CLAUDE WEINBER

 

Wie transatlantisch ist die Zukunft Europas?

 

Trotz USA – die Verantwortung Europas muss weiter wachsen

 

 

Für unseren Autor gibt es objektive Gründe, warum das transatlantische Verhältnis an Bindekraft verliert. Die USA sieht er ebenso in einem demografischen und Interessen-Wandel begriffen wie Europa selbst. Er plädiert für ein größeres europäisches Selbstbewusstein und das forcierte Engagement bei der Ausgestaltung der transnationalen und multilateralen Entwicklungen in der Welt. Um einem Konfrontationskurs gegen die USA handele es sich dabei nicht.

 

Ein Gespenst scheint umzugehen im neokonservativen Amerika: das Gespenst Europa. Das ungezogene Kind mäkelt zuviel und will sich wahrlich aufspielen wie ein Erwachsener. Dem spanischen Premier José Zapatero, der in einem Spiegel-Interview fallen ließ, Europa müsse daran glauben, dass es in zwanzig Jahren die wichtigste Weltmacht sein kann, wurde auf einer Website der Neocons sogar die Meinung in den Mund gelegt, Europa brauche keine »stinkenden Amerikaner«. Dabei hatte Zapatero sich doch nur des uramerikanischen »positive thinking« schuldig gemacht. Warum also dieser Aufstand und wie sieht die Zukunft Europas aus angesichts der zweiten Regierungsperiode für George W. Bush? Muss Europa die Achseln zucken und zum »business as usual« übergehen, denn letztendlich ist ja auch die Bush-Administration ein – wenn auch lästiger – Partner, oder ist es an der Zeit, allen Mut zusammenzunehmen, um einen selbstständigen Standpunkt zu bestimmen, die eigenen Interessen klar zu formulieren und die Instrumente zu entwickeln, diese auch vertreten zu können?

Dass der Brite Timothy Garton Ash, der die Europäer einteilt in »Eurogaullisten« und »Euroatlantiker«, vor allem in den Vereinigten Staaten (und etwas weniger im Vereinigten Königreich) auf große Zustimmung stößt, ist kein Wunder: »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns« ist ja das alttestamentarische Prinzip des George W. Bush. Die Wahrheit ist – wie meistens – komplexer. Was irritiert eigentlich die amerikanischen (und auch bestimmte europäische) Kritiker so an einem europäischen Selbstverständnis, das sich nicht länger wie selbstverständlich nur an den transatlantischen Beziehungen festmacht? Warum ist das so »schädlich«, »eigensinnig«, beziehungsweise »arrogant« oder dann auch wieder »lächerlich«, wie man es immer wieder lesen kann?

Eigentlich sollte es doch auch im amerikanischen Interesse sein, dass Europa ein Selbstbewusstsein entwickelt und ein selbstständiger Akteur auf der Weltbühne wird. Von einer US-Regierung jedoch, die sich als Akteur der Geschichte versteht und allen anderen nur die Rolle der Zuschauer zugesteht (so ein Bush-Berater in einem Interview in der New York Times), sind Aussagen wie die Zapateros natürlich beinahe eine Kriegserklärung, auf die man je nachdem entweder mit Spott oder mit Verärgerung reagiert.

Schon als im Habermas-Derrida-Manifest »Die Wiedergeburt Europas« (FAZ, 31.5.03), als Reaktion auf den »Brief der Acht«, eine neue europäische Außenpolitik gefordert wurde, »um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren«, war die Empörung in bestimmten Kreisen groß. Zwar ist man sich im Allgemeinen darüber einig, dass eine neue europäische Außenpolitik nötig ist, aber unter der Voraussetzung, dass Europa sich nur als transatlantisch definiert. Aber sind die Vereinigten Staaten an einer transatlantischen Zukunft überhaupt interessiert?

Europa hat im letzten Jahr Mut zum Risiko und Ehrgeiz bewiesen: Mit der Erweiterung der Union auf 25 Mitgliedsländer, der Verabschiedung der ersten europäischen Verfassung und der Bereitschaft zur Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind historische und geopolitisch signifikante Schritte auf dem Weg in die Zukunft gesetzt. Auch die klare Stellungnahme gegenüber Putin in Sachen Ukraine zeigte Mut und Entschlossenheit. Dies heißt natürlich nicht, dass dieser Weg ein Zuckerschlecken wird. Nimmt man dann noch die wirtschaftlichen und demografischen Schwierigkeiten hinzu, vor denen Europa steht, sowie die wachsenden Probleme, die aus der unzureichenden Integration von MigrantInnen aus Drittländern in die europäische Gesellschaft entstanden sind, dann liegt die Frage auf der Hand, wie dieses Europa, das vor so schwierigen internen Aufgaben steht, ein ernst zu nehmender globaler Akteur werden will. Ist es da nicht schon besser, weiterhin an der Hand der USA zu laufen und nicht allzu laut aufzumucken, wenn einem etwas nicht passt?

 

Von amerikanischen und anderen Kritikern größerer europäischer Selbstständigkeit wird beinahe ausschließlich militärisch argumentiert: Die EU kann sich mit den USA militärisch nicht messen. Die Mitgliedsstaaten müssen folglich die Militärkompetenzen ausbauen und besser und effizienter zusammenarbeiten. Dies ist zwar richtig, dennoch ist es offensichtlich, dass sich Europa vom rein militärischen Standpunkt sicher kurzfristig nicht mit den USA messen kann. Vergessen wird allerdings von denselben Kritikern, dass die Stärke der EU im Zivilbereich bei Prävention und Nation-Building liegt und dass dieser Beitrag im Rahmen von globaler Sicherheit mindestens ebenso wichtig ist wie der militärische Faktor.

Die EU hat auch gezeigt, dass sie lernfähig ist und es verstanden hat, sich eine Rolle in internationalen Organisationen und Institutionen zu kreieren, in denen sie lange keine hatte (UN, NATO). Bei aller Kritik sollten wir auch nicht vergessen, dass es erst seit 1999 eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa gibt, die unter anderem zur Operation Artemis in Bunia im Sommer 2003 und im Dezember 2004 zur Operation Althea in Bosnien führte.

Natürlich kann man einwenden, dass ein Europa, das in der Irakkrise nicht vereint, sondern nach dem Motto: »vorwärts in alle Richtungen« operierte, nicht gerade außen- und sicherheitspolitische Erwachsenheit demonstriert. Die Verabschiedung der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) im Dezember 2003 war jedoch ein deutliches Zeichen dafür, dass die Mitgliedsstaaten der EU bereit sind, sich den neuen Sicherheitsanforderungen gemeinsam zu stellen und darüber weiterzudenken, wo die Möglichkeiten und Grenzen des Projekts Europa auf außen- und sicherheitspolitischem Gebiet liegen. Dazu kommt, dass die neue europäische Verfassung die Funktion eines europäischen Außenministers und die Gründung eines europäischen diplomatischen Corps vorsieht. Damit sind wichtige und notwendige Voraussetzungen geschaffen, um die EU mit einer Stimme sprechen zu lassen, langfristig gesehen auch im UN-Sicherheitsrat. (Ein deutsches Festhalten an einem permanenten Sitz im Sicherheitsrat zeugt dann auch von einem kurzfristigen Denken.) In der ESS wird zwar auf die Notwendigkeit der Fortsetzung guter transatlantischer Beziehungen beharrt, aber es wird deutlich gemacht, dass Europa sich klar entscheidet für einen »effektiven Multilateralismus«. Mit anderen Worten: gute Beziehungen zu den USA, ja, aber nicht ohne den Rahmen der multilateralen Institutionen, die der heutigen US-Regierung so oft ein Dorn im Auge sind.

Heißt das, dass die USA und Europa weiter auseinander driften werden oder kann davon auf Grund unserer viel beschworenen Wertegemeinschaft keine Rede sein? Sowohl die Europäische Union als auch die Vereinigten Staaten bekennen sich zu Demokratie, freier Marktwirtschaft und dem Respekt der Menschenrechte und dazu, dass das in Zukunft auch so bleiben wird. Dennoch müssen wir feststellen, dass Entwicklungen stattfinden, die Risse im Gewölbe dieser transatlantischen Wertegemeinschaft verursachen. Die Menschen- und Bürgerrechte stehen nach dem 11. September in den Vereinigten Staaten schwer unter Druck. Während man in Europa die Diskussion führt, wie individuelle Freiheit und Sicherheit vor Terrorismus miteinander in Einklang gebracht werden können, scheint diese Diskussion in den Vereinigten Staaten sich nur in der Marge abzuspielen: Der Durchschnittsbürger hat nicht das Gefühl, dass seine Rechte beschnitten werden, ebenso wenig wie es ihn interessiert, wie Gefangene in Guantanamo behandelt werden. Auch die Vorfälle im Abu-Ghraib-Gefängnis haben die Durchschnittsamerikaner anscheinend nicht genug erschüttern können, um einer Regierung das Vertrauen zu entziehen, die für diese Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist.

Es ist zu befürchten, dass der Abbau von Bürger- und Menschenrechten unter Bush II noch weiter betrieben wird mit Zustimmung einer Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung, die ihre moralischen Ansprüche – ebenso wie die Bush-Regierung – auf die Bibel zurückführt. Auch hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu Europa. Eine Umfrage des Pew Institutes aus dem Jahre 2002 zeigt, dass 59 Prozent der US-Amerikaner Religion in ihrem Leben für »sehr wichtig« halten. Im säkularisierten Europa finden das sogar im katholischen Polen nur 36 Prozent, im ebenfalls katholischen Italien 27 Prozent, in Deutschland 21 Prozent und in Frankreich und Tschechien 11 Prozent. In vielen US-Staaten tobt ein Rechtsstreit, ob in Schulen die Evolutionstheorie gelehrt werden darf (in 13 Staaten steht sie nicht im High-School-Lehrplan). Undenkbar, auch im katholischsten oder protestantischsten Teil Europas, neu oder alt.

 

Wie viel Gemeinsames gibt es da also noch über den Atlantik hinweg? Natürlich glaubt noch immer ein großer Teil der amerikanischen Bevölkerung an Demokratie und Bürgerrechte und fundiert seine Lebensweise nicht direkt auf die Bibel, nur ist es eben nicht dieser Teil, der in den nächsten vier Jahren die Politik der USA bestimmt. Zu befürchten ist, dass die Kluft nicht nur zwischen den USA und Europa, sondern auch zwischen den »beiden Amerikas« in den nächsten vier Jahren größer werden wird, die Kommunikation schwieriger. Eher als mit den Wölfen der Regierung Bush II zu heulen, sollten die Europäer sich schon überlegen, wie sie mit den Kräften in den USA im Dialog bleiben können, denen daran liegt, dass demokratische und Bürgerrechte erhalten bleiben und auch als Grundlage der Außenpolitik betrachtet werden.

Die transatlantische Gemeinsamkeit wird auch unter Druck kommen auf Grund von ethnischen Veränderungen auf beiden Seiten des Atlantiks. Beim letzten Zensus in den USA im Jahr 2000 rechneten sich nur noch 69 Prozent der amerikanischen Bevölkerung von etwa 281,5 Millionen zu den Weißen mit europäischen Wurzeln. Die Hispanics überflügelten zum ersten Mal mit 12,6 Prozent die Afroamerikaner (12,3 %). Geht man weiterhin von einer zunehmenden asiatischen Immigration (China, Indien) aus, werden ab Mitte des 21. Jahrhunderts die Amerikaner mit europäischem Ursprung wahrscheinlich in der Minderheit sein. Dies ist jetzt schon der Fall in Kalifornien. Wird das die Beziehungen zwischen den USA und Europa verändern? Alles andere wäre ein Wunder.

Auch in Europa deuten sich ethnische Veränderungen an, die sein politisches Gefüge in den nächsten Jahrzehnten grundlegend verändern können. In den großen Städten (West-)Europas wird es in vielen Fällen eine muslimische Mehrheit geben. Daraus ergeben sich für Europa innen- und außenpolitische Konsequenzen, die wesentlich verschieden sind von denen der USA.

Heißt das, dass Europa die USA nicht mehr braucht oder sogar auf Konfrontationskurs gehen muss? Das wäre allerdings die verkehrte Schlussfolgerung. Europa muss sich jedoch bewusst sein, dass es auch für die USA kein »ausschließlicher Partner« bleiben wird. Die USA haben dies bereits mit ihrer Politik der »Koalition der Willigen« demonstriert. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass diese Tendenz sich nicht fortsetzen wird, darüber sollte auch die anfängliche Charme-Offensive der neuen amerikanischen Regierung nicht hinwegtäuschen. Im Grunde zeigt diese nur, dass die Kreise um George W. Bush begriffen haben, dass man – frei nach Al Capone – zwar viel mit einem Gewehr erreichen kann, aber noch viel mehr mit einem Gewehr und einem Lächeln. Und wenn es dann ganz kurz für Europa etwas zu lächeln gegeben haben sollte, spätestens mit der Ernennung des alten Haudegens John Bolton zum UN-Botschafter der amerikanischen Regierung dürfte selbst jedem ausgemachten Optimisten dieses Lächeln gleich wieder vergangen sein.

 

Die Europäische Union muss so schnell wie möglich ihre eigenen Interessen bestimmen und alles in die Wege leiten, um diese Interessen auch vertreten zu können. Das ist kein Anti-Amerikanismus, keine Aufkündigung der transatlantischen Partnerschaft und ganz bestimmt keine Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten. Es ist nichts weiter als pragmatische Notwendigkeit und Antizipieren einer Zukunft, in der das Transatlantische zwangsweise an Wichtigkeit einbüßen wird und regionale und internationale Organisationen an Wichtigkeit gewinnen werden. Vielleicht muss man ja in Europa nicht unbedingt daran glauben, in zwanzig Jahren die wichtigste Weltmacht zu sein. Es reicht ja schon, daran zu glauben, eine wichtige Weltmacht zu sein und sich allen damit verbundenen Aufgaben gewissenhaft zu stellen.

Dabei geht es allerdings nicht nur um militärische Schlagkraft, sondern um die Fähigkeit, mit Vorausblick und Effizienz innen- und außenpolitische Probleme zu bewältigen.

Die Stärke der Europäischen Union liegt bereits auf dem Gebiet ziviler Kapazitäten und Kompetenzen, und es sind gerade diese Kompetenzen, die sowohl präventiv als auch langfristig mindestens ebenso wichtig sind wie militärische Schlagkraft. Auch ein gerechterer Welthandel ist für die Zielsetzung von globalem Frieden und globaler Sicherheit von großer Wichtigkeit und Europa könnte hier sehr ehrgeizig ansetzen, wie in der ESS bereits nahe gelegt wurde.

Schließlich geht es Europa auch um eine Strategie zur Wiederaufwertung bzw. Reform der multilateralen Institutionen. Dazu hat die EU sich in der ESS verpflichtet. Diese Verpflichtung »zum effektiven Multilateralismus« kommt auch zum Ausdruck im Papier der Europäischen Kommission »The European Union and the United Nations: the choice of multilateralism« vom 10. September 2003, der Erklärung des Europäischen Parlamentes zur Erweiterung der Zusammenarbeit zwischen der EU und der UN vom 16. Dezember 2003 und dem im April 2004 erschienenen EU-Bericht »The enlarging EU at the UN: Making multilateralism matter«.

Die Formel »Europas Zukunft wird transatlantisch sein oder sie wird nicht sein« ist zu einfach angesichts einer Weltsituation, in der die Devise nur sein kann: »Die Zukunft wird multilateral sein oder sie wird nicht sein«.(1)

Transatlantische Beziehungen wird es so lange geben, wie das Bedürfnis an diesen Beziehungen von beiden Seiten ausgedrückt wird. Ob diese Beziehungen auf die Dauer »unersetzlich« sind, wie es im ESS geschrieben steht, bleibt abzuwarten und hängt auch davon ab, ob die USA an einer »wirkungsvollen, ausgewogenen Partnerschaft« (ESS) interessiert sind. Angesichts der Probleme und Konflikte in der aktuellen und zu antizipierenden Weltsituation hat Europa die Pflicht, seine eigenen Interessen und Strategien zu definieren und daran seine Instrumente auszurichten. Nichts wäre erfreulicher, als wenn diese Interessen und Strategien mit denen der USA weitgehend übereinstimmen würden oder längerfristig mit denen einer neuen US-Regierung in vier Jahren wieder abgestimmt werden könnten. Sollte das jedoch nicht möglich sein, ist es an der Zeit, dass Europa von seiner eigenen Stärke ausgeht und eine verantwortungsvolle Rolle spielt in einer globalisierten Welt, in der es keine Zeit und keinen Raum mehr gibt, sich vor Verantwortlichkeit zu drücken.

 

1

Auch wenn und gerade wenn Washington einen Mann zur UN abordnet, der 1994 noch meinte, dass es so etwas wie die Vereinten Nationen ja gar nicht gäbe und dass es keinen Unterschied machen würde, wenn das UN-Gebäude in New York zehn Stockwerke verlöre.

 

Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe 2/05