbindung Deutschlands) auf den Fall des
Eisernen Vorhangs; der Versuch einer gemeinsamen Außenpolitik auf den Zerfall
des Balkans und auf den 11. September 2001.
Eine andere Probe: Die
Politiken der EU auf den Feldern des Verbraucher- und des Gesundheitsschutzes,
des Naturschutzes, der Gleichstellung, der sozialen Schutzrechte, der
Forschung, die ersten Schritte im Zivilrecht: Sollen wir das einer
fortgeschrittenen, immer tieferen »politischen Union« zurechnen? Oder einer
sich in ihrer eigenen Logik fortentwickelnden »Wirtschaftsgemeinschaft«, die
begriffen hat, dass aus der zunehmenden transnationalen wirtschaftlichen
Verflechtung und gesellschaftlichen Vernetzung die Notwendigkeit gemeinsamer
Regelungen wächst – über die unmittelbare Produktion und Distribution hinaus?
Noch ein Versuch: Der
Prozess der in der gesellschaftlichen Verflechtung fundierten engeren
Zusammenarbeit der Völker Europas ist jetzt politisch im »Vertrag über eine Verfassung
für Europa« zusammengefasst worden. Ist dieser Vertrag die Verfassung einer
»politischen Union«, einer »Wirtschaftsgemeinschaft« oder einer »strategischen
Aktionsgemeinschaft«? Oder einer »Sozialunion«, »Umweltunion«, »Rechtsunion«?
Die Frage ist falsch gestellt. Es ist die Verfassung einer »Union« – wie es im
Text immer heißt –, eines Zusammenschlusses eigener Art, eines Verbundes von
Staaten, die durch begrenzte und differenzierte Übertragung ihrer Souveränität
an supranationale Institutionen wirtschaftliche, soziale, ökologische,
politische, kulturelle und strategische Ziele gemeinsam verfolgen wollen. So
sehr sich Schwerpunkte verlagert haben: Diese Ziele waren immer unlösbar
miteinander verflochten.
Es macht keinen Sinn, die
Institutionen und die Politiken der
EU und die zu Grunde liegenden Interessen der Bürgerinnen und Bürger und der
Mitgliedsstaaten so idealtypisch »entflechten« zu wollen und dann zu fordern:
Entscheidet endlich und endgültig, welches davon das »eigentliche Ziel« sein
soll. Im Gegenteil: Gerade der Verzicht, sich über die unbestimmte, aber
wirkungsmächtige »Idee Europa« hinaus auf eine »Finalität« festzulegen, war und
ist ein Geheimnis für die Fähigkeit der europäischen Bewegung, in sehr
unterschiedlichen Situationen attraktiv zu bleiben für Staaten sehr unterschiedlicher
Traditionen und Interessen – sie können in die Gemeinsamkeit europäischer
Institutionen eintreten, ohne Traditionen und Interessen einfach aufzugeben.
Aber sie treten für ihre Interessen und Ziele dann in diesem Rahmen ein. Wer
den Versuch macht, die EU auf eine »Finalität« festzulegen, würde diese
widersprüchliche, aber gerade deshalb so dynamische und überlebensfähige
politische Bewegungsform der EU zerstören. Final bekäme womöglich eine ganz
andere Bedeutung.
Allerdings, eigenartig: Obwohl
die besondere »politische Union« in der Argumentation von Böckenförde das hohe
Gut ist, das durch einen Beitritt der Türkei zerstört würde, bleibt dunkel, was
mit ihr gemeint ist. Es gibt eine Andeutung, dass mit der Annahme der Verfassung
die »politische Union« nicht erreicht ist. Ist sie etwa das alte politische
Ziel der Föderalisten, die »Vereinigten Staaten von Europa« als Bundesstaat,
mit »richtigem« Parlament und seinen Rechten, eine Regierung zu wählen, Steuern
zu erheben, über Krieg und Frieden zu entscheiden? Man kann so spekulieren,
aber die bisherigen Äußerungen von Böckenförde und seinen Verteidigern geben so
gar keinen Hinweis darauf. Es soll wohl im Ungefähren bleiben. Allerdings: Dass
die EU eine solche politische Union als Bundesstaat werden könnte, das kann man
gerade nach der Verfassungsdiskussion getrost auf absehbare Zeit ausschließen.
Aber nehmen wir die
gegenwärtige EU mit ratifizierter Verfassung: Warum sollte ein Beitritt der
Türkei diese Union nicht nur verändern (wie der Beitritt Großbritanniens etwa
sie verändert hat), sondern so grundsätzlich aus der Bahn werfen, dass sie sich
»zurückentwickeln« würde? Immerhin hat die Türkei diese Verfassung bereits mit
ausgearbeitet; sie würde sie bei einem Beitritt auch ratifizieren und sich an
sie binden. Hier sind doch die »gemeinsamen Auffassungen und Zielvorstellungen«
festgehalten, die Böckenförde anmahnt.
Aber, sagt Böckenförde, das
genügt nicht, und mit der Türkei gibt es ein grundsätzliches Problem.
»Geschichtlich-kulturell sind Europa und die Türkei nicht nur am Rande, sondern
grundlegend verschieden.« (XIII) Das Problem liegt nicht in der Religion, wohl
aber in der von unterschiedlichen Religionen geprägten »Kultur und Mentalität
in Europa und der Türkei. Hier und dort haben sich unterschiedliche
Grundeinstellungen, Denkmuster, Traditionen und Lebensformen herausgebildet.
Sie haben ... eine je eigene kulturelle Identität geformt, die sich auch in den
Charakteren der Völker niederschlägt.« (XIII) Die Differenz der kulturellen
Identitäten ist zu groß, als dass die Türkei in die EU gehöre. Denn, wie er
zustimmend zitiert: »Völlig Fremdes lässt sich nicht verbinden.« (XV) Die
Anerkennung der Menschenrechte, des Rechts und der Institutionen, also der
Verfassung, reiche nicht aus für die Mitgliedschaft in einer »politischen
Union«. In ihr ist eine »Gemeinsamkeit und Solidarität«, ein »sense of
belonging«, ein »Wir-Gefühl« notwendig. Dies aber kann es wegen der großen
Differenz mit der Türkei und ihrer tiefen historischen Wurzeln in absehbarer Zeit
nicht geben.
Winfried Thaa versucht in
seiner Verteidigung Böckenfördes
dessen klare und eindeutige Aussage über die (zu) tiefe kulturelle Differenz zu
verwischen; er argumentiert damit, dass politische Teilhabe an partikulare
Gemeinschaften gebunden sei. Ihre Erweiterung durch Assoziationen sei zwar
möglich, aber »als Assoziationen der Bürger lassen sie sich ... nicht beliebig
konstruieren, sondern setzen Gemeinsamkeiten, insbesondere den gemeinsamen
Willen der Bürger zum politischen Zusammenschluss und zur Gestaltung einer
gemeinsamen Zukunft voraus.« (XXX) An dem gemeinsamen Willen gibt es wohl nach
50 Jahren keinen Zweifel, und für die Türkei wird die Entscheidung noch
getroffen werden. Natürlich, sagt Thaa, gilt mit Hannah Arendt, dass demokratische
Politik auf Differenz baue und nicht auf Homogenität. Aber die »Summe der Differenzen
und die Größe des Landes« machen es im Fall der Türkei schwer, »die erforderliche
Solidaritätsbereitschaft der Bürger sicherzustellen«, also das »Wir-Gefühl« ins
Praktische gewendet. (XXXI) Also Differenz ja, aber nicht zu groß? Wer bestimmt
diese Grenze, die enger gezogen wird als die Anerkennung einer gemeinsamen
Verfassung?
Ich möchte dagegen einen
eher nüchternen Blick auf »Solidaritätsbereitschaft« und »Wir-Gefühl« werfen,
das für das nebelhafte höhere Wesen »politische Union« notwendig sein soll (und
die Türkei dauerhaft ausschließt): Die »partikulare Gemeinschaft« der Mitgliedsstaaten
verschwindet in der EU ja keineswegs; die Staaten bleiben die Basis, und etwas
anderes ist wie gesagt auch nirgendwo in Sicht. Die politischen Organe der
Europäischen Union machen keinen Staat. Auch wenn der Fehler immer wieder gemacht
wird: Es macht keinen Sinn, auf die EU die Kategorien, Erwartungen, Identitätsfantasien
und -quälereien des Nationalstaates zu übertragen.
Beispiel Geld und
Solidarität: Gerade ein Prozent des BIP gehen durch den EU-Haushalt, während
knapp 50 Prozent des BIP jeweils durch den Staatshaushalt und durch die
staatsregulierten sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedsstaaten gehen. Das
heißt: Die Solidarität, die für Umverteilung gefordert sein könnte, ist auf der
Ebene der EU doch sehr überschaubar gegenüber dem, was auf der Ebene des Nationalstaats
geschieht und auch in Zukunft geschehen wird.
Wie ist es mit dem
hypostasierten »Wir-Gefühl«, wenn man es an der Realität der EU misst?
Welches »Wir-Gefühl«
brauchen wir, um zu akzeptieren, dass von einem offenen Markt alle profitieren
sollen und daher Subventionen für wenige und Hindernisse für andere nicht
akzeptabel sind?
Welches »Wir-Gefühl«
brauchen wir, um eine gemeinsame Außenpolitik zu vereinbaren, die in ihren
Anforderungen weit hinter den Verpflichtungen zurückbleibt, die durch die NATO
eingegangen wurden und auch die Türkei mit einschlossen? Ist in 50 Jahren NATO
irgendwann nach einem solchen emphatischen »Wir-Gefühl« gerufen worden?
Welches »Wir-Gefühl«
brauchen wir, um angesichts der zunehmenden Ausbildungs- und Arbeitsmobilität
Schul- und Hochschulabschlüsse gegenseitig anzuerkennen?
Welches »Wir-Gefühl« brauchen
wir, um zu verstehen, dass Europa ein Naturraum ohne Grenzen ist, und zu
akzeptieren, dass die EU Natur- und Umweltschutz daher transnational gestalten
muss?
Welches »Wir-Gefühl«
brauchen wir, um Grundlagen eines gemeinsamen Zivilrechtes zu entwickeln, das
Schadensersatzforderungen in einer verflochtenen Ökonomie ordnet oder Eltern-
und Kinderrechte bei grenzüberschreitenden Eheschließungen regelt?
Welches »Wir-Gefühl«
brauchen wir, um die europäische Agrarpolitik weiterzuentwickeln, bei der es auch
um Umverteilung zwischen Staaten geht, vor allem aber um Umverteilung zwischen
Produzentengruppen (und zwischen der EU und dem Rest der Welt)?
Für welche Politiken der EU,
und zwar der real existierenden EU, brauchen wir eigentlich dieses
überschießende und emphatische »Wir-Gefühl«, das dann, leider, leider, die
Türkei partout nicht einschließen kann? Bei nüchterner Betrachtung kann ich es
nicht entdecken. Ich setze mich damit gerne dem Vorwurf einer pragmatischen,
technokratischen und unpolitischen Sichtweise usw. aus. Einige werden sagen,
das ist gerade das Problem der EU; ich glaube, ihre Nüchternheit ist gerade ein
Grund für ihren Erfolg. Auf einen Verfassungsvertrag können sich
die BürgerInnen von 25, 30 Staaten einigen, auf eine »Identität«
niemals. Der Versuch würde schon trennen und nicht vereinen.
Abschließend zur
stehenden Redewendung vom
Widerspruch zwischen »Erweiterung und Vertiefung« der EU. Natürlich kommt es in
bestimmten Situationen beim Beitritt neuer Mitgliedsstaaten zu Fraktionen und Spannungen;
Änderungen in den politischen Entscheidungsprozessen haben dem immer wieder
Rechnung getragen. Aber gesetzmäßig ist ein solcher Widerspruch überhaupt
nicht. Die EWG/EG der 6 hat keineswegs immer leichter gemeinsame Politik machen
können (unter anderem weil sich darin die Frage der »Führung« viel sensibler
stellte; Beispiel das zweifache Veto Frankreichs gegen den britischen
Beitritt). Wesentliche Entscheidungsschübe der Integration waren zeitlich und
ursächlich verbunden mit Erweiterungsrunden: Zum Beispiel die Kohäsionspolitik
mit der Süderweiterung, der Euro mit der Osterweiterung – weil es immer auch um
Ausbalancierung neuer Interessenkonstellationen ging, die durch Vertiefung der
Einbindung gelöst wurden. Und die EU der 25 hat schon in sehr kurzer Zeit die
Verfassung unterzeichnet und einen einstimmigen Beschluss in der umstrittenen
Türkeifrage gefasst. Die Gleichung: Kleiner gleich entscheidungsfreudig, größer
gleich entscheidungsunfähig geht hier wie im richtigen Leben nicht auf.
Europa braucht Verfassung
und nicht »Identität«, Pragmatismus und nicht Projektionen. Der Rahmen für
weitere Beitritte zur Europäischen Union ist im Verfassungsentwurf richtig
gezogen: »Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die die in Art I-2
genannten Werte achten und sich verpflichten, ihnen gemeinsam Geltung zu
verschaffen.« (Art. I-58) Aber in diesem Rahmen bleibt jede einzelne
Entscheidung eine politische Entscheidung auf der Grundlage von Fakten,
Urteilen, Interessen und strategischen Überlegungen. Beide »Seiten« müssen dazu
beitragen.
Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe 2/05