Die neue deutsche Opferwelle und die Schulddebatte nach dem Zweiten Weltkrieg
Gab es ein pauschales Schuldurteil der Weltöffentlichkeit über das deutsche Volk? Oder hat der Schuldbegriff im Zusammenhang mit der Herrschaft der Nazis, dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust für die Deutschen eine besondere Prägung erhalten? Wurde überhaupt von Engländern und Amerikanern der Vorwurf der Kollektivschuld erhoben? Oder war das nicht vielmehr eine Projektion, die nicht zuletzt von Kirchen und Intellektuellen aus Gründen der Entlastung entrüstet zurückgewiesen wurde?
Dagmar Barnouw empfiehlt in
ihren Kommune-Beiträgen »Vom Nutzen und Nachteil der Erinnerung« (2/03)
und »Diesseits von Gut und Böse: Carl Zuckmayers Differenzierungen« (2/04)
einen neuen, kritischen und freieren Umgang mit der Geschichte. Sie beklagt die
bisherige Ritualisierung der »Einzigartigkeit von Auschwitz«, die Sprechverbote
und absurden Verdächtigungen gegen Tabubrecher wie Martin Walser, die
politische Instrumentalisierung eines mythologischen Geschichtsbildes durch
Amerikaner und Israelis, die bis heute virulente Einforderung von
Reue-Bezeugungen durch die einstigen Alliierten und die Selbstanklagen der
Deutschen, vor allem aber die angeblich widerspruchslos fortwirkende
Kollektivschuldthese. Barnouws Intervention zieht drei Fragen nach sich: Wie
neu und bahnbrechend sind eigentlich die empfohlenen Differenzierungen, etwa
die Entdeckung, dass auch Deutsche Opfer sein konnten; hat es die
Kollektivschuldthese, wie Barnouw sie unter Berufung auf Carl Zuckmayer
zurückweist, überhaupt so gegeben; und welche Funktion kommt ihrerseits der
Befreiung vom »Schuldkomplex« der Deutschen zu?
»Schuld« ist eines der
großen Reizworte der deutschen Nachkriegsgeschichte. Der Schuldbegriff
begleitet die öffentliche Diskussion über den Nationalsozialismus und seine
Folgen seit über fünf Jahrzehnten – und ist dabei weder klar definiert noch
unumstritten. Kontrovers diskutiert wird vor allem die »Kollektivschuld«, ein
Vorwurf, den nach Ansicht vieler Deutscher die alliierten Siegermächte nach dem
Zweiten Weltkrieg gegen Deutschland erhoben haben.
Ist aber ein solcher Vorwurf
an die Deutschen überhaupt jemals erhoben worden? Norbert Frei vertrat die
These, der Kollektivschuldvorwurf sei eine Erfindung der Deutschen selbst und
»den Konstruktionen des deutschen Kollektivbewusstseins – vulgo des schlechten
Gewissens« – entsprungen. Frei wertete diese Projektion als »indirektes
Eingeständnis der gesamtgesellschaftlichen Verstrickung in den
Nationalsozialismus« und als »unbewusste Anerkennung der Kollektivschuldthese«.
Das Postulat der Kollektivschuldthese sei vielmehr darauf zurückzuführen, dass
diejenigen, die sie aussprachen, sie im gleichen Atemzug widerlegen konnten.(1)
Der Schuldbegriff steht im
Mittelpunkt eines Gewebes aus historischem Wissen und privatem Gefühl, aus
öffentlichen Bekenntnissen und Zurückweisungen. In Westdeutschland erfuhr der
Schuldbegriff nach dem Krieg eine nahezu obsessive Verwendung; die Diskussion
darum bezog sich auf tatsächliche oder vermeintliche Vorwürfe »aus dem Ausland«
– und damit waren in erster Linie die USA und Großbritannien gemeint. Über die
dort tatsächlich geführten Auseinandersetzungen um die Schuld der Deutschen war
hingegen wenig Genaues bekannt. »Nazism is not an aberration but an outcome«,
hatte der britische Diplomat und Publizist Lord Vansittart schon 1941
geschrieben und damit eine der wichtigsten Konstanten der Diskussion in
Großbritannien vorweggenommen: Der Nationalsozialismus sei kein
»Betriebsunfall«, er habe eine Vorgeschichte und sei das Ergebnis einer
Entwicklung, an der viele Deutsche aktiv oder duldend beteiligt seien. Für
diese Mitschuld sollten sich die Deutschen später verantworten. Die Diskussion
in Großbritannien kreiste um Schuld und Verantwortung, und dies in stärkerem
Maße, je mehr Details über die NS-Massenverbrechen bekannt wurden. Die
Reeducation-Politik nach Kriegsende verfolgte deshalb das Ziel, die Deutschen
mit der Realität der Verbrechen zu konfrontieren. Die Diskussion um die
»deutsche Schuld« in Großbritannien und den USA während des Zweiten Weltkrieges
umfasste die Fragen der Verursachung des Nationalsozialismus, des Krieges und
der Verbrechen im Krieg, sie thematisierte die Wirkungen und Folgen dieser
Ereignisse, und sie problematisierte normative Verfehlungen auf Seiten der
Feinde. Zuweilen vermischten sich diese intellektuellen, politischen und
moralischen Schulddiskurse – das mag wie auch die Bombardierung deutscher
Großstädte sowie die Vertreibungen von Deutschen aus Polen und der
Tschechoslowakei dazu beigetragen haben, dass in der subjektiven Wahrnehmung
die Alliierten getreu der Kollektivschuldthese gehandelt hätten. Insgesamt
jedoch dominierte sowohl in den öffentlichen Debatten über Deutsche und Nazis
während des Krieges als auch in den konkreten Nachkriegsplanungen der
Alliierten ein eher pragmatischer und auf die politische Verantwortung
zielender Umgang mit dem Schuldbegriff, der selten eine metaphysische Facette
enthielt. Nur in die Fragen, ob das deutsche Volk mit dem Regime zu
identifizieren und wie deutsch der Nationalsozialismus sei, spielten moralische
Wertungen stärker hinein.(2)
Die Debatte um die deutsche
Schuld fand in Deutschland nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft
ihre Fortsetzung. Schon unmittelbar nach Kriegsende trifft man auf zahlreiche
Äußerungen von Kirchenmännern, Intellektuellen und Politikern zur
»Schuldfrage«. Ihren Höhepunkt hatte die Diskussion in den Jahren 1945 bis
1948, sie ebbte in den Anfangsjahren der Bundesrepublik langsam ab. Die
Zurückweisung der Kollektivschuldthese sollte gleichwohl ein bleibendes Ritual
in der alten Bundesrepublik bleiben. Am frühesten tauchte der Begriff der
Kollektivschuld in Hirtenbriefen und Eingaben der Kirchen gegen die
Entnazifizierung auf. Die Diskussion verlagerte sich dann in Teile der
politisch-kulturellen Literatur und fand vor allem in zahlreichen neu
gegründeten Zeitschriften ein Forum. Parallel dazu wehrten sich Politiker aller
Couleur in Reden mit großer Regelmäßigkeit gegen eine Kollektivschuld der
Deutschen. Trotz der großen Bandbreite an Quellen waren die jeweiligen
Äußerungen zur »Schuldfrage« erstaunlich homogen. Es dominierten insbesondere
zwei Deutungsmuster von Schuld: Zum einen wies man das angeblich pauschale
Schuldurteil der Weltöffentlichkeit über das deutsche Volk zurück, indem man
die vermeintlich geringe Teilhabe der deutschen Bevölkerung am
Nationalsozialismus und die weite Verbreitung von Widerstand anführte. Zum
anderen wurde durchaus eine kollektive Schuld akzeptiert, allerdings in einer
Definition, die in einer christlich-theologischen Auslegung den Kreis der
Schuldigen weit über die Deutschen hinaus ausdehnte. In Kombination dieser
beiden Argumente wurde den Alliierten vorgehalten, dass jedweder Schuldspruch
über die Deutschen eine Anmaßung sei.
Die frühesten, mitunter auch
lautesten Stimmen kamen dabei aus den Kirchen. Aus ihrem Selbstverständnis als
intakte ›Ordnungsmächte‹ und ungebeugte Gegenspieler des NS-Regimes heraus
äußerten sich die Kirchen zwischen 1945 und 1948 mit großer Regelmäßigkeit zur
»Schuldfrage«. Vertreter beider Konfessionen verwahrten sich gegen
Verurteilungen aus dem Ausland und machten die Kirche zum Subjekt der Vergebung
von Schuld. Grundstein dieser Haltung war das Postulat einer prinzipiellen
Dichotomie zwischen der Gemeinschaft der Christen und den Nationalsozialisten.
Der Nationalsozialismus wurde als Herrschaft einer kleinen Verbrecherclique
über ein wehrloses Volk dargestellt und mit der gesamten Schuld beladen. Den
»Mordgesellen Hitlers und Himmlers« habe, so betonten etwa die bayrischen
Bischöfe in einem Hirtenwort, ein »Riesenheer unschuldiger Menschen«
gegenübergestanden, darunter auch »Säuglinge und kleine Kinder, Greise und
Mütter«.(3) Eine Mitschuld der Deutschen an den Massenverbrechen wiesen die
Kirchen zurück: »Von den Unmenschlichkeiten, die in den Konzentrationslagern
gegen meist [sic!] unschuldige Menschen begangen wurden, hat das deutsche Volk
mit wenigen Ausnahmen keine Kenntnis gehabt ...«(4), verkündeten die bayrischen
Bischöfe. Dennoch habe, so der Fuldaer Erzbischof Dietz, das deutsche Volk,
»soweit es christlich war, die Ausrottung des Judentums auf das allerschärfste
als ungeheuerlichen Massenmord verurteilt und die harte Behandlung anderer
Völker durch den Nationalsozialismus als eine Schändung der deutschen Ehre
empfunden«.(5) Zwar waren diese beiden Postulate nicht widerspruchslos
aufeinander beziehbar; das tat ihrer Wirksamkeit aber keinen Abbruch.
Eine Ergänzung zur harschen
Zurückweisung einer Gesamtschuld der Deutschen bildeten die theologischen
Schulddefinitionen. Neben der Erbsünde konnte es aus kirchlicher Sicht nur eine
Art von kollektiver Schuld geben: die Abkehr vom christlichen Gesellschaftsideal,
der Abfall von Gott im »Kollektivegoismus«(6) der Moderne. Dieser Irrweg sei
aber kein spezifisch deutsches Phänomen; vielmehr sei der Nationalsozialismus
nur der Höhepunkt der verhängnisvollen Säkularisierung des Abendlandes
insgesamt. Mit dieser Argumentation ließ sich der Schulddiskurs für das
Vorhaben einer umfassenden Rechristianisierung einspannen. Auf diese Weise
wurde die Diskussion über die Schuld der Deutschen an den konkreten Verbrechen
in eine Debatte über die Schuld am Siegeszug der Moderne umgedeutet und in
kulturkritischer Tradition vor allem auf die westlichen Protagonisten von
Zivilisation und Säkularisierung zurückgeleitet.
Zugleich sprachen
Kirchenvertreter und Theologen den alliierten Besatzern die Berechtigung ab,
über Schuld und Unschuld der Deutschen zu richten. Wer auf ein Schuldbekenntnis
dränge, maße sich göttliche Befugnisse an und behindere den Prozess der
Selbstprüfung und Gewissenserforschung. Es entstehe schweres Unrecht, wenn
»eine menschliche Obrigkeit nunmehr zu strafen unternimmt, was allein nach
göttlichem Recht als Unrecht zu gelten hat«.(7) Die Schuldpropaganda der
Alliierten sei mithin kontraproduktiv, weil sie, so der Rat der EKD 1945, durch
»Übertreibungen und Verallgemeinerungen« die »Ohren der Menschen verstopft«;
nun sei es an der Zeit, dass durch »Erkenntnis der Schuld« ein echtes
»Schuldbewusstsein im deutschen Volke« entstehe.(8)
Dies wiederum bot die
Grundlage für eine an Heftigkeit rasch zunehmende Polemik der Kirchen gegen die
»Siegerjustiz« der Alliierten: In Reeducation und Entnazifizierung brächten die
Siegermächte, so der Vorwurf, nur das Recht des Stärkeren zur Geltung, deshalb
sei ihre Politik prinzipiell mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft
vergleichbar. Der Münsteraner Bischof Galen etwa beschrieb die
Kollektivschuldthese mit Worten, die an die schlimmsten Verbrechen des zu Ende
gegangenen Vernichtungskrieges gemahnen mussten, indem er forderte: »Fort mit
... einer Haltung, die es zulässt, ... dass wehrlose Männer ermordet, dass
Frauen und Mädchen von vertierten Wüstlingen vergewaltigt werden. Fort mit
einer Haltung und Gesinnung, die einer etwaigen Hungersnot im deutschen Lande
untätig zuschauen würde, in der unwahren Meinung: Alle Deutschen sind
Verbrecher und verdienen schwerste Bestrafung, ja Tod und Ausrottung!«(9) Die
Kirchen machten sich zum Fürsprecher derjenigen Deutschen, die sich ungerecht
behandelt fühlten. Sie erklärten die Deutschen zunächst zu den
Hauptleidtragenden des NS-Regimes. »Das deutsche Volk ist viel mehr Opfer als
Träger dieser Greueltaten gewesen«,(10) postulierte der Kölner Kardinal Frings.
Nach der Zeit des Leidens würden die Deutschen nun noch zu allem Übel von der
Weltöffentlichkeit beschuldigt und schlecht behandelt. Die Ausführungen zu
Schuld und Sühne endeten fast zwangsläufig in der Umkehrung des Opferstatus:
Die Deutschen seien Opfer gleich zweier Ungerechtigkeiten, zunächst der
Nationalsozialisten, dann der Siegermächte.
Indem die Kirchen Schuld und
Strafe dem weltlichen Urteil entzogen, entwerteten sie die juristische
Verfolgung der NS-Verbrechen. Schuldzuweisungen wurden oft als Ausdruck und
Teil eines allumfassenden Kollektivschuldvorwurfs interpretiert; dieser habe
schon a priori existiert und müsse deshalb zurückgewiesen werden. Die spätere Karriere
des Schuldbegriffs als politisches Argument ist untrennbar verbunden mit dieser
Agitation gegen die alliierte Entnazifizierungspolitik, an der Vertreter beider
Konfessionen maßgeblich beteiligt waren. Sie setzte sich auch dann fort, als
die Entnazifizierung beendet wurde und nur noch einzelne Schwerbelastete zur
Rechenschaft gezogen werden sollten.
Die Hegemonie
theologisierender und metaphysischer Interpretationsmuster bei den Diskussionen
über die Ursachen des »Dritten Reiches«, über Verantwortung und Schuld an der
»deutschen Katastrophe« wurde besonders an der Diskussion deutlich, die eine
kleine Gruppe von Intellektuellen – von einer Öffentlichkeit konnte zu diesem
Zeitpunkt noch keine Rede sein – in den Jahren 1946 bis 1949 führte, zumeist in
den zahlreichen neu gegründeten politisch-kulturellen Zeitschriften. Schon die
Titel dieser Zeitschriften – Der Ruf, Die Wandlung, Anfang und Ende, Das
Abendland – verkündeten einerseits die Bereitschaft, nach dem »Irrweg«
deutscher Geschichte sich mit der Welt zu verständigen, und propagierten
andererseits jene Innerlichkeit und Selbstbezogenheit, die einer öffentlichen
Debatte über die Verbrechen und ihre Folgen gerade entgegenstanden. Als
Initialzündung kann die Veröffentlichung von Karl Jaspers Werk Die
Schuldfrage (1946) gelten.
Man müsse, so Jaspers
Hauptthese, Schuld in vier Schuldarten aufspalten: kriminelle, politische,
moralische und metaphysische Schuld. Von diesen vier Schuldkategorien betreffe
das deutsche Volk als Ganzes nur die politische Schuld: »Kollektivschuld eines
Volkes oder einer Gruppe innerhalb der Völker also kann es – außer der
politischen Haftung – nicht geben, weder als verbrecherische, noch als
moralische, noch metaphysische Schuld.« Die Bürger eines Staates seien aber, so
Jaspers, für die Folgen des Handelns ihrer politischen Führung haftbar. Diese
Feststellung von politischer Verantwortung knüpfte an die während des Krieges
in der britischen Öffentlichkeit diskutierten Ansätze an und unterschied
Jaspers »Schuldfrage« von anderen Schuldtraktaten der Epoche. Zugleich ist
Jaspers Schrift aber typisch für die Nachkriegszeit, weil sie dem inneren
Umgang mit Schuld Vorrang vor deren öffentlicher Debatte einräumte. Die
Entscheidung über Schuld und Unschuld wird hier als Gegenstand individueller
Gewissenserforschung, nicht als Frage politischer Verantwortung und
öffentlicher Erörterung beschrieben: »Die Schuldfrage ist mehr noch als eine
Frage seitens der andern an uns eine Frage an uns selbst.«(11)
Jaspers beließ es bei der
Feststellung der kollektiven Haftung. Von Taten, Tätern und Tatorten war nicht
die Rede. Jaspers erhob Schuld zu einer »conditio humana«, einer Seinsbedingung
des Menschen als solchem. Den Deutschen legte er Läuterung und innere Einkehr
nahe, um das eigene Schuldbewusstsein zu fördern, gewissermaßen eine
Selbstprüfung der Tätergesellschaft: Wir wollen unsere Schuld aufspüren, aber
niemand darf uns vorschreiben, wie das zu geschehen hat – so lässt sich seine
Position zugespitzt zusammenfassen. Jaspers Individualisierung von Schuld
unterschied sich deutlich von den Abwehrstrategien der Kirchen und den
Versuchen der Umdrehung des Opferstatus. Auf der anderen Seite wurden seine
Ausführungen auch als durchaus unzureichend und problematisch kritisiert, etwa
von Heinrich Blücher, dem Lebensgefährten Hannah Arendts, dem das rhetorische
Pathos und der existenzielle Duktus der jasperschen Seinsphilosophie übel
aufstieß. Das »christlich-scheinheilige Gequatsche« und das ganze »ethische Reinigungsgebabbel«
der Schuldfrage diene bei den Deutschen nur dazu, »sich weiter ausschließlich
mit sich selbst befassen zu können«.(12)
Noch stärker als Jaspers
trugen andere Intellektuelle dazu bei, dass die Schuldfrage zu einem Problem
der Seelenverfassung wurde. An prominenter Stelle waren dabei Psychologen und
Psychoanalytiker wie Carl Gustav Jung oder Alexander Mitscherlich beteiligt.
Sie verwandelten Schuld in eine Neurose und zeigten den Deutschen Wege des
Umgangs mit Schuld auf. Nicht die Auswirkungen schuldhaften Verhaltens wurden
thematisiert, sondern die inneren Schäden, die es hinterließ. Zur Zurückweisung
der Kollektivschuld sahen sich vor allem Historiker berufen, die die geistigen
Besitzstände Deutschlands verteidigten. Mehr als alle anderen fühlte sich
Gerhard Ritter, von 1949 bis 1953 Vorsitzender des deutschen
Historikerverbandes, von den Anklagen im Ausland herausgefordert. Der
nationalkonservative Gelehrte schrieb daraufhin Europa und die deutsche
Frage (1948). Gerhard Ritter kämpfte für eine Entnationalisierung der
Schuld. Der Nationalsozialismus war für ihn nicht lutherisch, nicht preußisch
und nicht deutsch. Er kam aus den Tiefen der rousseauschen volonté générale,
der radikal-demokratischen Freiheitsidee aus Frankreich, die das christliche
Weltbild eingerissen und dem totalitären System Tür und Tor geöffnet habe.
Nationalsozialismus und Kommunismus waren der Feind. Gegen die Anklage der
geistigen Besitzstände der deutschen Nation und die These vom deutschen
Charakter des Nationalsozialismus setzte er historische Selbstvergewisserung
und das Postulat anknüpfungsfähiger Traditionen. Über Schuld wollte er nicht
reden, weder über die seiner Zunft, noch die der deutschen Nation.
In der Politik besaß der
Schuldbegriff ein erhebliches Skandalisierungspotenzial: Viele Politiker der
ersten Stunde verbaten sich vehement jegliche Schuldzuweisung durch die
Besatzungsmächte und pochten auf das Recht der Deutschen, selbst über ihre
Schuld zu befinden. Als Kernereignis des vorgeblich kollektiven Schuldspruchs
und als nationale Kränkung galt die Entnazifizierung. Sie war schon frühzeitig
delegitimiert worden und in der Folgezeit genügte ein Hinweis auf die Praxis
der Entnazifizierung, um jeglicher Schuldzuweisung die Berechtigung
abzusprechen. In den ersten vier Jahren der Bundesrepublik wurde mit der
Zurückweisung der Kollektivschuld gezielt Amnestie-Politik betrieben, etwa für
Angehörige der in Nürnberg verurteilten Organisationen, für Wehrmachtssoldaten
und für Kriegsverbrecher. Der Schuldbegriff erwies sich bei der Eingliederung
des NS-Massenpersonals als vielseitig einsetzbar, weil hinter der Zurückweisung
der Kollektivschuld die Schuld einzelner Gruppen verborgen werden konnte.
Allerdings erging das
Integrationsangebot unter Vorbehalt. Bedingung der öffentlichen Vergebung war,
dass die Belasteten Besserung zeigten und den sich entfaltenden demokratischen
Grundkonsens nicht durch allzu schrille Töne störten. Am besten fassbar wird
die Gleichzeitigkeit von Vergebung und Pädagogik an dem von Theodor Heuss
geprägten Begriff der »Kollektivscham«.(13) »Kollektivscham« sollte ein Gefühl
bezeichnen, das der Angehörige des deutschen Volkes angesichts der Verbrechen
empfindet, die von seinen Landsleuten »in deutschem Namen« begangen wurden, mit
denen er zwar nichts zu tun hat, für die er sich aber durch Zugehörigkeit zu
eben diesem Kollektiv schämt: »Man hat von einer ›Kollektivschuld‹ des
deutschen Volkes gesprochen. Das Wort Kollektivschuld und was dahinter steht
ist aber eine simple Vereinfachung, es ist eine Umdrehung, nämlich der Art, wie
die Nazis es gewohnt waren, die Juden anzusehen: dass die Tatsache, Jude zu
sein, bereits das Schuldphänomen in sich eingeschlossen habe. Aber etwas wie
eine Kollektivscham ist aus dieser Zeit gewachsen und geblieben. Das
Schlimmste, was Hitler uns angetan hat – und er hat uns vieles angetan –, ist
doch dies gewesen, dass er uns in die Scham gezwungen hat, mit ihm und seinen
Gesellen gemeinsam den Namen Deutscher zu tragen.«
Nach Heuss wurden die
Deutschen von Hitler in diese Schuld hineingezogen. Wenn man nun die Deutschen
mit den Nationalsozialisten in einen Topf werfe, würde die aufgezwungene
Gemeinschaft nachträglich noch bestätigt. Der Vergleich der
Kollektivschuldthese mit dem Antisemitismus lag nach dieser Logik nahe.
Allerdings stritt Heuss nicht ab, dass eine Beziehung zwischen der
Volksgemeinschaft des Nationalsozialismus und dem Kollektiv der Deutschen nach
dem Krieg bestehe. Der »Scham«-Begriff berücksichtigte somit zwei gegenläufige Interessen:
Zum einen die normative und sprachliche Abgrenzung vom Nationalsozialismus, die
unerlässlich für den Demokratisierungsprozess war und vom »Ausland« gefordert
wurde, zum anderen das Bedürfnis der »schweigenden Mehrheit« nach
Schuldentlastung.
Die »Entmythisierung« der
Schulddebatte setzte erst seit den späten Fünfzigerjahren ein, als sich die
»Schuldfrage« unter veränderten Vorzeichen neu stellte. Die Schuldtraktate der
vorausgegangenen Jahre erschienen nun zunehmend als anachronistisch, weil die
einsetzenden NS-Verfahren deutlich machten, dass die nationalsozialistischen
Verbrechen durchaus bestimmten Personen und Orten zuzuordnen waren. Vor allem
in den Sechzigerjahren traten die bisherigen Versäumnisse in den Blickpunkt.
Ein Ausgangspunkt des Perspektivwechsels war Theodor W. Adornos 1959
erschienener Text »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«. Dieser machte
das Diktum von der »Aufarbeitung der Vergangenheit« zum geflügelten Wort und
entfaltete eine große Wirkungsmacht. Adorno äußerte sich kritisch über die
Interpretationslinien der »Schulddebatte« der Nachkriegszeit und hinterfragte
das Ritual der Kollektivschuldabwehr: »Es wird da immer wieder auf den so
genannten Schuldkomplex verwiesen, oft mit der Assoziation, dieser sei durch
die Konstruktion einer deutschen Kollektivschuld eigentlich erst erschaffen
worden.«(14) Adorno sah dagegen den Schuldkomplex als von den Deutschen selbst
gemacht und diagnostizierte »im Verhältnis zur Vergangenheit viel Neurotisches:
Gesten der Verteidigung dort, wo man nicht angegriffen ist; heftige Affekte an
Stellen, die sie kaum rechtfertigen.« Adornos Schulddefinition blieb nicht beim
Befund des seelischen Defektes stehen, sondern untersuchte dessen
gesamtgesellschaftliche Folgen. Er ordnete den bisher geübten Umgang mit Schuld
einem intentionalen Hintergrund zu, insofern er die Abwehr von unangenehmen
Erinnerungen und die Tendenz des Vergessens und Verschweigens als gewollte
Prozesse charakterisierte. Diese Erkenntnis übertrug Adorno auf die Analyse der
bundesdeutschen Gesellschaft und skizzierte einen Kollektivcharakter, dessen
Existenz sich aus dem Überdauern von gewissen Verhaltensmustern aus der NS-Zeit
und der erfahrenen kollektiven Kränkung des Zusammenbruchs heraus erklärte. Adorno
verwies damit auf eine veränderte Schulddefinition, die die Sechzigerjahre
entscheidend prägte: Schuld war nicht mehr eine Frage des Individuums an sich
selbst, sondern eine Frage der Mitglieder einer Gesellschaft an ihr
Gemeinwesen, das heißt an die geistige Verfassung und an die politische Kultur
einer Gesellschaft. »Schuld« war für Adorno individuell und gesellschaftlich
zugleich; die Zurückweisung der ungerechten, weil pauschalisierenden
Kollektivschuldthese diente aus seiner Sicht nur dem Zweck, über die
tatsächliche individuelle und staatlich organisierte Schuld nicht reden zu
müssen.
Adornos einstiger Tabubruch
ist mittlerweile Vergangenheit. Seine Forderung, über wirkliche Schuld der
Volksgenossen zu sprechen und die gesellschaftlichen Bedingungen von
verbrecherischen Taten und ihrer Verdrängung zu thematisieren, gilt
mittlerweile als antiquiert, nachdem in den Neunzigerjahren in der Goldhagen-
und Wehrmachtsdebatte endlich über konkrete Täter, Taten und Tatorte öffentlich
debattiert wurde. Dieses öffentliche Reden über die konkrete Schuld so
unglaublich vieler Deutscher möchte Dagmar Barnouw nun offensichtlich hinter
sich lassen. Zumindest empfindet sie es als einseitig und undifferenziert und
von fremden Interessen bestimmt. Sie kritisiert Erinnerungsritual und
Erinnerungskontrolle, die einem modernisierten deutschen Geschichtsdiskurs im
Wege stünden.
Längst jedoch befinden wir
uns in einem neuen Stadium der so genannten Vergangenheitsbewältigung – ein
fürwahr deutsches Wort, das keinerlei Entsprechung in anderen Sprachen findet.
Bewältigt werden musste einst die »deutsche Katastrophe« – damit konnten je
nach Gusto die Kriegsniederlage, der Verlust Hitlers, die kollektive nationale
Kränkung, aber auch individuelle wie kollektive Formen von Schuld gemeint sein.
Immer auch ging es um die richtige Deutung des Nationalsozialismus: zunächst um
»1933«, also die Frage, wie es zur Machtergreifung des »Faschismus« kommen
konnte; dann, ab den Neunzigerjahren, um »1945«, also die Frage, wie es zur
rassistisch-antisemitischen Vernichtungspolitik durch den »Nationalsozialismus«
kommen konnte. Heute erleben wir eine erneute Umcodierung der NS-Vergangenheit
durch die Erinnerungsgemeinschaft der Kriegskinder, die sich dem Selbstmitleid
der nachnationalsozialistischen Volksgemeinschaft empathisch annähert. Dabei
geht es nicht allein um die Trauer um die Toten von Bombenkrieg, Flucht und
Vertreibung oder um gefallene Soldaten wie Kanzler Schröders Vater. Um die
»durfte« man schon immer trauern, sei es privat, an Volkstrauertagen oder gar
offiziell, wenn im alten Bonn von den »Opfern von Krieg und Gewalt« die Rede
war. Nein, spätestens seit Walsers »Auschwitzkeule« und erst recht seit
Friedrichs »Bombenkrieg« geht es um eine neue Gedenkkultur: Es hat sich ein
Opfer-Diskurs etabliert, der an die unmittelbare Nachkriegszeit anknüpft. Die
Bekämpfung vermeintlich manichäischer Erinnerungsdiskurse wie jener der
Kollektivschuld ist keineswegs so neu und modern, für wie diese sich hält, und
die geforderte historische Differenzierung verweigert sich den Erkenntnissen
der historischen NS-Forschung. Wie schon in den großen Debatten des
amerikanischen und britischen Exils – etwa die zwischen Bertolt Brecht und
Thomas Mann – geht es um den Nachweis einer Nichtidentität zwischen Hitler und
den Deutschen und der Existenz eines »anderen Deutschlands«. Nachträglich wird
Politik, die als »Bestrafung« oder »Umerziehung« der Deutschen interpretiert
werden kann, denunziert. Dass man wohl bis weit in die Fünfzigerjahre hinein
von einer Hegemonie nationalsozialistischer, mindestens nationalistischer
Einstellungen in der westdeutschen Gesellschaft, also einer Fortdauer der
Volksgemeinschaft, ausgehen muss, interessiert nicht. Genauso wenig wie der
Konsens innerhalb der seriösen Geschichtswissenschaft, dass, trotz aller Formen
der Entgrenzung und Radikalisierung, der Luftkrieg gegen Deutschland wenig mit
Rache zu tun hatte, sondern ein zentrales Element der Kriegführung war, das mit
der Zerstörung von Rüstungsfabriken, Energiereserven und Verkehrswegen das
Nervenzentrum des »Dritten Reiches« und seines aggressiven Expansionskrieges
traf.(15) Selbst die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa folgte
weniger der Logik eines Potsdamer Strafgerichts, sondern der Erwägung, durch
Bevölkerungstransfers stabilere Nationalstaaten zu schaffen, als dies die
Versailler Ordnung vermochte. Es besteht insgesamt gesehen also wenig Anlass
für eine erneuerte Täter-Opfer-Debatte. Das schließt keineswegs aus, an
deutsche Opfer des Krieges und seiner Folgen zu erinnern. Ein Tabu war eine
solche Erinnerung ohnehin nie.
Barnouw vermutet hinter dem
Beharren auf die »Einzigartigkeit« der Nazi-Verbrechen, hinter »Bannwörtern«
wie »Apologetik« und »Antisemitismus«, hinter deutscher »Betroffenheit« und
»Selbstzensur« machtpolitische Dimensionen. Die mag es gegeben haben, und sie
mag es immer geben. Gerade deshalb ist ihr demonstrierter Drang nach freien und
kritischen Debatten und Kontroversen selbst der Frage »Cui bono?« unterworfen.
Wie schon die Intellektuellen der Nachkriegszeit kämpfen Barnouw und verwandte
Stimmen gegen Phantome wie Kollektivschuldthese, Gesinnungspolizei und
interessierte Kreise, die ihr moralisch-politisches Süppchen kochen. Doch die
Zurückweisung der Kollektivschuldthese und der angeblich differenzierte und
ausgewogene Blick auf die Deutschen sind selber nicht jenseits
nationalistischer politischer Strategien entstanden. Die Kollektivschuldthese
hat es in Form und Inhalt, wie sie empört zurückgewiesen wurde, nicht gegeben;
die Kritik an Martin Walser war nicht Ausdruck eines geregelten und
fremdbestimmten kollektiven Gewissens, sondern Bestandteil einer
funktionierenden politischen Öffentlichkeit; und die neue deutsche Opferwelle
ist die erinnerungspolitische Begleitmusik einer neuen weltpolitischen Rolle,
die ein »normalisiertes« Deutschland mittels Europa anstrebt. Die Abrechnung
mit den USA ist Teil dieses Perspektivwechsels. Barnouw mag es um eine Kritik
westlicher, insbesondere amerikanischer Selbstherrlichkeit gehen; in
Deutschland ist die Entdeckung der deutschen Opfer nichts anderes als
vergangenheitspolitische Begleitmusik einer neuen, normalen deutschen
Identität, die nun endlich den gekränkten nationalen Narzissmus wieder zum
Recht verhelfen will.
Dagmar Barnouw mag beruhigt
sein: Ihr Kampf gegen das Phantom Kollektivschuld ist längst geführt und
gewonnen worden. Deutschland ist »normal« – daran hegt in der Welt kaum noch
jemand Zweifel, gleichgültig ob es eine stabile Volksgemeinschaft mit hohem
kollektivem Schuldkonto oder ein »anderes Deutschland« gegeben hat. Auch über
die deutsche Geschichte darf jeder sagen, was er will, und sei es der größte
Unsinn, solange er den Holocaust nicht leugnet. Kein GI und kein Jude hindern
ihn daran. Es bleiben nur noch zwei Fragen: Was kommt nach der »gefühlten
Geschichte«, die die Deutschen als Opfer historisiert und den »Hitler als
Mensch«-Filmevent feiert? Und: Was soll man eigentlich von jemandem halten, der
einem unaufgefordert unentwegt versichert, er sei ganz »normal«?
1
Norbert Frei: »Von deutscher Erfindungskraft oder: Die
Kollektivschuldthese in der Nachkriegszeit«, in: Rechtshistorisches Journal,
16, 1997, S. 621–634.
2
Vgl. Jörg Später: Vansittart. Britische Debatten über
Deutsche und Nazis, 1902–1945, Göttingen 2003.
3
Bayrische Bischöfe: »Hirtenwort über das Glaubensleben und
Zeitprobleme, Eichstätt, 9.4.1946«, in: Wolfgang Löhr (Hrsg.): Hirtenbriefe
und Ansprachen zu Gesellschaft und Politik. Bd. 1, 1945–1949, Würzburg 21996,
S. 99-103, hier S. 103.
4
Bayrische Bischöfe: »Erstes gemeinsames Hirtenwort nach dem
Krieg, 21.6.1945«, in: ebd., S. 31.
5
Dietz an die Amerikanische Militärregierung, Fulda,
27.7.1945, in: Ludwig Volk (Hrsg.): Akten deutscher Bischöfe, Mainz
1985, S. 612 f.
6
Johann B. Schuster: »Kollektivschuld«, in: Stimmen der
Zeit, 139, 1946/47, S. 101-117, hier: S. 114.
7
Schreiben des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen
Kirche in Deutschland an die Amerikanische Militärregierung für Deutschland
betreffend das Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus,
26.4.1946, in: Friedrich Merzyn (Hrsg): Kundgebungen. Worte und Erklärungen
der Evangelischen Kirche in Deutschland 1945–1959, Hannover o. J., S. S.
27/28.
8
Schreiben des Rates der EKD, 3.11.1945, in: Merzyn (Hrsg.): Kundgebungen,
a. a. O., S. 15/16.
9
von Galen: »Predigt«, in: Volk: Akten…, a. a. O., S.
566.
10
Frings: »Denkschrift 2.8.1945«, in: Volk: Akten…, a.
a. O., S. 625.
11
Ebd.
12
Brief von Heinrich Blücher an Hannah Arendt, 15.7.1946, in:
Hannah Arendt – Heinrich Blücher: Briefe 1936–1968, München und Zürich
1996, S. 146.
13
Theodor Heuss: »Mut zur Liebe. Ansprache vor der
›Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit‹ in Wiesbaden, 7.12.1949«,
in: Voigt: Theodor Heuss, a. a. O., S. 382.
14
Theodor W. Adorno: »Was bedeutet: Aufarbeitung der
Vergangenheit« (1959), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2,
Frankfurt am Main 1977, S. 555–572, hier: S. 556.
15
Vgl. Rolf-Dieter Müller: Der Bombenkrieg 1939–1945,
Berlin 2004.
Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe 2/05