JÖRG SPÄTER

 

Phantom Kollektivschuld

 

Die neue deutsche Opferwelle und die Schulddebatte nach dem Zweiten Weltkrieg

 

 

Gab es ein pauschales Schuldurteil der Weltöffentlichkeit über das deutsche Volk? Oder hat der Schuldbegriff im Zusammenhang mit der Herrschaft der Nazis, dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust für die Deutschen eine besondere Prägung erhalten? Wurde überhaupt von Engländern und Amerikanern der Vorwurf der Kollektivschuld erhoben? Oder war das nicht vielmehr eine Projektion, die nicht zuletzt von Kirchen und Intellektuellen aus Gründen der Entlastung entrüstet zurückgewiesen wurde?

 

Dagmar Barnouw empfiehlt in ihren Kommune-Beiträgen »Vom Nutzen und Nachteil der Erinnerung« (2/03) und »Diesseits von Gut und Böse: Carl Zuckmayers Differenzierungen« (2/04) einen neuen, kritischen und freieren Umgang mit der Geschichte. Sie beklagt die bisherige Ritualisierung der »Einzigartigkeit von Auschwitz«, die Sprechverbote und absurden Verdächtigungen gegen Tabubrecher wie Martin Walser, die politische Instrumentalisierung eines mythologischen Geschichtsbildes durch Amerikaner und Israelis, die bis heute virulente Einforderung von Reue-Bezeugungen durch die einstigen Alliierten und die Selbstanklagen der Deutschen, vor allem aber die angeblich widerspruchslos fortwirkende Kollektivschuldthese. Barnouws Intervention zieht drei Fragen nach sich: Wie neu und bahnbrechend sind eigentlich die empfohlenen Differenzierungen, etwa die Entdeckung, dass auch Deutsche Opfer sein konnten; hat es die Kollektivschuldthese, wie Barnouw sie unter Berufung auf Carl Zuckmayer zurückweist, überhaupt so gegeben; und welche Funktion kommt ihrerseits der Befreiung vom »Schuldkomplex« der Deutschen zu?

 

Schuld – Karriere eines Begriffes

»Schuld« ist eines der großen Reizworte der deutschen Nachkriegsgeschichte. Der Schuldbegriff begleitet die öffentliche Diskussion über den Nationalsozialismus und seine Folgen seit über fünf Jahrzehnten – und ist dabei weder klar definiert noch unumstritten. Kontrovers diskutiert wird vor allem die »Kollektivschuld«, ein Vorwurf, den nach Ansicht vieler Deutscher die alliierten Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg gegen Deutschland erhoben haben.

Ist aber ein solcher Vorwurf an die Deutschen überhaupt jemals erhoben worden? Norbert Frei vertrat die These, der Kollektivschuldvorwurf sei eine Erfindung der Deutschen selbst und »den Konstruktionen des deutschen Kollektivbewusstseins – vulgo des schlechten Gewissens« – entsprungen. Frei wertete diese Projektion als »indirektes Eingeständnis der gesamtgesellschaftlichen Verstrickung in den Nationalsozialismus« und als »unbewusste Anerkennung der Kollektivschuldthese«. Das Postulat der Kollektivschuldthese sei vielmehr darauf zurückzuführen, dass diejenigen, die sie aussprachen, sie im gleichen Atemzug widerlegen konnten.(1)

Der Schuldbegriff steht im Mittelpunkt eines Gewebes aus historischem Wissen und privatem Gefühl, aus öffentlichen Bekenntnissen und Zurückweisungen. In Westdeutschland erfuhr der Schuldbegriff nach dem Krieg eine nahezu obsessive Verwendung; die Diskussion darum bezog sich auf tatsächliche oder vermeintliche Vorwürfe »aus dem Ausland« – und damit waren in erster Linie die USA und Großbritannien gemeint. Über die dort tatsächlich geführten Auseinandersetzungen um die Schuld der Deutschen war hingegen wenig Genaues bekannt. »Nazism is not an aberration but an outcome«, hatte der britische Diplomat und Publizist Lord Vansittart schon 1941 geschrieben und damit eine der wichtigsten Konstanten der Diskussion in Großbritannien vorweggenommen: Der Nationalsozialismus sei kein »Betriebsunfall«, er habe eine Vorgeschichte und sei das Ergebnis einer Entwicklung, an der viele Deutsche aktiv oder duldend beteiligt seien. Für diese Mitschuld sollten sich die Deutschen später verantworten. Die Diskussion in Großbritannien kreiste um Schuld und Verantwortung, und dies in stärkerem Maße, je mehr Details über die NS-Massenverbrechen bekannt wurden. Die Reeducation-Politik nach Kriegsende verfolgte deshalb das Ziel, die Deutschen mit der Realität der Verbrechen zu konfrontieren. Die Diskussion um die »deutsche Schuld« in Großbritannien und den USA während des Zweiten Weltkrieges umfasste die Fragen der Verursachung des Nationalsozialismus, des Krieges und der Verbrechen im Krieg, sie thematisierte die Wirkungen und Folgen dieser Ereignisse, und sie problematisierte normative Verfehlungen auf Seiten der Feinde. Zuweilen vermischten sich diese intellektuellen, politischen und moralischen Schulddiskurse – das mag wie auch die Bombardierung deutscher Großstädte sowie die Vertreibungen von Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei dazu beigetragen haben, dass in der subjektiven Wahrnehmung die Alliierten getreu der Kollektivschuldthese gehandelt hätten. Insgesamt jedoch dominierte sowohl in den öffentlichen Debatten über Deutsche und Nazis während des Krieges als auch in den konkreten Nachkriegsplanungen der Alliierten ein eher pragmatischer und auf die politische Verantwortung zielender Umgang mit dem Schuldbegriff, der selten eine metaphysische Facette enthielt. Nur in die Fragen, ob das deutsche Volk mit dem Regime zu identifizieren und wie deutsch der Nationalsozialismus sei, spielten moralische Wertungen stärker hinein.(2)

Die Debatte um die deutsche Schuld fand in Deutschland nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft ihre Fortsetzung. Schon unmittelbar nach Kriegsende trifft man auf zahlreiche Äußerungen von Kirchenmännern, Intellektuellen und Politikern zur »Schuldfrage«. Ihren Höhepunkt hatte die Diskussion in den Jahren 1945 bis 1948, sie ebbte in den Anfangsjahren der Bundesrepublik langsam ab. Die Zurückweisung der Kollektivschuldthese sollte gleichwohl ein bleibendes Ritual in der alten Bundesrepublik bleiben. Am frühesten tauchte der Begriff der Kollektivschuld in Hirtenbriefen und Eingaben der Kirchen gegen die Entnazifizierung auf. Die Diskussion verlagerte sich dann in Teile der politisch-kulturellen Literatur und fand vor allem in zahlreichen neu gegründeten Zeitschriften ein Forum. Parallel dazu wehrten sich Politiker aller Couleur in Reden mit großer Regelmäßigkeit gegen eine Kollektivschuld der Deutschen. Trotz der großen Bandbreite an Quellen waren die jeweiligen Äußerungen zur »Schuldfrage« erstaunlich homogen. Es dominierten insbesondere zwei Deutungsmuster von Schuld: Zum einen wies man das angeblich pauschale Schuldurteil der Weltöffentlichkeit über das deutsche Volk zurück, indem man die vermeintlich geringe Teilhabe der deutschen Bevölkerung am Nationalsozialismus und die weite Verbreitung von Widerstand anführte. Zum anderen wurde durchaus eine kollektive Schuld akzeptiert, allerdings in einer Definition, die in einer christlich-theologischen Auslegung den Kreis der Schuldigen weit über die Deutschen hinaus ausdehnte. In Kombination dieser beiden Argumente wurde den Alliierten vorgehalten, dass jedweder Schuldspruch über die Deutschen eine Anmaßung sei.

 

Die Kirchen und die Kollektivschuld

Die frühesten, mitunter auch lautesten Stimmen kamen dabei aus den Kirchen. Aus ihrem Selbstverständnis als intakte ›Ordnungsmächte‹ und ungebeugte Gegenspieler des NS-Regimes heraus äußerten sich die Kirchen zwischen 1945 und 1948 mit großer Regelmäßigkeit zur »Schuldfrage«. Vertreter beider Konfessionen verwahrten sich gegen Verurteilungen aus dem Ausland und machten die Kirche zum Subjekt der Vergebung von Schuld. Grundstein dieser Haltung war das Postulat einer prinzipiellen Dichotomie zwischen der Gemeinschaft der Christen und den Nationalsozialisten. Der Nationalsozialismus wurde als Herrschaft einer kleinen Verbrecherclique über ein wehrloses Volk dargestellt und mit der gesamten Schuld beladen. Den »Mordgesellen Hitlers und Himmlers« habe, so betonten etwa die bayrischen Bischöfe in einem Hirtenwort, ein »Riesenheer unschuldiger Menschen« gegenübergestanden, darunter auch »Säuglinge und kleine Kinder, Greise und Mütter«.(3) Eine Mitschuld der Deutschen an den Massenverbrechen wiesen die Kirchen zurück: »Von den Unmenschlichkeiten, die in den Konzentrationslagern gegen meist [sic!] unschuldige Menschen begangen wurden, hat das deutsche Volk mit wenigen Ausnahmen keine Kenntnis gehabt ...«(4), verkündeten die bayrischen Bischöfe. Dennoch habe, so der Fuldaer Erzbischof Dietz, das deutsche Volk, »soweit es christlich war, die Ausrottung des Judentums auf das allerschärfste als ungeheuerlichen Massenmord verurteilt und die harte Behandlung anderer Völker durch den Nationalsozialismus als eine Schändung der deutschen Ehre empfunden«.(5) Zwar waren diese beiden Postulate nicht widerspruchslos aufeinander beziehbar; das tat ihrer Wirksamkeit aber keinen Abbruch.

Eine Ergänzung zur harschen Zurückweisung einer Gesamtschuld der Deutschen bildeten die theologischen Schulddefinitionen. Neben der Erbsünde konnte es aus kirchlicher Sicht nur eine Art von kollektiver Schuld geben: die Abkehr vom christlichen Gesellschaftsideal, der Abfall von Gott im »Kollektivegoismus«(6) der Moderne. Dieser Irrweg sei aber kein spezifisch deutsches Phänomen; vielmehr sei der Nationalsozialismus nur der Höhepunkt der verhängnisvollen Säkularisierung des Abendlandes insgesamt. Mit dieser Argumentation ließ sich der Schulddiskurs für das Vorhaben einer umfassenden Rechristianisierung einspannen. Auf diese Weise wurde die Diskussion über die Schuld der Deutschen an den konkreten Verbrechen in eine Debatte über die Schuld am Siegeszug der Moderne umgedeutet und in kulturkritischer Tradition vor allem auf die westlichen Protagonisten von Zivilisation und Säkularisierung zurückgeleitet.

Zugleich sprachen Kirchenvertreter und Theologen den alliierten Besatzern die Berechtigung ab, über Schuld und Unschuld der Deutschen zu richten. Wer auf ein Schuldbekenntnis dränge, maße sich göttliche Befugnisse an und behindere den Prozess der Selbstprüfung und Gewissenserforschung. Es entstehe schweres Unrecht, wenn »eine menschliche Obrigkeit nunmehr zu strafen unternimmt, was allein nach göttlichem Recht als Unrecht zu gelten hat«.(7) Die Schuldpropaganda der Alliierten sei mithin kontraproduktiv, weil sie, so der Rat der EKD 1945, durch »Übertreibungen und Verallgemeinerungen« die »Ohren der Menschen verstopft«; nun sei es an der Zeit, dass durch »Erkenntnis der Schuld« ein echtes »Schuldbewusstsein im deutschen Volke« entstehe.(8)

Dies wiederum bot die Grundlage für eine an Heftigkeit rasch zunehmende Polemik der Kirchen gegen die »Siegerjustiz« der Alliierten: In Reeducation und Entnazifizierung brächten die Siegermächte, so der Vorwurf, nur das Recht des Stärkeren zur Geltung, deshalb sei ihre Politik prinzipiell mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft vergleichbar. Der Münsteraner Bischof Galen etwa beschrieb die Kollektivschuldthese mit Worten, die an die schlimmsten Verbrechen des zu Ende gegangenen Vernichtungskrieges gemahnen mussten, indem er forderte: »Fort mit ... einer Haltung, die es zulässt, ... dass wehrlose Männer ermordet, dass Frauen und Mädchen von vertierten Wüstlingen vergewaltigt werden. Fort mit einer Haltung und Gesinnung, die einer etwaigen Hungersnot im deutschen Lande untätig zuschauen würde, in der unwahren Meinung: Alle Deutschen sind Verbrecher und verdienen schwerste Bestrafung, ja Tod und Ausrottung!«(9) Die Kirchen machten sich zum Fürsprecher derjenigen Deutschen, die sich ungerecht behandelt fühlten. Sie erklärten die Deutschen zunächst zu den Hauptleidtragenden des NS-Regimes. »Das deutsche Volk ist viel mehr Opfer als Träger dieser Greueltaten gewesen«,(10) postulierte der Kölner Kardinal Frings. Nach der Zeit des Leidens würden die Deutschen nun noch zu allem Übel von der Weltöffentlichkeit beschuldigt und schlecht behandelt. Die Ausführungen zu Schuld und Sühne endeten fast zwangsläufig in der Umkehrung des Opferstatus: Die Deutschen seien Opfer gleich zweier Ungerechtigkeiten, zunächst der Nationalsozialisten, dann der Siegermächte.

Indem die Kirchen Schuld und Strafe dem weltlichen Urteil entzogen, entwerteten sie die juristische Verfolgung der NS-Verbrechen. Schuldzuweisungen wurden oft als Ausdruck und Teil eines allumfassenden Kollektivschuldvorwurfs interpretiert; dieser habe schon a priori existiert und müsse deshalb zurückgewiesen werden. Die spätere Karriere des Schuldbegriffs als politisches Argument ist untrennbar verbunden mit dieser Agitation gegen die alliierte Entnazifizierungspolitik, an der Vertreter beider Konfessionen maßgeblich beteiligt waren. Sie setzte sich auch dann fort, als die Entnazifizierung beendet wurde und nur noch einzelne Schwerbelastete zur Rechenschaft gezogen werden sollten.

 

Die Intellektuellen und die Kollektivschuld

Die Hegemonie theologisierender und metaphysischer Interpretationsmuster bei den Diskussionen über die Ursachen des »Dritten Reiches«, über Verantwortung und Schuld an der »deutschen Katastrophe« wurde besonders an der Diskussion deutlich, die eine kleine Gruppe von Intellektuellen – von einer Öffentlichkeit konnte zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede sein – in den Jahren 1946 bis 1949 führte, zumeist in den zahlreichen neu gegründeten politisch-kulturellen Zeitschriften. Schon die Titel dieser Zeitschriften – Der Ruf, Die Wandlung, Anfang und Ende, Das Abendland – verkündeten einerseits die Bereitschaft, nach dem »Irrweg« deutscher Geschichte sich mit der Welt zu verständigen, und propagierten andererseits jene Innerlichkeit und Selbstbezogenheit, die einer öffentlichen Debatte über die Verbrechen und ihre Folgen gerade entgegenstanden. Als Initialzündung kann die Veröffentlichung von Karl Jaspers Werk Die Schuldfrage (1946) gelten.

Man müsse, so Jaspers Hauptthese, Schuld in vier Schuldarten aufspalten: kriminelle, politische, moralische und metaphysische Schuld. Von diesen vier Schuldkategorien betreffe das deutsche Volk als Ganzes nur die politische Schuld: »Kollektivschuld eines Volkes oder einer Gruppe innerhalb der Völker also kann es – außer der politischen Haftung – nicht geben, weder als verbrecherische, noch als moralische, noch metaphysische Schuld.« Die Bürger eines Staates seien aber, so Jaspers, für die Folgen des Handelns ihrer politischen Führung haftbar. Diese Feststellung von politischer Verantwortung knüpfte an die während des Krieges in der britischen Öffentlichkeit diskutierten Ansätze an und unterschied Jaspers »Schuldfrage« von anderen Schuldtraktaten der Epoche. Zugleich ist Jaspers Schrift aber typisch für die Nachkriegszeit, weil sie dem inneren Umgang mit Schuld Vorrang vor deren öffentlicher Debatte einräumte. Die Entscheidung über Schuld und Unschuld wird hier als Gegenstand individueller Gewissenserforschung, nicht als Frage politischer Verantwortung und öffentlicher Erörterung beschrieben: »Die Schuldfrage ist mehr noch als eine Frage seitens der andern an uns eine Frage an uns selbst.«(11)

Jaspers beließ es bei der Feststellung der kollektiven Haftung. Von Taten, Tätern und Tatorten war nicht die Rede. Jaspers erhob Schuld zu einer »conditio humana«, einer Seinsbedingung des Menschen als solchem. Den Deutschen legte er Läuterung und innere Einkehr nahe, um das eigene Schuldbewusstsein zu fördern, gewissermaßen eine Selbstprüfung der Tätergesellschaft: Wir wollen unsere Schuld aufspüren, aber niemand darf uns vorschreiben, wie das zu geschehen hat – so lässt sich seine Position zugespitzt zusammenfassen. Jaspers Individualisierung von Schuld unterschied sich deutlich von den Abwehrstrategien der Kirchen und den Versuchen der Umdrehung des Opferstatus. Auf der anderen Seite wurden seine Ausführungen auch als durchaus unzureichend und problematisch kritisiert, etwa von Heinrich Blücher, dem Lebensgefährten Hannah Arendts, dem das rhetorische Pathos und der existenzielle Duktus der jasperschen Seinsphilosophie übel aufstieß. Das »christlich-scheinheilige Gequatsche« und das ganze »ethische Reinigungsgebabbel« der Schuldfrage diene bei den Deutschen nur dazu, »sich weiter ausschließlich mit sich selbst befassen zu können«.(12)

Noch stärker als Jaspers trugen andere Intellektuelle dazu bei, dass die Schuldfrage zu einem Problem der Seelenverfassung wurde. An prominenter Stelle waren dabei Psychologen und Psychoanalytiker wie Carl Gustav Jung oder Alexander Mitscherlich beteiligt. Sie verwandelten Schuld in eine Neurose und zeigten den Deutschen Wege des Umgangs mit Schuld auf. Nicht die Auswirkungen schuldhaften Verhaltens wurden thematisiert, sondern die inneren Schäden, die es hinterließ. Zur Zurückweisung der Kollektivschuld sahen sich vor allem Historiker berufen, die die geistigen Besitzstände Deutschlands verteidigten. Mehr als alle anderen fühlte sich Gerhard Ritter, von 1949 bis 1953 Vorsitzender des deutschen Historikerverbandes, von den Anklagen im Ausland herausgefordert. Der nationalkonservative Gelehrte schrieb daraufhin Europa und die deutsche Frage (1948). Gerhard Ritter kämpfte für eine Entnationalisierung der Schuld. Der Nationalsozialismus war für ihn nicht lutherisch, nicht preußisch und nicht deutsch. Er kam aus den Tiefen der rousseauschen volonté générale, der radikal-demokratischen Freiheitsidee aus Frankreich, die das christliche Weltbild eingerissen und dem totalitären System Tür und Tor geöffnet habe. Nationalsozialismus und Kommunismus waren der Feind. Gegen die Anklage der geistigen Besitzstände der deutschen Nation und die These vom deutschen Charakter des Nationalsozialismus setzte er historische Selbstvergewisserung und das Postulat anknüpfungsfähiger Traditionen. Über Schuld wollte er nicht reden, weder über die seiner Zunft, noch die der deutschen Nation.

 

Politiker und die Kollektivschuld

In der Politik besaß der Schuldbegriff ein erhebliches Skandalisierungspotenzial: Viele Politiker der ersten Stunde verbaten sich vehement jegliche Schuldzuweisung durch die Besatzungsmächte und pochten auf das Recht der Deutschen, selbst über ihre Schuld zu befinden. Als Kernereignis des vorgeblich kollektiven Schuldspruchs und als nationale Kränkung galt die Entnazifizierung. Sie war schon frühzeitig delegitimiert worden und in der Folgezeit genügte ein Hinweis auf die Praxis der Entnazifizierung, um jeglicher Schuldzuweisung die Berechtigung abzusprechen. In den ersten vier Jahren der Bundesrepublik wurde mit der Zurückweisung der Kollektivschuld gezielt Amnestie-Politik betrieben, etwa für Angehörige der in Nürnberg verurteilten Organisationen, für Wehrmachtssoldaten und für Kriegsverbrecher. Der Schuldbegriff erwies sich bei der Eingliederung des NS-Massenpersonals als vielseitig einsetzbar, weil hinter der Zurückweisung der Kollektivschuld die Schuld einzelner Gruppen verborgen werden konnte.

Allerdings erging das Integrationsangebot unter Vorbehalt. Bedingung der öffentlichen Vergebung war, dass die Belasteten Besserung zeigten und den sich entfaltenden demokratischen Grundkonsens nicht durch allzu schrille Töne störten. Am besten fassbar wird die Gleichzeitigkeit von Vergebung und Pädagogik an dem von Theodor Heuss geprägten Begriff der »Kollektivscham«.(13) »Kollektivscham« sollte ein Gefühl bezeichnen, das der Angehörige des deutschen Volkes angesichts der Verbrechen empfindet, die von seinen Landsleuten »in deutschem Namen« begangen wurden, mit denen er zwar nichts zu tun hat, für die er sich aber durch Zugehörigkeit zu eben diesem Kollektiv schämt: »Man hat von einer ›Kollektivschuld‹ des deutschen Volkes gesprochen. Das Wort Kollektivschuld und was dahinter steht ist aber eine simple Vereinfachung, es ist eine Umdrehung, nämlich der Art, wie die Nazis es gewohnt waren, die Juden anzusehen: dass die Tatsache, Jude zu sein, bereits das Schuldphänomen in sich eingeschlossen habe. Aber etwas wie eine Kollektivscham ist aus dieser Zeit gewachsen und geblieben. Das Schlimmste, was Hitler uns angetan hat – und er hat uns vieles angetan –, ist doch dies gewesen, dass er uns in die Scham gezwungen hat, mit ihm und seinen Gesellen gemeinsam den Namen Deutscher zu tragen.«

Nach Heuss wurden die Deutschen von Hitler in diese Schuld hineingezogen. Wenn man nun die Deutschen mit den Nationalsozialisten in einen Topf werfe, würde die aufgezwungene Gemeinschaft nachträglich noch bestätigt. Der Vergleich der Kollektivschuldthese mit dem Antisemitismus lag nach dieser Logik nahe. Allerdings stritt Heuss nicht ab, dass eine Beziehung zwischen der Volksgemeinschaft des Nationalsozialismus und dem Kollektiv der Deutschen nach dem Krieg bestehe. Der »Scham«-Begriff berücksichtigte somit zwei gegenläufige Interessen: Zum einen die normative und sprachliche Abgrenzung vom Nationalsozialismus, die unerlässlich für den Demokratisierungsprozess war und vom »Ausland« gefordert wurde, zum anderen das Bedürfnis der »schweigenden Mehrheit« nach Schuldentlastung.

 

Mythos Kollektivschuld

Die »Entmythisierung« der Schulddebatte setzte erst seit den späten Fünfzigerjahren ein, als sich die »Schuldfrage« unter veränderten Vorzeichen neu stellte. Die Schuldtraktate der vorausgegangenen Jahre erschienen nun zunehmend als anachronistisch, weil die einsetzenden NS-Verfahren deutlich machten, dass die nationalsozialistischen Verbrechen durchaus bestimmten Personen und Orten zuzuordnen waren. Vor allem in den Sechzigerjahren traten die bisherigen Versäumnisse in den Blickpunkt. Ein Ausgangspunkt des Perspektivwechsels war Theodor W. Adornos 1959 erschienener Text »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«. Dieser machte das Diktum von der »Aufarbeitung der Vergangenheit« zum geflügelten Wort und entfaltete eine große Wirkungsmacht. Adorno äußerte sich kritisch über die Interpretationslinien der »Schulddebatte« der Nachkriegszeit und hinterfragte das Ritual der Kollektivschuldabwehr: »Es wird da immer wieder auf den so genannten Schuldkomplex verwiesen, oft mit der Assoziation, dieser sei durch die Konstruktion einer deutschen Kollektivschuld eigentlich erst erschaffen worden.«(14) Adorno sah dagegen den Schuldkomplex als von den Deutschen selbst gemacht und diagnostizierte »im Verhältnis zur Vergangenheit viel Neurotisches: Gesten der Verteidigung dort, wo man nicht angegriffen ist; heftige Affekte an Stellen, die sie kaum rechtfertigen.« Adornos Schulddefinition blieb nicht beim Befund des seelischen Defektes stehen, sondern untersuchte dessen gesamtgesellschaftliche Folgen. Er ordnete den bisher geübten Umgang mit Schuld einem intentionalen Hintergrund zu, insofern er die Abwehr von unangenehmen Erinnerungen und die Tendenz des Vergessens und Verschweigens als gewollte Prozesse charakterisierte. Diese Erkenntnis übertrug Adorno auf die Analyse der bundesdeutschen Gesellschaft und skizzierte einen Kollektivcharakter, dessen Existenz sich aus dem Überdauern von gewissen Verhaltensmustern aus der NS-Zeit und der erfahrenen kollektiven Kränkung des Zusammenbruchs heraus erklärte. Adorno verwies damit auf eine veränderte Schulddefinition, die die Sechzigerjahre entscheidend prägte: Schuld war nicht mehr eine Frage des Individuums an sich selbst, sondern eine Frage der Mitglieder einer Gesellschaft an ihr Gemeinwesen, das heißt an die geistige Verfassung und an die politische Kultur einer Gesellschaft. »Schuld« war für Adorno individuell und gesellschaftlich zugleich; die Zurückweisung der ungerechten, weil pauschalisierenden Kollektivschuldthese diente aus seiner Sicht nur dem Zweck, über die tatsächliche individuelle und staatlich organisierte Schuld nicht reden zu müssen.

 

Rollback und Identitätspolitik

Adornos einstiger Tabubruch ist mittlerweile Vergangenheit. Seine Forderung, über wirkliche Schuld der Volksgenossen zu sprechen und die gesellschaftlichen Bedingungen von verbrecherischen Taten und ihrer Verdrängung zu thematisieren, gilt mittlerweile als antiquiert, nachdem in den Neunzigerjahren in der Goldhagen- und Wehrmachtsdebatte endlich über konkrete Täter, Taten und Tatorte öffentlich debattiert wurde. Dieses öffentliche Reden über die konkrete Schuld so unglaublich vieler Deutscher möchte Dagmar Barnouw nun offensichtlich hinter sich lassen. Zumindest empfindet sie es als einseitig und undifferenziert und von fremden Interessen bestimmt. Sie kritisiert Erinnerungsritual und Erinnerungskontrolle, die einem modernisierten deutschen Geschichtsdiskurs im Wege stünden.

Längst jedoch befinden wir uns in einem neuen Stadium der so genannten Vergangenheitsbewältigung – ein fürwahr deutsches Wort, das keinerlei Entsprechung in anderen Sprachen findet. Bewältigt werden musste einst die »deutsche Katastrophe« – damit konnten je nach Gusto die Kriegsniederlage, der Verlust Hitlers, die kollektive nationale Kränkung, aber auch individuelle wie kollektive Formen von Schuld gemeint sein. Immer auch ging es um die richtige Deutung des Nationalsozialismus: zunächst um »1933«, also die Frage, wie es zur Machtergreifung des »Faschismus« kommen konnte; dann, ab den Neunzigerjahren, um »1945«, also die Frage, wie es zur rassistisch-antisemitischen Vernichtungspolitik durch den »Nationalsozialismus« kommen konnte. Heute erleben wir eine erneute Umcodierung der NS-Vergangenheit durch die Erinnerungsgemeinschaft der Kriegskinder, die sich dem Selbstmitleid der nachnationalsozialistischen Volksgemeinschaft empathisch annähert. Dabei geht es nicht allein um die Trauer um die Toten von Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung oder um gefallene Soldaten wie Kanzler Schröders Vater. Um die »durfte« man schon immer trauern, sei es privat, an Volkstrauertagen oder gar offiziell, wenn im alten Bonn von den »Opfern von Krieg und Gewalt« die Rede war. Nein, spätestens seit Walsers »Auschwitzkeule« und erst recht seit Friedrichs »Bombenkrieg« geht es um eine neue Gedenkkultur: Es hat sich ein Opfer-Diskurs etabliert, der an die unmittelbare Nachkriegszeit anknüpft. Die Bekämpfung vermeintlich manichäischer Erinnerungsdiskurse wie jener der Kollektivschuld ist keineswegs so neu und modern, für wie diese sich hält, und die geforderte historische Differenzierung verweigert sich den Erkenntnissen der historischen NS-Forschung. Wie schon in den großen Debatten des amerikanischen und britischen Exils – etwa die zwischen Bertolt Brecht und Thomas Mann – geht es um den Nachweis einer Nichtidentität zwischen Hitler und den Deutschen und der Existenz eines »anderen Deutschlands«. Nachträglich wird Politik, die als »Bestrafung« oder »Umerziehung« der Deutschen interpretiert werden kann, denunziert. Dass man wohl bis weit in die Fünfzigerjahre hinein von einer Hegemonie nationalsozialistischer, mindestens nationalistischer Einstellungen in der westdeutschen Gesellschaft, also einer Fortdauer der Volksgemeinschaft, ausgehen muss, interessiert nicht. Genauso wenig wie der Konsens innerhalb der seriösen Geschichtswissenschaft, dass, trotz aller Formen der Entgrenzung und Radikalisierung, der Luftkrieg gegen Deutschland wenig mit Rache zu tun hatte, sondern ein zentrales Element der Kriegführung war, das mit der Zerstörung von Rüstungsfabriken, Energiereserven und Verkehrswegen das Nervenzentrum des »Dritten Reiches« und seines aggressiven Expansionskrieges traf.(15) Selbst die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa folgte weniger der Logik eines Potsdamer Strafgerichts, sondern der Erwägung, durch Bevölkerungstransfers stabilere Nationalstaaten zu schaffen, als dies die Versailler Ordnung vermochte. Es besteht insgesamt gesehen also wenig Anlass für eine erneuerte Täter-Opfer-Debatte. Das schließt keineswegs aus, an deutsche Opfer des Krieges und seiner Folgen zu erinnern. Ein Tabu war eine solche Erinnerung ohnehin nie.

Barnouw vermutet hinter dem Beharren auf die »Einzigartigkeit« der Nazi-Verbrechen, hinter »Bannwörtern« wie »Apologetik« und »Antisemitismus«, hinter deutscher »Betroffenheit« und »Selbstzensur« machtpolitische Dimensionen. Die mag es gegeben haben, und sie mag es immer geben. Gerade deshalb ist ihr demonstrierter Drang nach freien und kritischen Debatten und Kontroversen selbst der Frage »Cui bono?« unterworfen. Wie schon die Intellektuellen der Nachkriegszeit kämpfen Barnouw und verwandte Stimmen gegen Phantome wie Kollektivschuldthese, Gesinnungspolizei und interessierte Kreise, die ihr moralisch-politisches Süppchen kochen. Doch die Zurückweisung der Kollektivschuldthese und der angeblich differenzierte und ausgewogene Blick auf die Deutschen sind selber nicht jenseits nationalistischer politischer Strategien entstanden. Die Kollektivschuldthese hat es in Form und Inhalt, wie sie empört zurückgewiesen wurde, nicht gegeben; die Kritik an Martin Walser war nicht Ausdruck eines geregelten und fremdbestimmten kollektiven Gewissens, sondern Bestandteil einer funktionierenden politischen Öffentlichkeit; und die neue deutsche Opferwelle ist die erinnerungspolitische Begleitmusik einer neuen weltpolitischen Rolle, die ein »normalisiertes« Deutschland mittels Europa anstrebt. Die Abrechnung mit den USA ist Teil dieses Perspektivwechsels. Barnouw mag es um eine Kritik westlicher, insbesondere amerikanischer Selbstherrlichkeit gehen; in Deutschland ist die Entdeckung der deutschen Opfer nichts anderes als vergangenheitspolitische Begleitmusik einer neuen, normalen deutschen Identität, die nun endlich den gekränkten nationalen Narzissmus wieder zum Recht verhelfen will.

Dagmar Barnouw mag beruhigt sein: Ihr Kampf gegen das Phantom Kollektivschuld ist längst geführt und gewonnen worden. Deutschland ist »normal« – daran hegt in der Welt kaum noch jemand Zweifel, gleichgültig ob es eine stabile Volksgemeinschaft mit hohem kollektivem Schuldkonto oder ein »anderes Deutschland« gegeben hat. Auch über die deutsche Geschichte darf jeder sagen, was er will, und sei es der größte Unsinn, solange er den Holocaust nicht leugnet. Kein GI und kein Jude hindern ihn daran. Es bleiben nur noch zwei Fragen: Was kommt nach der »gefühlten Geschichte«, die die Deutschen als Opfer historisiert und den »Hitler als Mensch«-Filmevent feiert? Und: Was soll man eigentlich von jemandem halten, der einem unaufgefordert unentwegt versichert, er sei ganz »normal«?

 

1

Norbert Frei: »Von deutscher Erfindungskraft oder: Die Kollektivschuldthese in der Nachkriegszeit«, in: Rechtshistorisches Journal, 16, 1997, S. 621–634.

2

Vgl. Jörg Später: Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis, 1902–1945, Göttingen 2003.

3

Bayrische Bischöfe: »Hirtenwort über das Glaubensleben und Zeitprobleme, Eichstätt, 9.4.1946«, in: Wolfgang Löhr (Hrsg.): Hirtenbriefe und Ansprachen zu Gesellschaft und Politik. Bd. 1, 1945–1949, Würzburg 21996, S. 99-103, hier S. 103.

4

Bayrische Bischöfe: »Erstes gemeinsames Hirtenwort nach dem Krieg, 21.6.1945«, in: ebd., S. 31.

5

Dietz an die Amerikanische Militärregierung, Fulda, 27.7.1945, in: Ludwig Volk (Hrsg.): Akten deutscher Bischöfe, Mainz 1985, S. 612 f.

6

Johann B. Schuster: »Kollektivschuld«, in: Stimmen der Zeit, 139, 1946/47, S. 101-117, hier: S. 114.

7

Schreiben des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland an die Amerikanische Militärregierung für Deutschland betreffend das Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus, 26.4.1946, in: Friedrich Merzyn (Hrsg): Kundgebungen. Worte und Erklärungen der Evangelischen Kirche in Deutschland 1945–1959, Hannover o. J., S. S. 27/28.

8

Schreiben des Rates der EKD, 3.11.1945, in: Merzyn (Hrsg.): Kundgebungen, a. a. O., S. 15/16.

9

von Galen: »Predigt«, in: Volk: Akten…, a. a. O., S. 566.

10

Frings: »Denkschrift 2.8.1945«, in: Volk: Akten…, a. a. O., S. 625.

11

Ebd.

12

Brief von Heinrich Blücher an Hannah Arendt, 15.7.1946, in: Hannah Arendt – Heinrich Blücher: Briefe 1936–1968, München und Zürich 1996, S. 146.

13

Theodor Heuss: »Mut zur Liebe. Ansprache vor der ›Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit‹ in Wiesbaden, 7.12.1949«, in: Voigt: Theodor Heuss, a. a. O., S. 382.

14

Theodor W. Adorno: »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« (1959), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, Frankfurt am Main 1977, S. 555–572, hier: S. 556.

15

Vgl. Rolf-Dieter Müller: Der Bombenkrieg 1939–1945, Berlin 2004.

 

 

Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur – Ausgabe 2/05