Wie transatlantisch ist die Zukunft Europas?
Trotz USA – die Verantwortung Europas muss weiter wachsen
Für unseren Autor gibt es objektive Gründe, warum das transatlantische Verhältnis an Bindekraft verliert. Die USA sieht er ebenso in einem demografischen und Interessen-Wandel begriffen wie Europa selbst. Er plädiert für ein größeres europäisches Selbstbewusstein und das forcierte Engagement bei der Ausgestaltung der transnationalen und multilateralen Entwicklungen in der Welt. Um einem Konfrontationskurs gegen die USA handele es sich dabei nicht.
Ein Gespenst scheint umzugehen im neokonservativen Amerika: das
Gespenst Europa. Das ungezogene Kind mäkelt zuviel und will sich wahrlich
aufspielen wie ein Erwachsener. Dem spanischen Premier José Zapatero, der in einem
Spiegel-Interview fallen ließ, Europa müsse daran glauben, dass es in
zwanzig Jahren die wichtigste Weltmacht sein kann, wurde auf einer Website der
Neocons sogar die Meinung in den Mund gelegt, Europa brauche keine »stinkenden Amerikaner«.
Dabei hatte Zapatero sich doch nur des uramerikanischen »positive thinking«
schuldig gemacht. Warum also dieser Aufstand und wie sieht die Zukunft Europas
aus angesichts der zweiten Regierungsperiode für George W. Bush? Muss Europa
die Achseln zucken und zum »business as usual« übergehen, denn letztendlich ist
ja auch die Bush-Administration ein – wenn auch lästiger – Partner, oder ist es
an der Zeit, allen Mut zusammenzunehmen, um einen selbstständigen Standpunkt zu
bestimmen, die eigenen Interessen klar zu formulieren und die Instrumente zu
entwickeln, diese auch vertreten zu können?
Dass der Brite Timothy Garton Ash, der die Europäer einteilt in
»Eurogaullisten« und »Euroatlantiker«, vor allem in den Vereinigten Staaten
(und etwas weniger im Vereinigten Königreich) auf große Zustimmung stößt, ist
kein Wunder: »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns« ist ja das alttestamentarische
Prinzip des George W. Bush. Die Wahrheit ist – wie meistens – komplexer. Was
irritiert eigentlich die amerikanischen (und auch bestimmte europäische)
Kritiker so an einem europäischen Selbstverständnis, das sich nicht länger wie
selbstverständlich nur an den transatlantischen Beziehungen festmacht? Warum
ist das so »schädlich«, »eigensinnig«, beziehungsweise »arrogant« oder dann
auch wieder »lächerlich«, wie man es immer wieder lesen kann?
Eigentlich sollte es doch auch im amerikanischen Interesse sein,
dass Europa ein Selbstbewusstsein entwickelt und ein selbstständiger Akteur auf
der Weltbühne wird. Von einer US-Regierung jedoch, die sich als Akteur der Geschichte
versteht und allen anderen nur die Rolle der Zuschauer zugesteht (so ein
Bush-Berater in einem Interview in der New York Times), sind Aussagen
wie die Zapateros natürlich beinahe eine Kriegserklärung, auf die man je
nachdem entweder mit Spott oder mit Verärgerung reagiert.
Schon als im Habermas-Derrida-Manifest »Die Wiedergeburt Europas«
(FAZ, 31.5.03), als Reaktion auf den »Brief der Acht«, eine neue
europäische Außenpolitik gefordert wurde, »um den hegemonialen Unilateralismus
der Vereinigten Staaten auszubalancieren«, war die Empörung in bestimmten
Kreisen groß. Zwar ist man sich im Allgemeinen darüber einig, dass eine neue
europäische Außenpolitik nötig ist, aber unter der Voraussetzung, dass Europa
sich nur als transatlantisch definiert. Aber sind die Vereinigten Staaten an
einer transatlantischen Zukunft überhaupt interessiert?
Europa hat im letzten Jahr Mut zum Risiko und Ehrgeiz bewiesen:
Mit der Erweiterung der Union auf 25 Mitgliedsländer, der Verabschiedung der
ersten europäischen Verfassung und der Bereitschaft zur Aufnahme der Beitrittsverhandlungen
mit der Türkei sind historische und geopolitisch signifikante Schritte auf dem
Weg in die Zukunft gesetzt. Auch die klare Stellungnahme gegenüber Putin in
Sachen Ukraine zeigte Mut und Entschlossenheit. Dies heißt natürlich nicht,
dass dieser Weg ein Zuckerschlecken wird. Nimmt man dann noch die
wirtschaftlichen und demografischen Schwierigkeiten hinzu, vor denen Europa
steht, sowie die wachsenden Probleme, die aus der unzureichenden Integration
von MigrantInnen aus Drittländern in die europäische Gesellschaft entstanden
sind, dann liegt die Frage auf der Hand, wie dieses Europa, das vor so
schwierigen internen Aufgaben steht, ein ernst zu nehmender globaler Akteur
werden will. Ist es da nicht schon besser, weiterhin an der Hand der USA zu
laufen und nicht allzu laut aufzumucken, wenn einem etwas nicht passt?
Von amerikanischen und anderen Kritikern größerer
europäischer Selbstständigkeit wird beinahe ausschließlich militärisch
argumentiert: Die EU kann sich mit den USA militärisch nicht messen. Die
Mitgliedsstaaten müssen folglich die Militärkompetenzen ausbauen und besser und
effizienter zusammenarbeiten. Dies ist zwar richtig, dennoch ist es
offensichtlich, dass sich Europa vom rein militärischen Standpunkt sicher
kurzfristig nicht mit den USA messen kann. Vergessen wird allerdings von
denselben Kritikern, dass die Stärke der EU im Zivilbereich bei Prävention und
Nation-Building liegt und dass dieser Beitrag im Rahmen von globaler Sicherheit
mindestens ebenso wichtig ist wie der militärische Faktor.
Die EU hat auch gezeigt, dass sie lernfähig ist und es verstanden
hat, sich eine Rolle in internationalen Organisationen und Institutionen zu
kreieren, in denen sie lange keine hatte (UN, NATO). Bei aller Kritik sollten
wir auch nicht vergessen, dass es erst seit 1999 eine gemeinsame Sicherheits-
und Verteidigungspolitik in Europa gibt, die unter anderem zur Operation
Artemis in Bunia im Sommer 2003 und im Dezember 2004 zur Operation Althea in
Bosnien führte.
Natürlich kann man einwenden, dass ein Europa, das in der
Irakkrise nicht vereint, sondern nach dem Motto: »vorwärts in alle Richtungen«
operierte, nicht gerade außen- und sicherheitspolitische Erwachsenheit demonstriert.
Die Verabschiedung der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) im Dezember 2003
war jedoch ein deutliches Zeichen dafür, dass die Mitgliedsstaaten der EU
bereit sind, sich den neuen Sicherheitsanforderungen gemeinsam zu stellen und
darüber weiterzudenken, wo die Möglichkeiten und Grenzen des Projekts Europa
auf außen- und sicherheitspolitischem Gebiet liegen. Dazu kommt, dass die neue
europäische Verfassung die Funktion eines europäischen Außenministers und die
Gründung eines europäischen diplomatischen Corps vorsieht. Damit sind wichtige
und notwendige Voraussetzungen geschaffen, um die EU mit einer Stimme sprechen
zu lassen, langfristig gesehen auch im UN-Sicherheitsrat. (Ein deutsches
Festhalten an einem permanenten Sitz im Sicherheitsrat zeugt dann auch von einem
kurzfristigen Denken.) In der ESS wird zwar auf die Notwendigkeit der Fortsetzung
guter transatlantischer Beziehungen beharrt, aber es wird deutlich gemacht,
dass Europa sich klar entscheidet für einen »effektiven Multilateralismus«. Mit
anderen Worten: gute Beziehungen zu den USA, ja, aber nicht ohne den Rahmen der
multilateralen Institutionen, die der heutigen US-Regierung so oft ein Dorn im
Auge sind.
Heißt das, dass die USA und Europa weiter auseinander driften
werden oder kann davon auf Grund unserer viel beschworenen Wertegemeinschaft
keine Rede sein? Sowohl die Europäische Union als auch die Vereinigten Staaten
bekennen sich zu Demokratie, freier Marktwirtschaft und dem Respekt der
Menschenrechte und dazu, dass das in Zukunft auch so bleiben wird. Dennoch
müssen wir feststellen, dass Entwicklungen stattfinden, die Risse im Gewölbe
dieser transatlantischen Wertegemeinschaft verursachen. Die Menschen- und
Bürgerrechte stehen nach dem 11. September in den Vereinigten Staaten schwer
unter Druck. Während man in Europa die Diskussion führt, wie individuelle
Freiheit und Sicherheit vor Terrorismus miteinander in Einklang gebracht werden
können, scheint diese Diskussion in den Vereinigten Staaten sich nur in der
Marge abzuspielen: Der Durchschnittsbürger hat nicht das Gefühl, dass seine
Rechte beschnitten werden, ebenso wenig wie es ihn interessiert, wie Gefangene
in Guantanamo behandelt werden. Auch die Vorfälle im Abu-Ghraib-Gefängnis haben
die Durchschnittsamerikaner anscheinend nicht genug erschüttern können, um
einer Regierung das Vertrauen zu entziehen, die für diese
Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist.
Es ist zu befürchten, dass der Abbau von Bürger- und
Menschenrechten unter Bush II noch weiter betrieben wird mit Zustimmung einer
Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung, die ihre moralischen Ansprüche –
ebenso wie die Bush-Regierung – auf die Bibel zurückführt. Auch hier liegt ein
wesentlicher Unterschied zu Europa. Eine Umfrage des Pew Institutes aus dem
Jahre 2002 zeigt, dass 59 Prozent der US-Amerikaner Religion in ihrem Leben für
»sehr wichtig« halten. Im säkularisierten Europa finden das sogar im
katholischen Polen nur 36 Prozent, im ebenfalls katholischen Italien 27 Prozent,
in Deutschland 21 Prozent und in Frankreich und Tschechien 11 Prozent. In
vielen US-Staaten tobt ein Rechtsstreit, ob in Schulen die Evolutionstheorie
gelehrt werden darf (in 13 Staaten steht sie nicht im High-School-Lehrplan).
Undenkbar, auch im katholischsten oder protestantischsten Teil Europas, neu
oder alt.
Wie viel Gemeinsames gibt es da also noch über den Atlantik hinweg?
Natürlich glaubt noch immer ein großer Teil der amerikanischen Bevölkerung an
Demokratie und Bürgerrechte und fundiert seine Lebensweise nicht direkt auf die
Bibel, nur ist es eben nicht dieser Teil, der in den nächsten vier Jahren die
Politik der USA bestimmt. Zu befürchten ist, dass die Kluft nicht nur zwischen
den USA und Europa, sondern auch zwischen den »beiden Amerikas« in den nächsten
vier Jahren größer werden wird, die Kommunikation schwieriger. Eher als mit den
Wölfen der Regierung Bush II zu heulen, sollten die Europäer sich schon
überlegen, wie sie mit den Kräften in den USA im Dialog bleiben können, denen
daran liegt, dass demokratische und Bürgerrechte erhalten bleiben und auch als
Grundlage der Außenpolitik betrachtet werden.
Die transatlantische Gemeinsamkeit wird auch unter Druck kommen
auf Grund von ethnischen Veränderungen auf beiden Seiten des Atlantiks. Beim
letzten Zensus in den USA im Jahr 2000 rechneten sich nur noch 69 Prozent der
amerikanischen Bevölkerung von etwa 281,5 Millionen zu den Weißen mit
europäischen Wurzeln. Die Hispanics überflügelten zum ersten Mal mit 12,6
Prozent die Afroamerikaner (12,3 %). Geht man weiterhin von einer zunehmenden
asiatischen Immigration (China, Indien) aus, werden ab Mitte des 21.
Jahrhunderts die Amerikaner mit europäischem Ursprung wahrscheinlich in der
Minderheit sein. Dies ist jetzt schon der Fall in Kalifornien. Wird das die
Beziehungen zwischen den USA und Europa verändern? Alles andere wäre ein
Wunder.
Auch in Europa deuten sich ethnische Veränderungen an, die sein
politisches Gefüge in den nächsten Jahrzehnten grundlegend verändern können. In
den großen Städten (West-)Europas wird es in vielen Fällen eine muslimische
Mehrheit geben. Daraus ergeben sich für Europa innen- und außenpolitische
Konsequenzen, die wesentlich verschieden sind von denen der USA.
Heißt das, dass Europa die
USA nicht mehr braucht oder sogar auf Konfrontationskurs gehen muss? Das wäre
allerdings die verkehrte Schlussfolgerung. Europa muss sich jedoch bewusst
sein, dass es auch für die USA kein »ausschließlicher Partner« bleiben wird.
Die USA haben dies bereits mit ihrer Politik der »Koalition der Willigen«
demonstriert. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass diese Tendenz sich nicht
fortsetzen wird, darüber sollte auch die anfängliche Charme-Offensive der neuen
amerikanischen Regierung nicht hinwegtäuschen. Im Grunde zeigt diese nur, dass
die Kreise um George W. Bush begriffen haben, dass man – frei nach Al Capone –
zwar viel mit einem Gewehr erreichen kann, aber noch viel mehr mit einem Gewehr
und einem Lächeln. Und wenn es dann ganz kurz für Europa etwas zu lächeln
gegeben haben sollte, spätestens mit der Ernennung des alten Haudegens John
Bolton zum UN-Botschafter der amerikanischen Regierung dürfte selbst jedem
ausgemachten Optimisten dieses Lächeln gleich wieder vergangen sein.
Die Europäische Union muss so schnell wie möglich ihre eigenen
Interessen bestimmen und alles in die Wege leiten, um diese Interessen auch
vertreten zu können. Das ist kein Anti-Amerikanismus, keine Aufkündigung der
transatlantischen Partnerschaft und ganz bestimmt keine Kriegserklärung an die
Vereinigten Staaten. Es ist nichts weiter als pragmatische Notwendigkeit und Antizipieren
einer Zukunft, in der das Transatlantische zwangsweise an Wichtigkeit einbüßen
wird und regionale und internationale Organisationen an Wichtigkeit gewinnen
werden. Vielleicht muss man ja in Europa nicht unbedingt daran glauben, in
zwanzig Jahren die wichtigste Weltmacht zu sein. Es reicht ja schon, daran zu
glauben, eine wichtige Weltmacht zu sein und sich allen damit verbundenen
Aufgaben gewissenhaft zu stellen.
Dabei geht es allerdings nicht nur um militärische Schlagkraft,
sondern um die Fähigkeit, mit Vorausblick und Effizienz innen- und
außenpolitische Probleme zu bewältigen.
Die Stärke der Europäischen Union liegt bereits auf dem Gebiet
ziviler Kapazitäten und Kompetenzen, und es sind gerade diese Kompetenzen, die
sowohl präventiv als auch langfristig mindestens ebenso wichtig sind wie
militärische Schlagkraft. Auch ein gerechterer Welthandel ist für die Zielsetzung
von globalem Frieden und globaler Sicherheit von großer Wichtigkeit und Europa
könnte hier sehr ehrgeizig ansetzen, wie in der ESS bereits nahe gelegt wurde.
Schließlich geht es Europa auch um eine Strategie zur
Wiederaufwertung bzw. Reform der multilateralen Institutionen. Dazu hat die EU
sich in der ESS verpflichtet. Diese Verpflichtung »zum effektiven
Multilateralismus« kommt auch zum Ausdruck im Papier der Europäischen
Kommission »The European Union and the United Nations: the choice of
multilateralism« vom 10. September 2003, der Erklärung des Europäischen
Parlamentes zur Erweiterung der Zusammenarbeit zwischen der EU und der UN vom
16. Dezember 2003 und dem im April 2004 erschienenen EU-Bericht »The enlarging
EU at the UN: Making multilateralism matter«.
Die Formel »Europas Zukunft wird transatlantisch sein oder sie
wird nicht sein« ist zu einfach angesichts einer Weltsituation, in der die
Devise nur sein kann: »Die Zukunft wird multilateral sein oder sie wird nicht
sein«.(1)
Transatlantische
Beziehungen wird es so lange geben, wie das Bedürfnis an diesen Beziehungen von
beiden Seiten ausgedrückt wird. Ob diese Beziehungen auf die Dauer
»unersetzlich« sind, wie es im ESS geschrieben steht, bleibt abzuwarten und
hängt auch davon ab, ob die USA an einer »wirkungsvollen, ausgewogenen Partnerschaft«
(ESS) interessiert sind. Angesichts der Probleme und Konflikte in der aktuellen
und zu antizipierenden Weltsituation hat Europa die Pflicht, seine eigenen
Interessen und Strategien zu definieren und daran seine Instrumente
auszurichten. Nichts wäre erfreulicher, als wenn diese Interessen und
Strategien mit denen der USA weitgehend übereinstimmen würden oder längerfristig
mit denen einer neuen US-Regierung in vier Jahren wieder abgestimmt werden
könnten. Sollte das jedoch nicht möglich sein, ist es an der Zeit, dass Europa
von seiner eigenen Stärke ausgeht und eine verantwortungsvolle Rolle spielt in
einer globalisierten Welt, in der es keine Zeit und keinen Raum mehr gibt, sich
vor Verantwortlichkeit zu drücken.
1
Auch wenn und gerade wenn Washington einen Mann
zur UN abordnet, der 1994 noch meinte, dass es so etwas wie die Vereinten Nationen
ja gar nicht gäbe und dass es keinen Unterschied machen würde, wenn das
UN-Gebäude in New York zehn Stockwerke verlöre.
Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe 2/05