Zur symbolischen und realen Geschichte des linken Terrorismus in Deutschland
Der »Mythos RAF«, so scheint es, wird immer größer, je weiter sich die politischen und künstlerischen Auseinandersetzungen von den historischen Umständen entfernen oder »frei« machen. Die Ausstellung »Zur Vorstellung des Terrors« belegt das ebenso wie die Auseinandersetzung um Rudi Dutschke als Vordenker von »terroristischer Gewalt«. Auch unsere Autoren stehen auf den folgenden Seiten für kontroverse Zugänge zur RAF als Teil linksradikaler Geschichte.
Die RAF war ein weitgehend
selbstreferentielles Projekt, dessen symbolische Bedeutungen schon zu Lebzeiten
alle realen politischen Bedeutungen weit überstiegen. Das gilt für ihr
gespensterhaftes Nachleben erst recht. Nicht nur die Sachliteratur jeden Genres
füllt seit mehr als dreißig Jahren Bibliotheken; und jeder Herbst und jedes
Frühjahr bringen neue Titel, wie heuer wieder. Auch mein Leitz-Ordner, den ich
mit »Künstlerischer Nachhall« beschriftet habe, quillt über von Verweisen auf
Romane und Erzählungen, Theaterstücke, Spiel- und Dokumentarfilme, Fotobände,
Rocksongs, Orchesterstücke, ganze Repertoireopern sowie Objekte bildender
Kunst. Sucht man im Internet, gerät man in einen Cyberspace eigener Art, mit
liebevoll gestalteten Kultseiten und rhizomhaft verknüpften Text- und
Bildarchiven. Man könnte aus diesem Material ein Potpourri mixen, das einem
wagnerianisch-schlingensiefschen Gesamtkunstwerk ziemlich nahe käme.
Genau das hätte der
Ausgangspunkt für eine interessante Ausstellung mit dem Titel Mythos RAF
sein können, wie sie die Berliner KunstWerke vor Jahren planten. Man hätte
diesen symbolischen und phantastischen Überschuss natürlich nicht einfach
reproduzieren und arrangieren, sondern historisch kontextualisieren und
entziffern müssen. Das Hamburger Institut für Sozialforschung, das diese
Aufgabe übernommen hatte, zog sich jedoch aus dem Projekt zurück, als es im
letzten Sommer nach einem Protest der Familien Rohwedder und Schleyer gegen ein
früheres, dümmliches Konzeptpapier in den Verdacht der staatlich
subventionierten »Verherrlichung« geriet.(1)
Die Ausstellung, die die
KunstWerke nun im Alleingang unter dem etwas camouflierenden Obertitel „Zur
Vorstellung des Terrors“ produziert haben und die Ende Januar unter abermaligem
großem Medienecho eröffnet worden ist, hat allerdings weder Skandal noch
Begeisterung, eher (nach so vielen Aufregungen) milde Enttäuschung oder
angeregtes Interesse hervorgerufen. So in etwa ist es mir beim Betrachten der
etwa achtzig Exponate von 40 Künstlern plus einer etwas notdürftigen
»Medienleiste« auch gegangen. Feldmanns Bildreihe »Die Toten« mit ihrer
sakralen Aura wirkt in dem weißen, geschlossenen Raum eindrücklicher, als ich
vermutet hätte. Neben allerhand Belanglosigkeiten finden sich schlichte, aber
witzige Sachen, wie Korpys/Löfflers »Konspiratives Wohnkonzept« oder die
trügerischen Postkartenidyllen von Hans Niehus. Einige der gemalten Bilder
tragen dick auf, aber bleiben haften: Johannes Kahrs »Meinhof« als archaische
Kriegerin oder Lutz Dammbecks zombiehaft vernähte »Nibelungen«-Masken. Felix
Droeses »anti- Richter-Landschaft« vom Tag des Herrhausen-Mords gibt dem
Schrecken historische Tiefe. Und es gibt kleinere Entdeckungen zu machen, wie
Michaela Meises Text- und Bildcollagen »Von den Trümmern zu den Trümmern« oder
Astrid Kleins »Kamikaze« und »Sie wollte von Anfang an etwas Außergewöhnliches
werden«, die mit großer Leichtigkeit assoziative Räume aufschließen. Etwas
Ähnliches leisten auch (schien mir) einige der Video-Installationen von Johan
Grimonprez, Eleanor Antin und Dara Birnbaum oder Rainer Kirbergs »Überfahrt«,
für die man sich allerdings viele Stunden Zeit nehmen muss.
Alles in allem wird die
Ausstellung gerade jugendlichen Besuchern, mit ihrem medial trainierten Blick,
die sich diese Geschichte neu zurechtlegen, eine ganze Menge zu sehen und zu
denken geben. Und wo einzelne Objekte die Paranoia des Konflikts unmittelbar
reproduzieren, wie Katharina Sieverkings grelles Poster »Schlachtfeld
Deutschland« oder Klaus Staecks sattsam bekannte Agitprop-Plakate, da sind das
selbst schon historische Dokumente in einer rundum medialisierten Welt, in der
man heute doch ganz anderes gewöhnt ist. Eine staatsbürgerkundlich
durchgekämmte Kunstausstellung zur RAF wäre natürlich ein Unding.
Es ist also – mit einer
gravierenden Ausnahme (dazu gleich)
– weniger die Ausstellung selbst, sondern es sind die begleitenden
Katalogbände, die Bauchgrimmen bereiten, sobald man sich tiefer hineinliest.
Das betrifft weniger die Beiträge der Fremdautoren, zu denen ich ebenfalls
gehöre und die ich jetzt nicht rezensieren möchte, sondern die begleitenden
Texte der Ausstellungsmacher selbst. Dass es zum modernen Kunstbetrieb gehört,
über jedes Objekt einen schwülen Bedeutungsnebel von Referenzen und Zitaten zu
breiten, als könnten sie nicht für sich sprechen, ist man gewohnt. In diesem
Falle stößt man bei näherem Hinlesen aber auf eine ideologische Mixtur aus
künstlerischer und jugendlicher Anmaßung, die es in sich hat.
So wird der Kunst in
guter, elitärer Tradition eine »Vorreiterrolle bei der Verarbeitung der
gesamtgesellschaftlichen Traumata« zugeschrieben, nur um sie mit überlegenem
Gestus »dem undifferenzierten Freund- Feind-Schema der Medien«
gegenüberzustellen – eine pauschale Behauptung, die so nicht einmal durch die
eigene, selektive »Medienleiste«, eine Sammlung von Presseausschnitten zu
Schlüsseldaten von 1967 bis 1998, gedeckt wird. In der beharrlichen Leugnung,
dass der zeitgenössische Kunstbetrieb selbst Teil der medialen Welt ist, steckt
bereits ein eigenes Freund-Feind-Schema, das zum Leitfaden des
Ausstellungsprojekts geworden ist: Kunst gegen »Medien«.
Das als schützendes
Schibboleth vorangestellte Credo stammt von Boris Groys und lautet: »Im
Kunstsystem können extreme, utopische, sogar moralisch inakzeptable Positionen
ihre Repräsentation finden … Wenn die Kunst diese Haltung aufgibt, verliert sie
ihre gesellschaftliche Funktion.« Das kann man durchaus unterschreiben, wenn es
um Margen und Maximen der Selbstaufklärung einer zivilen Gesellschaft geht. Es
führt allerdings zur sicheren Selbstverblödung des »Kunstsystems«, sobald
daraus ein Programm oder eine salvatorische Generalklausel wird.
Unter diesen Prämissen
macht sich dann gerade eine angeblich politisch-gesellschaftlich bezogene
»Konzeptkunst« zur ungreifbarsten und unzurechenbarsten von allen – zur l’art
pour l’art in dritter Potenz. Sie an irgendwelchen historischen Fakten oder
moralischen und ästhetischen Kriterien messen zu wollen, gilt schon als
Sakrileg oder Zensur. Die kritische Absicht als solche macht den Künstler erst
recht unangreifbar; und seine Agenten im »Kunstsystem« gleich mit.
Und da den Künstlern im
stinknormalen Zivilleben in Friedenszeiten der Stoff so leicht ausgeht oder sie
ihn nicht zu finden oder zu gestalten vermögen, suchen sie immer wieder nach
einem Schuss geborgter Radikalität mit echtem Blut und Schmauch. Selbst wenn
wir die Geschichte des 20. Jahrhunderts und das »Gesamtkunstwerk Stalin«, das
uns Boris Groys vor Jahren so luzide als totalitären Künstlertraum geschildert
hat, beiseite lassen; oder auch Thomas Manns beklemmendes Bildnis vom »Bruder
Hitler« als Wiedergänger des Künstlers selbst – irgendwo in diesem Feld lag
jedenfalls auch die Attraktion, die die RAF schon zu Lebzeiten auf ein ganzes,
sie umgebendes Künstlermilieu ausgeübt hat; und posthum noch einmal. Und
immerhin darf man wohl darauf hinweisen, dass es genau dieser spielerische
Mechanismus der postmodernen Evozierung „extremer, moralisch inakzeptabler
Positionen“ ist, nach dem auch das semiotische System der Neonazi-Szene längst
funktioniert.
Womit wir bei »Bruder
Baader« angelangt wären. Dem Eingangsbeitrag der Kuratorin Ellen Blumenstein
zufolge liegen die Anfänge der RAF bei den Situationisten, in der Subversiven
Aktion und der Kommune 1; sodass die »Brandstiftung als Ausdruck des Protestes
in surrealistischer Nachfolge« zu verstehen ist. Der Krieg der RAF gegen das
»Schweinesystem« wird in dieser kunstgeschichtlichen Perspektive zum
»abstrakten Realitätszeichen«, oder vielmehr sowohl zum »Stellvertreter/Symbol
für eine gescheiterte Kritik am Nachkriegsdeutschland als auch für eine
staatliche Überreaktion auf diese Bedrohung«. Die jugendlichen Zeitgenossen von
damals, die das »undifferenzierte Freund-Feind-Schema der Medien und sich
gegenüberstehenden gesellschaftlichen Gruppen« erlebten, mussten dann entweder
»so sein wollen wie sie [die RAF], oder bekräftigen, niemals so zu werden«.
Dieser unbequemen
Entscheidung sind die Angehörigen der jüngeren Generation, die im »Deutschen
Herbst« 1977 noch Kinder oder Ungeborene waren, demnach glücklich enthoben. Mit
ihnen sei nun endlich eine »differenzierte, distanzierte Haltung … möglich«
geworden. Jetzt dürfen die Kids und Girlies ruhig auch ein Prada-Meinhof-Shirt
tragen „und dabei Gudrun Ensslin und Andreas Baader ›spielen‹, sich genauso
kleiden, so sexy fühlen«. Aber natürlich dürfen sie die RAF auch »für
reaktionär und uninteressant halten« … Eine neue Version der Gnade der späten
Geburt.
Man versteht schon, worum
es der Autorin mit ihrer sehr vorhersehbaren Provokation eigentlich geht: Wenn
die irgendwie surreale RAF zu Pop wird, ist das doch gar nicht so schlecht! Ich
wäre (fast) bereit, ihr darin zuzustimmen. Als Löwen gesprungen, auf dem
T-Shirt gelandet – warum nicht. Popkulte sind zumindest eine Travestie der
Heroenkulte alten Stils und vielleicht der leichteste Weg, sich Gespenster vom
Hals zu schaffen. Aber muss dieses Programm jugendlicher Unbefangenheit auch
gleich Ahnungslosigkeit bedeuten?
Davon gibt es leider genug
in dem Katalog; und zwar nicht aus Mangel an historischen Spezialkenntnissen,
sondern weil die profanen Realitäten bei diesem Kunstbegriff von vornherein
nicht zählen. So heißt es zum Beispiel in der Beschreibung eines ganz
anrührenden Objekts von Johannes Wohnseifer: »Spindy (1995) war das Codewort
für den Schrank, in dem Hanns Martin Schleyer einen großen Teil seiner
Gefangenschaft zu verbringen gezwungen wurde.« Tatsächlich war »Spindy« das
Codewort für den eingeschlossenen Schleyer selbst, und das macht einen
Unterschied ums Ganze. Denn in diesem gemütvollen Spitznamen steckte schon der
Slang einer antrainierten Unmenschlichkeit, mit der der »kläglichen korrupten
Existenz« dieses zur Hassfigur Degradierten schließlich per bolschewistischem
Genickschuss ein Ende gesetzt wurde.
Diese selbst verschuldete
Unmündigkeit der Ausstellungsmacher spitzt sich an einem Seitenstück der
Ausstellung zu: der nachgebauten »Camera Silens« von Rob Moonen und Olaf Arndt,
die in einer benachbarten Kirche aufgestellt ist. In der Architektur der
Ausstellung bildet sie den eigentlichen Gegenpol zum weißen Kubus der »Toten«
von Feldmann.
Wenn es ein Skandalon in
der RAF-Ausstellung gibt, hier ist es. Aber kaum jemand hat es bemerkt. Dabei
könnte die tragische Geschichte des Professors Jan Gross aus Prag, seiner
Forschungen zur sensorischen Deprivation in Hamburg-Eppendorf und seiner
jahrelangen Denunziation als eine Art Dr. Mengele des bundesdeutschen
Strafvollzugs in den »Isolationshaftkampagnen« eigentlich inzwischen bekannt
sein.(2)
In einer frühen Diskussion
im »Beirat« der KunstWerke hatte ich sogar vorgeschlagen, diesen Nachbau der
Eppendorfer Forschungsinstallation ins Zentrum der ganzen Ausstellung zu
stellen – nämlich als eine »Black Box« des Mythen-Nebels, der die RAF bis heute
umweht und in den sie selbst sich gehüllt hat, eine wahre »Camera Obscura« der
aggressiven Ängste und Projektionen, die sich um ihre Kampagnen und Aktionen
gerankt haben. Die eigentliche Wirkungsgeschichte der RAF beginnt und endet
genau mit diesem durch nichts belegten Mythos einer wissenschaftlich
begleiteten und exekutierten Strategie der »Vernichtungshaft« gegen die
inhaftierten Terroristen. Da Ulrike Meinhof zufolge der »politische Begriff«
für ihre Haftbedingungen »Gas« und ihre »Auschwitzphantasien real« waren,
hätten wir es also dem »politischen Begriff« nach mit einer modernisierten
Gaskammer zu tun. Ein wunderbares Exponat! Die Besucher der RAF-Ausstellung
dürfen selbst einmal diese Todeszelle betreten und sich ein paar Minuten lang
als politische Gefangene vernichtet fühlen.(3)
Dass die Installation der
»Camera Silens« und die Vorstellung einer totalen sensorischen Deprivation an
menschliche Urängste rührt, ist wahr. Aber hier steht Moonens/Arndts Nachbau
nun einmal im Kontext einer RAF-Ausstellung; und es ist auch das explizite
Anliegen der Installateure selbst, die obskurante Verschwörungstheorie von der
wissenschaftlich angeleiteten Totalisolation weiter fortzuschreiben.(4)
So heißt es im Katalog (S.
103) im feierlichen Ton, der zum medialen Grundgeräusch des
Ausstellungsbetriebs gehört: »Die stille, tonlose Raumplastik nimmt … Rekurs
auf abgeschlossene, zellenartige Räume, die in der Bundesrepublik nicht nur im
medizinisch-psychiatrischen Kontext, sondern auch … im Strafvollzug als
Kontroll- und Untersuchungsräume angewendet wurden. In den siebziger Jahren
kamen bei der erstmals angewendeten Einzelhaft im so genannten ›toten Trakt‹
bekannterer RAF-Mitglieder in Stuttgart-Stammheim ähnliche Mechanismen zum
Tragen: Ihre Zellen befanden sich in einem hermetisch abgesonderten Einzeltrakt
und waren 24 Stunden am Tag durch gleißendes Neonlicht grell erleuchtet …« Wie
niedlich sich »Spindy« doch dagegen ausnimmt!
Man sieht: Der »Mythos
RAF« lebt, und Stammheim ist sein Kyffhäuser, an dem alles abprallt, was man
darüber wissen kann. Die Aura von Geheimnis und Gewalt ist noch stets
künstlerisch attraktiver als die profane Realität. Das Problem ist nicht ein
Mangel an historischen Kenntnissen, sondern eine programmatische Ignoranz – so
wenn es im Eingangsbeitrag heißt: »An diesen Beispielen sieht man, dass man
eine Geschichte der RAF erzählen kann, die nicht auf detailgetreue Wiedergabe
historischer Fakten angewiesen ist.« Ein Kunstbetrieb, der sich solche
Persilscheine ausstellt, ist allerdings dazu verurteilt, zu reproduzieren, was
er doch eigentlich – und in Teilen dieser Berliner Ausstellung sogar auf
gelungene Weise – dekonstruieren wollte.
In einer fast
spiegelbildlichen Antiposition zum
jugendlich-postmodernen Spiel mit der »Vorstellung des Terrors« präsentiert
sich das (noch undeutlich umrissene) Forschungs- und Publikationsprojekt, das
das Hamburger Institut für Sozialforschung nach seiner Trennung vom Projekt der
Berliner RAF-Ausstellung angekündigt hat. Hier soll es um Quellen und Fakten
gehen, und zugleich um eine nachgeholte Grundsatzauseinandersetzung mit den
Terroristen, wie sie damals von der Linken nicht geführt worden ist.
Ähnlich wie im Fall der
hauseigenen »Wehrmachtsausstellung« vor einigen Jahren, hat Jan Philipp
Reemtsma in seiner Doppelrolle als Finanzier und Leiter des Instituts die Rolle
dessen übernommen, der die Leitlinien der Behandlung des Themas vorgibt. Der
pünktlich zur Ausstellungseröffnung Ende Januar im Institutsverlag
herausgekommene Sammelband mit dem Titel Rudi Dutschke, Andreas Baader und
die RAF wird durch Reemtsma selbst eingeleitet und endet mit seinem
programmatischen Beitrag »Was heißt ›die Geschichte der RAF verstehen‹«.
Darin nimmt Reemtsma mit
schneidender Polemik die benevolenten Verständnisversuche des Gießener
Psychoanalytikers Horst-Eberhard Richter auseinander, die dieser Mitte der
Neunzigerjahre – vor gut zehn Jahren also – gegenüber den Selbstexplikationen
der als RAF-Mitglied verurteilten Birgit Hogefeld in Buchform veröffentlicht
hat. Immerhin stellten Hogefelds Erklärungen einen ersten, notdürftigen Versuch
dar, sich über ihren eigenen Weg Rechenschaft zu geben und trugen zur
Selbstauflösung der bis heute nicht enttarnten Restgruppe der RAF bei.
Im Zentrum dieses Dialogs
standen die angeblichen »Ohnmachtserfahrungen« der deutschen
Nachkriegsgenerationen und die ihnen aufgebürdete »Last der Geschichte«.
Reemtsmas kühle Gegenthese lautet, dass der Terrorismus eine »attraktive
Lebensform« bedeutet habe, »die Machterfahrungen mit sich brachte wie keine
andere«. Von Anfang bis Ende habe sich bei der RAF alles um sie selbst und ihre
»revolutionäre Identität« gedreht, die die Bereitschaft zum Tod als letztem
Ausweis von Authentizität mit einschloss. Insofern habe die RAF-Formel vom
»Körper als Waffe« durchaus dem Geist der Attentäter vom 11. September
entsprochen. Solche Akte einer totalen Destruktion wirkten durch den
»Zusammenklang von Selbstentwurf und gelebter Realität« als eine ultimative und
attraktive Antwort auf die Krise des modernen Einzelnen zwischen Selbstverwirklichung
und Bedeutungslosigkeit.
Reemtsmas Polemik, deren
Unnachgiebigkeit sicher auch von den eigenen Erfahrungen »im Keller« (als Opfer
einer erpresserischen Entführung) geprägt ist, hat etwas durchaus Klärendes.
Sie rückt die politischen und moralischen Maßstäbe zurecht und spitzt den
»Mythos RAF« auf die Frage zu, wie einer Gruppe gewalttätiger Desperados »die
Aura des Rätsels« zuwuchs. »›Es ist unmöglich, dass nichts dahintersteckt‹,
sagt sich jeder und sucht nach etwas Verborgenem«, ließ bereits Dostojewski den
Liberalen Werchowenski in Dämonen räsonnieren. Entsprechend geht
Reemtsma von einer strukturellen Ähnlichkeit terroristischer Gruppenbildungen
von den »Nihilisten« des 19. bis zu den »Fundamentalisten« des 21. Jahrhunderts
aus, jenseits ihrer konkreten Ideologien, Charakterologien und Kontexte.
Die Stärken dieser
Betrachtungsweise sind allerdings auch ihre Schwächen: die einer latenten
Enthistorisierung. Der einseitig erklärte Krieg der »Roten Armee Fraktion« und
die Kampagnen gegen die angebliche »Vernichtungshaft« in deutschen Gefängnissen
bewegten ja keineswegs nur radikale Linke oder besorgte Liberale. Sondern die
Hysterien, die sich daran entzündeten, rührten an den Kern der
Selbstunsicherheit der bundesdeutschen Nachkriegsrepublik. Die Geschichte der
RAF ist und bleibt ein integraler Teil des neurotischen deutschen
»Familienromans«, bis hin zum symbolischen Vatermord an Schleyer. Es war ein
gesellschaftliches Gesamtdrama, deren Akteure (wie in der antiken Tragödie)
unter einem Fatum oder »Gesetz« standen, das ihnen selbst verborgen blieb.
Die beiden flankierenden
Beiträge des Buchs kompensieren den normativ verengten Blick dieser
Deutungsvorgaben Reemtsmas nur wenig, im Gegenteil. Karin Wielands Versuch, die
zentrale Figur des »a.«, alias Andreas Baader, aus dem geläufigen
Anekdotenschatz herauszuschnitzen, schwankt zwischen literarischer Stilisierung
zu einem »Dandy des Bösen«, der (frei nach Camus) »das göttliche und moralische
Gesetz herausfordert«, und dem recht eindimensionalen Nachweis, dass es diesem
»a.« um wenig mehr als um »Luxus und Gewalt« zu tun gewesen sei, dass also
(frei nach Dostojewski) »nichts dahintersteckt«.
Aber wie viel weiß man
dann wirklich über die »Chemie« und Funktionsweise dieser Kerngruppe des linken
Terrorismus der Siebziger- und Achtzigerjahre, der überdies ja ein viel
breiteres, internationales Phänomen war? In eklatanter Weise übergeht Wieland
auch die historisch geradezu einzigartige Rolle, die gerade Frauen in diesen
Gruppen gespielt haben, und zwar in allen drei »Generationen« der RAF. Ein
solches Phänomen müsste im historischen Rückblick schon etwas mehr an
soziologischer und psychologischer Neugier wecken, als Wielands gebannter Blick
auf »a.« noch zulässt.
So wenig also die Figur
des verspäteten »Nihilisten« Baader
eine Erklärung für die zwanzigjährige blutige Karriere der RAF und ihr
gespenstisches Nachleben liefert, so wenig Wolfgang Kraushaars später Versuch,
den SDS-Agitator Rudi Dutschke in die Rolle eines Vordenkers der RAF zu rücken.
Neu in diesem Text sind einige interessante Zitate aus frühen Aufzeichnungen
Dutschkes, die in dessen Nachlass im Archiv des Hamburger Instituts liegen.
Darin finden sich schon 1966/67 erste Gedankenspiele über die Universität als
»Focus« einer Stadtguerilla, die allerdings noch als eine »Sabotage- und
Verweigerungsguerilla« à la Marcuse verstanden wird. Diese sollte sich durch
»prinzipiell illegale Demonstrationen und Aktionen« freilich auf die Ausübung
von »Gegengewalt« gegen die latent faschistische »Gewalt der Herrschenden«
vorbereiten.
Das ist nun allerdings
keine große Entdeckung. Dutschke predigte es ja täglich und öffentlich: dass
»die zweite Front für Vietnam« in den Metropolen selbst liegen müsse, wozu auch
»der Kampf der rev. Jugend in Osteuropa und in der SU« zählen werde. In diesem
Zusammenhang machte er sich, wie Kraushaar zu berichten weiß, auch kryptische
Notizen über »Untergrundeinheiten (f.d. T-Gruppen)«, »Sichere Wohnungen«,
»Spezial-Waffen», »Gelder« und »›schnelle‹ Autos«. Und ein paar schüchterne
Ansätze solcher »Untergrundeinheiten« gab es, wie man weiß, ja tatsächlich
damals im Westberliner SDS. Und dann gab es rund um den Vietnam-Kongress im
Februar 1968 natürlich die oftmals erzählte Geschichte mit dem Dynamit, das der
Mailänder Verleger und Castro- Freund Giangiacomo Feltrinelli im Kofferraum
seines Citroën mitgebracht hatte. Kraushaar macht daraus gleich zwei
»Sprengstoff-Episoden«; es dürfte aber um ein und dieselbe schwarze Farce mit
Kinderwagen und Schließfächern gegangen sein. Und sie zeigt gerade, dass
Dutschke den entscheidenden Schritt in eine reale terroristische Praxis stets
gescheut hat, wie sich spätestens bei den Gesprächen mit Horst Mahler in London
im Sommer 1969 zeigte und (das ist wohl das interessanteste, nur gesprächsweise
überlieferte Detail) bei einem Treffen mit der untergetauchten Ulrike Meinhof
1971 definitiv entschied, die ihm vorschlug, ebenfalls seine Familie und Kinder
zu verlassen, was er empört ablehnte.
Nun gehörte immer schon
eine gehörige Naivität dazu, aus Dutschke den Säulenheiligen einer
basisdemokratischen und ökopazifistischen Nach-68er-Bewegung zu machen. Wenn
die taz nach Kraushaars Enthüllungen nun eine »Dutschke-Debatte« führt,
dann doch nur vor dem Hintergrund, dass man den armen Rudi gerade eben noch unter
die »großen Deutschen« (Walter Jens) promovieren und mit einer Straße vor dem
eigenen »Rudi-Dutschke-Haus« ehren wollte. So wie man überhaupt aus der
»antiautoritären Revolte« von 1968 gerne das verkitschte Bild einer fröhlichen
Jugendbewegung gemacht hat, die aus reiner demokratischer und moralischer
Empörung gegen den Bombenkrieg in Vietnam und gegen die Reste der
Nazivergangenheit aufgestanden sei.
So nett und so harmlos
ging es in diesem »roten Jahrzehnt« von 1967 bis 1977 natürlich nicht zu. Was konnte
die permanente Rhetorik von »Revolution« und »Schafft zwei, drei, viele
Vietnams«, von »Weltguerilla« und »Volkskrieg«, von »Widerstand« und
»befreiender Gewalt« (nach Sartre, Fanon oder Eldrige Cleaver) wohl anderes
bedeuten als einen Flirt mit dem, was die revolutionären Ikonen von Lenin über
Mao und Onkel Ho bis Bruder Che seit jeher als »revolutionären Terror«
bezeichnet haben, den man nur nicht »individuell«, sondern »kollektiv« zu üben
hatte?
Wolfgang Kraushaar hat nun
nach neuen, umfangreichen Quellenstudien entdeckt, »dass Theorie und Praxis der
Stadtguerilla in Deutschland zunächst einmal auf Dutschke und Kunzelmann, und
damit auf zwei Protagonisten der Subversiven Aktion und die vielleicht
wichtigsten Akteure der 68er-Bewegung, soweit sie sich jedenfalls als
Antiautoritäre begriffen, zurückzuführen sind«. Diese Tatsache, endet sein
Beitrag, sei »bisher sträflich vernachlässigt worden«.
Wirklich? Vor etwa drei
Jahren noch hat Kraushaar mit ungefähr demselben autoritativen Gestus dem Autor
dieser Zeilen vorgeworfen, dass ihm aus eigenen, alteingefleischten
»autoritären Dispositionen« heraus »die gesamte
undogmatisch-antiautoritär-spontaneistische Linie heute ebenso fremd wie
damals« geblieben sei – eine »Strömung, die nicht zuletzt auf die ästhetische
Avantgarde der Situationisten zurückzuführen ist, aus der die ›Subversive
Aktion‹ mit Dieter Kunzelmann und Rudi Dutschke hervorgegangen ist«. Und meine
Frage, wie es zu verstehen sei, dass die angeblich so lustigen
Kommunarden-Männer binnen kurzer Zeit (mit der Ausnahme von Langhans) bei der
KPD/ML oder im Terrorismus gelandet sind, erntete den strengen Verweis, dass
die »Mitglieder der ›Kommune I‹ … seinerzeit das wohl wichtigste Experiment
eines radikal veränderten Soziallebens durchgeführt haben«.(5)
Meinungen ändern sich, und
das ist gut so. Vielleicht sollte man sie nur nicht immer gleich als das letzte
Wort der Zeitgeschichte präsentieren. Interessanter, auch erhellender als reine
Ideologiekritik oder kriminalistische Rekonstruktion ist es, Gruppen und
Personen in ihrer Zeit, ihrem Milieu, ihren (oft rasenden und paradoxen)
Entwicklungsprozessen und in menschlichen Widersprüchen nachzuzeichnen.
Dutschke war auch darin ein Sprecher und Repräsentant dieser ganzen
»revolutionär« auftretenden politischen Generation, dass er schließlich einen
ungleich zivileren Weg eingeschlagen hat, als es seiner Rhetorik oder
Überzeugung entsprach. Und das war – wie auch sonst in der Geschichte – nicht
einfach eine Frage von geschriebenen Texten und abstrakten Ideologien, sondern
von vitalen Lebensbedürfnissen und realen gesellschaftlichen
Entwicklungsräumen. Davon vermittelt eine künstlerisch assoziative Annäherung
tatsächlich oft mehr als ein philologisch rekonstruiertes Sündenregister.
Klaus Biesenbach (Hg.). Zur Vorstellung des Terrors: Die
RAF-Aufstellung, Göttingen/Berlin (Steidl Verlag/KW Institute for Contemporary
Art) 2005 (2 Bde., 718 + 278 S., 45,00 € in den KW, 65,00 € im Buchhandel)
Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF. Mit Beiträgen von Wolfgang
Kraushaar, Karin Wieland, Jan Philipp Reemtsma, Hamburg (Hamburger Edition)
2005 (142 S., 12,00 €)
1
Seit Winter 2002 habe ich mich im Rahmen eines »Beirats« an
Brainstormings beteiligt und das Ausstellungsprojekt letztes Jahr gegen
ungerechtfertigte Befürchtungen und Unterstellungen verteidigt (»Rituale der
Labilität. Wozu eine Ausstellung über die RAF?«, SZ, 26./27.7.03). Auch
nachdem die KunstWerke das Projekt auf eine reine Kunstausstellung reduzierten,
habe ich mich nicht zurückziehen wollen, sondern sporadisch brieflichen Kontakt
mit den Kuratoren gehalten. Leider sind meine Anregungen und Warnungen wenig
berücksichtigt worden. Dazu mehr im Folgenden.
2
Eine kursorische Schilderung findet sich in meinem letzten
Buch: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus, Köln
2003, S. 326–329. Umfassender zum fachlichen Kontext: Friedemann Pfäfflin
(Hrsg.): Der Mensch in der Psychiatrie. Für Jan Gross, Berlin 1988.
3
Genau das habe ich den Kuratoren Klaus Biesenbach und Ellen
Blumenstein im September 2003 ausführlich und warnend schriftlich vorgetragen.
4
Vgl. den zum Teil des Kunstwerks deklarierten, von der
Stiftung Buchkunst 1994 mit einem Förderpreis bedachten Katalog camera
silens – ein Projekt von Moonen und Arndt, Edition Nautilus 1995.
5
Wolfgang Kraushaar: Rezension von G. Koenen, Das rote
Jahrzehnt; in: H-Soz-u-Kult, 27.2.02.
Copyright: Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe 2/05