Ereignisse & Meinungen

Balduin Winter

Good Bombs, bad Bombs

 

Von einem »historischen Abkommen« sprachen Indiens Premier Manmohan Singh und US-Präsident George W. Bush nach Unterzeichnung des Nuklearpaktes zwischen den beiden Staaten, Eckpfeiler einer neuen strategischen Partnerschaft. Der Sydney Morning Herald (4.3.) zitierte unter der Headline »Bush kontert China mit dem neuen besten Freund« Joseph Cirincione vom »Carnegie Endowment for International Peace«, dass Indien nunmehr »seine Produktion von Atombomben von bisher etwa sechs bis zehn pro Jahr auf mehrere Dutzend erhöhen« könne; durch die Vereinbarung seien die militärischen US-Exporte vom Embargo befreit, denn die USA werden zukünftig – nach weit über 30-jähriger Sanktionsdauer – an die »befreundete Demokratie« Atomtechnologie und Kernmaterial liefern. Bushs Indienreise wurde in einigen Medien mit Nixons Chinareise 1972 verglichen, als Strategenstück von »historischer Tragweite«, und man werde nun Chinas atomarer Position in Asien besser begegnen können. Das sei von langer Hand geplant gewesen: Im offiziellen Washington verwies man auf einen Artikel aus 2000 von Condoleezza Rice in Foreign Affairs (»Campaign 2000: Promoting the National Interest«), in dem sie damals von Indien als strategisches Gegengewicht der USA zu China geschrieben hatte.

Auch an Kritik mangelte es nicht. Schon im Juli 2005, als bei Singhs Besuch in den USA die Marschroute für das Abkommen festgelegt wurde, äußerte sich der Präsident der Brooking Institution, Strobe Talbott, im Yale Global Online (21.7.05): »Ein guter Tag für Indien, ein schlechter für die atomare Non-Proliferation«. Der Atomwaffen-Sperrvertrag war einst als Vertrag zur »Verminderung und letztlich zur Beseitigung der Kernwaffen-Arsenale gedacht, … ein Traum vom blauen Himmel, der nie ernsthaft verfolgt wurde«. Indien habe sich seit dem Test von 1998 »irreversibel außerhalb der Grenzen des Vertrags begeben«. Nun würde es mit weitaus »mehr Milde« behandelt als die fünf erstunterzeichnenden Atommächte. Indien halte dagegen, dass China beim Eintritt in den Vertrag seine A-Waffen auch nicht habe überprüfen lassen, nun wolle es ebenfalls keine Bevormundung. Der Autor räumt ein, »dass Indien sein Engagement … verantwortungsvoll demonstriert hat. Im Unterschied zu Pakistan, das als ›Wal-Mart des illegalen Handels‹ in dieser gefährlichen Technologie bezeichnet worden ist, hat Indien sich davor gehütet, dass sein nukleares Material und sein Know-how in die falschen Hände gerät.« Doch handle Präsident Bush aus einseitigen, womöglich kurzfristigen Interessen, ohne Rücksicht auf internationale Regeln, »wie er schon seit Jahren in Wort und Tat deutlich macht, dass er das Vertrauen seiner Vorgänger zu internationalen Verträgen und Einrichtungen nicht teile«. Dazu gibt der Autor einige Beispiele (Internationaler Strafgerichtshof, Klima-Abkommen), bei denen er unterschwellig Kritik an Bushs Einteilung der Welt in »Gute gegen Böse« mitschwingen lässt, und schlussfolgert: »Der Durchbruch in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern wird ein als Schritt zum Niedergang im internationalen Regime der Nichtweitergabe von Atomwaffen angesehen.«

Tatsächlich warnte die Pekinger Volkszeitung in einem Kommentar am 26.10.05 Washington davor, gegenüber Indien »weich« zu werden und eine »Ausnahme« zu machen. Das Beispiel könne Schule machen, andere Mächte könnten ihren Freunden gegenüber ähnlich handeln und das Regime der Non-Proliferation schwächen. Die Anspielung war eindeutig, mit Chinas »Freunden« waren Pakistan und Bangladesh gemeint. Es gibt zwar zwischen Indien und China einen neuen »strategischen Dialog« seit 2005, es gibt regelmäßige Treffen auf höchster Ebene, die Beziehungen zwischen den beiden mächtigsten Ländern Asiens haben sich – so scheint es zumindest äußerlich – enorm verbessert. Doch existieren ebenso jede Menge Reibungspunkte, die Mohan Malik in seinem »The Power and Interest News Report (PINR)« analysiert und zusammenfasst: »Obwohl beide Seiten daran arbeiten, sich näher zu kommen und die Zusammenarbeit zu vertiefen, gibt es bis jetzt keine strategische Kongruenz zwischen den beiden Giganten. In der Tat sind die Probleme, die beide Länder miteinander teilen, zugleich die Probleme, die sie trennen und die ihrer Konkurrenz den Treibstoff liefern, weil beide unterschiedliche Positionen im internationalen System einnehmen, weil sich ihre strategischen Kulturen unterscheiden, ihre Weltsichten, weil sie sich in ihren politischen Systemen und mit ihren geostrategischen Interessen gegenüberstehen.« (www.pinr.com/report.php?ac=view_printable&report_id=434&language_id=1)

In der Atomfrage versucht China – mit Blick auf Indien – sich als »Champion« der Non-Proliferation zu gebärden und verfolgt misstrauisch alle Annäherungen der USA. Indien wiederum hat unter der Singh-Regierung eine Politik der Öffnung nach allen Seiten betrieben, wofür unter anderem, für Washington ein Dorn im Auge, der Pipeline-Vertrag mit dem »Schurkenstaat« Iran steht. Mit dem Atomdeal werden im Land allerdings Befürchtungen wach, Indien würde seine sorgsam gehütete Souveränität einbüßen. Pratap Bhanu Mehta, Präsident des Center for Policy Research in New Delhi: »Indiens herrschende Klassen sind überzeugt, dass Kernkraft … die einzige lebensfähige Antwort auf Indiens akute Energieknappheit (ist). Die USA wollen den weltweiten Gebrauch der Kernkraft als die einzige Alternative zu den brennbaren Kohlenwasserstoffen relegitimieren. … Aber sind die wirtschaftlichen Argumente für die Kernkraft gegenüber alternativen Energiequellen so zwingend, dass sie zur Wendemarke für Indiens Entwicklungsstrategie werden?« Indien solle sich nicht an den Energieplänen der USA orientieren. Aber auch die politische Bindung missfällt ihm: »Zum ersten Mal in seiner Geschichte wird das Glück der indischen Eliten umfassend und eng mit dem Schicksal Amerikas verknüpft. Kann Indien mit den USA so materiell und kulturell gebunden werden und dennoch dem Blick auf die globale Geopolitik durch amerikanische Augen widerstehen?« (Yale Global Online, 7.3.) Mehta sieht die Gefahren für Indien vor allem darin, dass es zu einem »Frontstaat« der Vereinigten Staaten werden könne – sowohl in der gegenwärtigen Konfrontation mit dem islamistischen Terror als auch in einer zukünftigen mit China.

In den USA, wo der Deal erst vom Kongress genehmigt werden muss, kam die Begeisterung der Bush-Equipe nicht ungebrochen an. Auch von den Befürwortern wird immer wieder ein Zusammenhang zum Iran hergestellt; manche sprechen davon, dass sich die iranische Position entscheidend radikalisiert habe, als der Indien-Deal feste Konturen annahm. Selbst ein konservativer Leitartikler wie David Ignatius von der Washington Post (1.3.) kommt bei der Regierungsinterpretation ein wenig ins Rudern. Er betrachtet die Gegenüberstellung Indiens (»Versprechen der Globalisierung«) und des Irans (»Drohung der globalen Unordnung«) erst einmal als eine Haltung des zynischen Realismus: Zwischen diesen beiden Polen – »Alpha und Omega« – stelle sich die USA mit ihren Regeln, »belohne den Guten und bestrafe den Schlechten«. Das erscheine ihm zunächst »als ein Argument der erleuchteten Heuchelei«, hinter dem die Haltung stehe, »zwei gegensätzliche Auffassungen in seiner Meinung gleichzeitig zu vertreten«. Doch wie dies seine Richtigkeit haben kann, daran arbeitet er sich in der Folge ab, der Vertrag interessiert ihn dabei kaum, obwohl die »doppelten Standards« im Kongress Kritiker bis in Bushs eigene Reihen hinein finden. Unterstaatssekretär Nicholas Burns äußerte sich demgegenüber in der New York Times (2.3.): »Der Vergleich zwischen Indien und Iran ist geradezu lächerlich. Indien ist ein enorm demokratischer, friedlicher, stabiler Staat, der mit Atomwaffen nicht gehandelt hat. Iran ist ein autokratischer Staat, dem fast alle Länder misstrauen, und der seine internationalen Verpflichtungen verletzt hat.«

Der Strategiewechsel, den die Vereinigten Staaten in ihrer Außenpolitik seit dem 11. September vollzogen haben – dokumentiert in einer Reihe von Strategiepapieren, zuletzt dem »Quadrennial Defense Review Report« vom 6.2.06 –, hat sich auf verschiedene Politikfelder einschneidend ausgewirkt (siehe dazu die SWP-Studie von Peter Rudolf, »George W. Bushs außenpolitische Strategie«). Auch der Sektor der globalen atomaren Rüstung und adäquat dazu die zivile Atomenergie sind davon betroffen. Hier ist die Bush-Regierung gerade dabei, an Stellschrauben zu hantieren, die einerseits seit Jahrzehnten internationaler Konsens sind wie der Atomsperrvertrag, andererseits seit Ende des Kalten Krieges ein zunehmender Herd der Unsicherheit. Schon unter Clinton wurde 1994 ein unilateraler Präventivschlag gegen das nordkoreanische Nuklearwaffenprogramm geplant. (Hans Martin Sieg: Die europäische und die amerikanische Sicherheitsstrategie. Trierer Arbeitspapiere für Internationale Politik, Nr. 10, März 2005) In diesem Zusammenhang steht Ashton B. Carter, Professor in Havard, Erfinder der »Counterproliferation«, einer der geistigen Väter der »National Security Strategy« (NSS) von 2002 und Vordenker für eine neue Nuklear- und Proliferationsstrategie. Was von den Demokraten erst halbherzig angedacht worden war, wurde unter dem traumatischen Eindruck des Terrors in New York und Washington forciert und in Politik umgesetzt. Siegs Arbeit ist deshalb interessant, weil sie bündig auf fundamentale Unterschiede zwischen Amerikanern und Europäern verweist: »Die Europäische Sicherheitsstrategie hebt das Sicherheitsdilemma als Ursache des Strebens nach Massenvernichtungswaffen hervor: ›Regional insecurity can fuel the demand for WMD.‹ Von amerikanischer Seite erscheinen sie für die Regimes, die heute nach ihnen streben, hingegen als ›weapon of choice‹ (NSS), die nicht aufgrund eines Schutzbedürfnisses entwickelt oder erworben werden, sondern mit der Absicht, sie als ›asymmetric means‹ zu verwenden, ›to counter the West superior conventional military capabilities‹. Aus dieser Situationsanalyse ergibt sich die Forderung nach einem präemptiven Handeln, das potenziellen Feinden bereits den Zugang zu Massenvernichtungswaffen verwehrt. … Keine Frage, dass die amerikanische Strategie auch deshalb auf ›rogue states‹ zielt, weil die USA mit ihrer Militärmacht ein besonders probates Mittel besitzen, um der von ihnen ausgehenden Bedrohung zu begegnen …«

Zu Indiens »Integration« in den Atomclub zitiert die Zeit (9.3.) Stimmen aus Mohamed El-Baradeis Umgebung in der IAEA in Wien: »›Wir müssen über den eigenen Schatten springen‹, heißt es in seiner Umgebung. ›Man darf nicht die Augen davor verschließen, dass es drei Atommächte außerhalb des Vertragswerks gibt‹ – gemeint sind außer Indien noch Pakistan und Israel –, ›und es muss ein Weg gefunden werden, auch ihre Nukleartechnik mit einem Netz aus Regeln und Inspektionsrechten zu überziehen. Das erweiterte Protokoll für Inspektionen muss weltweite Geltung bekommen.‹« Der Autor, Gero von Randow, wundert sich über den völlig unpassenden Zeitpunkt des Indien-Deals, da Moskau gerade die schwierigen Vermittlungen mit dem Iran um eine »Mini-Proliferation« führt. Legt man der Iran-Frage die oben genannten strategischen Haltungen auf, »vereinfacht« sie sich sofort. Die USA hatten zu keinem Zeitpunkt ein Verhandlungsinteresse. Sie hatten hingegen eine »klare Definition« für das Regime. Laut NSS zeichnen sich »rogue states« durch folgende Charakteristika aus: »Unterdrückung der Bevölkerung und Vergeudung der nationalen Ressourcen für den persönlichen Gewinn der Führer; keine Respektierung internationalen Rechts; Entschlossenheit, Massenvernichtungswaffen zu erwerben, um sie als Drohmittel oder offensiv im Dienste aggressiver Absichten einzusetzen; Unterstützung des Terrors weltweit; Ablehnung grundlegender humanitärer Werte und Hass gegen die USA und das, was sie repräsentieren.« (Peter Rudolf, SWP-Studie, S. 21). Das Bestürzung auslösende »Nicht mit uns« der Condoleezza Rice und der Abbruch der russisch-iranischen Runde erscheint so nur logisch. »Regime change« wird in den maßgeblichen Zeitschriften der USA ohnehin schon länger diskutiert.

Für die politische Klasse der USA, egal ob Republikaner oder Demokraten, besteht die Frage längst nicht mehr, ob nukleare Abrüstung oder nicht. Der Atomplan 2005 sieht einen Ausbau der Atomkraft von derzeit 104 Kernkraftwerken (das letzte ging 1974 in Betrieb) auf rund 400 bis 2050 vor. Ihr Anteil an der zivilen Energieproduktion soll deutlich gehoben werden, ebenso für militärische Zwecke. Den Vertrag über den Atomteststopp wollen sie nicht ratifizieren, und für den alten Sperrvertrag wird ein neues Modell diskutiert, vorgelegt vom republikanischen Senator Richard Lugar, das die US-Hegemonie über die nukleare Proliferation sichern soll (Washington Post, 2.3.). Dem subtilen Differenzierungsvermögen des Kriegspräsidenten folgend, so der Leitartikler, sei seine Grundstruktur »good bombs, bad bombs«. Angesichts der zunehmenden Gefahr eines Atomkrieges erwägt auch El-Baradei ein neues, allerdings internationales Kontrollsystem. Für die neue Runde haben sich die USA einen neuen Spieler an den Tisch geholt.

»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, 2/2006