BALDUIN WINTER

Editorial

 

Vom Eis befreit? – Die vorösterliche Woche unter dem Motto »Pannen und Patriotismus« hatte es in sich: Die großen politischen Kräfte formierten sich. Von vornherein taktisch im Nachteil sah sich die Regierung einem Zangenangriff ausgesetzt. Die »Wirtschaft« kam über die Flügel, mit der Arbeitgeberrede des Bundespräsidenten und dem »Pakt für Deutschland« der Opposition zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Ein schnell zusammengestelltes 20-Punkte-Programm Schröders zeugte von der Verunsicherung der rot-grünen Koalition. Schon vor dem fälschlich »Jobgipfel« genannten Spitzentreffen beschwor Michael Naumann in der Zeit die großkoalitionäre Meisterung der Krise als »Lob der miesen Ehe«. Entscheidender Stein des Anstoßes war jedoch die Kieler »Dolchstoßlegende«. Plötzlich schien es völlig logisch, so die zahlreichen Kommentare, die große Koalition nicht nur für Schleswig- Holstein oder Nordrhein-Westfalen, sondern auch für die Bundestagswahlen 2006 als Stein der Weisen entdeckt zu haben, zumal die CDU/CSU beschleunigt die K-Frage aufs Tapet bringen will. »Wie machen wir’s, dass alles frisch und neu / und mit Bedeutung auch gefällig sei?«, fragt Goethes Theaterdirektor im Faust. Meinungsforscher waren gleich bereit, die langjährige Politikverdrossenheit des »Wahlbürgers« nun aus der aktuellen politischen Lähmung zu augurieren. Es fügt sich alles in eine etwas andere Polit- Erzählung; zu viele Pannen bei Rot-Grün, personaler Verschleiß, zu wenig Reformgeist und, die Erbsünde, 5,2 Millionen Arbeitslose. Große Aufgaben stehen vor Deutschland, nach Reformstau Kohl und Zickzack Rot-Grün Schluss mit kleinlichem Zank, stattdessen große, Großparteien umspannende Entscheidungen, wie sie der Größe Deutschlands zustehen. Das klingt gefälliger – auch wenn nur die politische Hülle daran neu ist, nicht die »Bedeutung«.

Denn was zu erwarten ist, haben Köhler und Merkel angerissen. Die Rede des Bundespräsidenten hatte programmatischen Charakter. Nicht zufällig enthielt sie wesentliche Ziele des Arbeitgeberverbandes, die Präsident Dieter Hundt fast wortwörtlich bei den Badener Konjunkturgesprächen im September 2004 vorbrachte: Wachstum durch Entlastung der Unternehmen mittels Abkoppelung der Sozialkosten vom Arbeitsverhältnis, Flexibilisierung des Arbeitsrechts, ein modernes Steuersystem. Zum Arbeitsmarkt äußerte sich Hundt damals, sozusagen im Familienkreis, radikaler als Köhler: »Bei knapp 400 Milliarden Euro Schwarzarbeit in unserem Land soll niemand sagen, es gäbe nicht genug Arbeit. Sie muss aber marktfähig und mit den richtigen Mitteln aus der Schattenwirtschaft in die Legalität geholt werden.« Die allgemeine Ursachenforschung erledigen beide schnell: Für Hundt hat sich der Sozialstaat übernommen; Köhler rekurriert auf den deutschen VW-Käfer-Kapitalismus, der einstens »Leistung ermutigte und sozialen Fortschritt brachte«, als das »Erfolgsrezept«, dem Deutschland »untreu geworden« ist. Immer neue regulierende Eingriffe in die Wirtschaft seitens der Bundes-, Landesregierungen und von Brüssel haben die alte Ordnung zum Niedergang gebracht.

Auf dem Osterspaziergang erzählt Faust dem Wagner von den alchimistischen Irrtümern seines Vaters, denen er gehorsam gefolgt ist: »O glücklich, wer noch hoffen kann, / aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!« Köhlers Rede bewegt sich teilweise auch in volkswirtschaftlicher Alchimie – nichts über die Umwälzung der materiellen Basis des Kapitalismus, nichts zum veränderten Verhältnis zwischen Produktivität, Gewinnen und Jobentwicklung, die EU ein einziges Mal negativ als bürokratische Bremse. Der Fetischbegriff »Wachstum« kreist über seinen Worten, die Raten einiger Großkonzerne liegen beträchtlich über jener des BIPs, die ihn bekümmert. Sie bekümmert, einigendes Band, auch die projektiven Koalitionäre Merkel und Schröder. Glauben sie im Ernst, mit der Senkung der Körperschaftssteuer einen Impuls zur Ankurbelung gegeben zu haben? Geht es nicht auch um einen Umbau der Wirtschaftsstruktur, um Änderungen des festgefahrenen unternehmerischen Bewusstseins, um neue Initiativen? Auch, wie Heribert Prantl in seinem Buch Kein schöner Land unter Kritik der derzeit einseitigen Lastenverteilung hinweist, um kreativen Einsatz der Gewinne? Im Grundgesetz gibt es den Artikel 14: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« Tut es das? Denn die Zeiten hoher Wachstumsraten sind vorbei, der Kapitalismus ist nicht mehr der des VW-Käfers, er hat sich strukturell grundlegend verändert. Das Potenzialwachstum der EU beträgt derzeit 2 bis 2,25 Prozent, und auch das nur dank der Beitrittsländer, deren Rate bei 4,2 Prozent liegt. Längerfristig, so die EU- Kommission, wird es auf Grund der Bevölkerungsalterung auf etwa 1,25 Prozent sinken.

Ideen sind gefragt, so Köhler. Stimmt. Womöglich ganz andere als die seinen. Und vor allem auch der Einsatz aller Mittel. Denn die patriotische Erzählung, mit der die politische Landschaft »gefällig« angepinselt werden soll, ist sonst genauso hohl wie die vermeintlich gefundene politische Form. Politische Alchimie eben.

Mit diesem Heft beginnen wir die Serie »Notizen aus den USA« von unserem langjährigen New Yorker Mitarbeiter Dick Howard.

Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe 2/05