Martin Altmeyer

Die Vernichtung des Anderen

Über die Rückkehr der Gewalt in den öffentlichen Raum

Die jüngere Zeitgeschichte bietet hinreichend Anlass, sich mit einer irrationalen Erscheinung zu befassen, die im Zuge der »religiösen Entzauberung« der Welt (Max Weber) weitgehend in die menschlichen Intimräume eingesperrt schien und nun mit Macht in die Öffentlichkeit zurückdrängt: ein gewalttätiger Hass, der sich in den Sphären der globalisierten Lebenswelt ausbreitet und bis zum im Namen der Religion begangenen Massenmord reicht. Was wir erleben, ist eine demonstrative Lust an der Vernichtung des Anderen, die auf Tendenzen einer seelischen wie sozialen Entstrukturierung verweist.

Das Böse als Manifestation: die Renaissance der Todestriebhypothese

In einer zusammenwachsenden Welt will der Menschheit offenbar zunehmend weniger gelingen, was ihr Norbert Elias (1939) in seiner historischen Rekonstruktion des Zivilisationsprozesses einmal als Beherrschung des arttypischen Gewaltpotenzials in den moderierenden Strukturen der individuellen Psyche attestiert hatte.

Spätestens seit am 11. September 2001 die Blutspur des Islamismus amerikanisches Terrain erreicht hatte, war das Böse zu einer Metapher geworden, die nicht nur die Ungeheuerlichkeit des Angriffs aus einer fremden Welt markierte, sondern auch den radikalen Charakter des Gegenangriffs unterstrich: Das Böse musste vernichtet werden – und die Dämonisierung des Feindes rechtfertigte seine Vernichtung unter der Fahne des Guten. Bezeichnend allerdings, dass im asymmetrischen »Krieg gegen den Terror« auch die andere Seite den Kampf gegen das Böse zu führen beanspruchte. Nur galt aus Sicht des fundamentalistischen Islam seine apokalyptische Attacke dem »Satan USA«, der als Führungsmacht eines ökonomisch übermächtigen, sozial kalten und moralisch verderbten Westens den eigentlichen Teufel verkörperte – Djihad gegen Kreuzzug. Jedenfalls war mit dem Bösen auch das Gute wieder in der Welt. Selbst unter westlichen Intellektuellen wurde ein manichäisches Kategorienpaar reanimiert, das aus den säkularisierten Diskursen einer aufgeklärten Welt längst verbannt und in die Dunkelkammern der Vormoderne eingesperrt schien.

Lange bevor die islamistischen Gotteskrieger in New York und Washington unter den Augen der Weltöffentlichkeit ein Beispiel totalitärer Zerstörungsbereitschaft lieferten, sah der Zeitdiagnostiker Botho Strauß – in seinem seherischen Spiegel-Essay »Anschwellender Bocksgesang« (1993) – geistige Konflikte jenseits der Ökonomie heraufdämmern und erinnerte an die Nähe des Heiligen zur Gewalt. Im gleichen Jahr entdeckte Hans Magnus Enzensberger – in seinen Aussichten auf den Bürgerkrieg (1993) – eine »molekularen Gewalt«, die sich auch in der ebenso motiv- wie ziellosen erscheinenden Destruktivität des gewöhnlichen postmodernen Alltags Ausdruck verschaffte. In seinem tiefendiagnostischen Parforce-Ritt verglich er die Triebstruktur des Selbstmordattentäters mit der des mordenden Skinhead, des todessüchtigen Junkies, des psychopathischen Highschool-Shooters und wollte in der wütenden Agonie des Islamismus eine kollektive Tendenz zur Selbstvernichtung erkennen, die im kulturellen Verfallsprozess der Weltgesellschaft am Werk sei: den Todestrieb im universellen Maßstab.

Freud hatte bekanntlich in Jenseits des Lustprinzips (1920) seine befremdliche Hypothese vom Todestrieb entwickelt, welcher, einem »Nirwanaprinzip« gehorchend, die Rückkehr des Organismus in den ursprünglichen Zustand des Anorganischen bewerkstelligen sollte. Die Vorstellung einer dem biologischen Substrat eingeschriebenen Tendenz zur Selbstvernichtung – denn Autoaggression ist das Wesen des Todestriebs, die im Falle der Fremdaggression lediglich projiziert, also nach außen gerichtet wird – erschien den meisten Psychoanalytikern jedoch unheimlich. Zu eng schmiegte sie sich an jene Naturmythologie an, mit der eine der Aufklärung verpflichtete Psychoanalyse gerade zu brechen versucht hatte. Im Zuge einer Entmythologisierung der Triebtheorie wurde die Aggression schließlich als evolutionär herausgebildete Verhaltensbereitschaft verstanden, die ihren Zweck im Dienste von Selbsterhaltung und Umweltanpassung erfüllt. Woher aber dann der maligne Überschuss an Aggression, wenn diese nicht mehr endogener Natur sein sollte? Die klassische Gegenthese ihrer exogenen Entstehung im Sinne eines reinen Reiz-Reaktionsschemas konnte psychoanalytisch jedenfalls nicht befriedigen, zumal die grausamen Exzesse menschlicher Vernichtungswut in der Tierwelt unbekannt sind.

Zur gleichen Zeit, als Freud seine Todestriebhypothese veröffentlicht hatte, war auch Walter Benjamin – in Zur Kritik der Gewalt (1921) – zu der Auffassung gelangt, dass es elementare Wutausbrüche gäbe: »nicht Mittel, sondern Manifestation«. Daran fühlte man sich erinnert, als in den französischen Vorstädten im Herbst 2005 wochenlang Autos, Fabriken und Geschäftshäuser brannten und man via Bildschirm an einer kollektiven Gewaltfeier von dort lebenden Einwandererkindern der dritten Generation (mit Eltern afrikanischer, vor allem nordafrikanischer Abstammung) teilhaben konnte, die über Wochen ihren Hass auf sich selbst, ihren Hass auf die anderen und ihren Hass auf die Welt in der Tat »manifestierten«. Auch im islamischen Furor, der sich im Februar 2006 an blasphemischen Mohammed-Karikaturen entzündete und dazu führte, dass im muslimischen Weltgürtel von Nigeria über den gesamten mittleren Osten bis nach Pakistan nicht nur europäische Fahnen und Botschaften, sondern auch Menschen in Brand gesetzt wurden (vermeintliche Christen von aufgebrachten Muslimen und umgekehrt), war vor laufenden Fernsehkameras eine rauschhafte Vernichtungswut zu erkennen, auch wenn sie politisch kalkuliert, mediengerecht inszeniert und der übrigen Welt als Botschaft mitgeteilt wurde.

Bringt die religiöse Raserei also bloß das Magma einer brodelnden menschlichen Natur an die soziale Oberfläche? Ist das lustvolle Töten auf offener Bühne bloß Ausdruck einer Ur-Destruktivität, einer »Gewalt ohne Motiv«, welche immer schon unter dem dünnen Firnis der Zivilisation lauert und endlich wieder als Emanation des Bösen identifiziert werden kann? Oder was manifestiert sich hier?

Schuld sind die anderen! Ursachenforschung als Entlastungs- und Rechtfertigungsstrategie

Der amerikanische Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Jonathan Lear lässt sein gerade erschienenes Buch über Freud (Lear 2005) mit Überlegungen zu den Motiven islamistischer Terrorgruppen beginnen, wie sie im einfühlsamen Diskurs westlicher Linksintellektueller üblich sind: »Wenn wir nur mehr wüssten über die kulturellen Bedingungen, in denen der militante Fundamentalismus wurzelt, wenn wir nur mehr wüssten über die Geschichte der Erniedrigung bestimmter Leute, dann würden wir letzten Endes verstehen können, was es mit ihrer Motivation auf sich hat. Wir würden die Gründe für ihr Handeln (selbst wenn wir denken, dass es schlechte Gründe sind) verstehen können.« Die Pointe dieser Eröffnung besteht darin, dass Lear dieselbe einfühlsame Denkfigur auch bei Osama bin Laden selbst findet – nur eben nicht als Ausdruck einer kritischen Selbstbefragung, sondern als scheinbar »rationale« Begründung für seine terroristischen Strategien: Wenn der in seinen weltweit verbreiteten Videoclips als weiß gewandeter, sichtlich der Welt entrückter, geradezu philosophisch auftretender Verkünder eines totalitären Islamismus mit sanfter Stimme die anhaltende Demütigung und Schmach der islamischen Welt anführt, die es rechtfertige, Amerika anzugreifen und seinerseits zu erniedrigen, teilt er mit der Linken ein Erklärungsmodell, das dem Terrorismus als »Waffe der Schwachen« nicht nur eine Moral, sondern auch eine Art von »Vernunft« unterstellt.

Es ist jene diskursive Rechtfertigung revolutionärer Gewalt, die im historisch-dialektischen Materialismus gebetsmühlenhaft gepredigt wird: der Aufstand der ökonomisch Ausgebeuteten gegen ihre Ausbeuter, der politisch Entrechteten gegen ihre Unterdrücker, der kulturell Beleidigten gegen die kolonialistische Kultur. Seit Friedrich Engels und Karl Marx glauben wir zu wissen, dass die befreiende Gewalt »die Geburtshelferin jeder alten Gesellschaft ist, die mit einer neuen schwanger geht« (Engels im Anti-Dühring, MEW, S. 171), wobei die Gewalt nur ein »Werkzeug« der sozialen Emanzipation ist, die aus den Trümmern der alten Gesellschaft den neuen Menschen erwachsen lässt. In dieser eschatologischen Hoffnung besteht auch das sozialanthropologische Erbe, das Frantz Fanon (1961) uns in Die Verdammten dieser Erde hinterlassen hat: Der Kolonisierte wird vom Nicht-Menschen (vom »kolonisierten ›Ding‹«, wie Sartre im Vorwort zu Fanons Befreiungstraktat schreibt) zum Menschen erst durch die antikolonialistische Gewaltausübung, die für ihn zu einem Akt der individuellen und kollektiven Emanzipation wird (im nachkolonialen Afrika können wir beobachten, welche verheerenden Folgen diese subjektkonstituierende Gewalt- und Befreiungsrhetorik immer noch hat).

Zweifellos, so Lear weiter, gebe es Anlass, über die Geschichte des Kolonialismus und Imperialismus nachzudenken, und handele der Terrorist aus der Überzeugung, die Erniedrigung seines Volkes rechtfertige seine grausame Rachsucht und tödliche Wut. Aber könne es nicht auch umgekehrt sein: dass er seinem Gefühl der Erniedrigung deshalb verhaftet bleibe, weil er Vergnügen am zerstörerischen Hass gefunden habe? Lear dreht den Spieß um: Während die islamistische Terrorstrategie den mörderischen Angriff mit einer kollektiven Kränkung begründe, halte sie zugleich an dieser Kränkung fest, um mit dem Morden weitermachen zu können. Die Unterstellung einer solchen, unter der Oberfläche seines eigenen Bewusstseins verborgenen unbewussten Aggressionslust bedeutet für den Islamisten freilich eine weitere Erniedrigung, die ihn umso wütender macht. Denn bewusst möchte er das Gefühl der Erniedrigung gerade nicht behalten, sondern loswerden. Ihm zu unterstellen, dass er selbst ein Verlangen danach habe, sich gekränkt zu fühlen, um wütend sein zu dürfen, bedeutet, seine bewussten Motive für irrational zu erklären. Was aber wäre das unbewusste Motiv?

Man könnte den Finger auf die Realität der narzisstischen Wunde im kollektiven Unbewussten der arabisch-islamischen Gemeinschaft legen, wie das Dan Diner in seinem Buch Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt (2005) tut: das Wissen über die Rückständigkeit gegenüber dem Westen. Anstatt die Ursachen dafür in den Entwicklungshemmnissen der eigenen Kultur- und Sozialgeschichte zu suchen – etwa in den fehlenden ökonomischen und politischen Freiheiten einer Gesellschaft, welche die Trennung von Staat und Religion nicht akzeptiert –, werde der historische Niedergang des Islam paranoid bewältigt. Die aus religiöser Intoleranz geborene Verteidigungs- und Aggressionsbereitschaft, die der radikale Islamismus predigt, ließe sich dann als projektiver Ausdruck einer inneren Entwicklungskrise verstehen, als Reaktion auf das selbst verschuldete Modernisierungsdefizit, das dem ungläubigen, mammonistischen, moralisch verderbten Westen angelastet wird: Dieser ist verantwortlich am eigenen Elend und soll nun dafür büßen.

Auch André Glucksmann verweist in seinem Pamphlet Hass. Die Rückkehr einer elementaren Gewalt (2005; im frz. Original: Le discours de la haine, 2004) auf die Entlastungsfunktion des von Larmoyanz und Selbstmitleid getränkten Kausalitätsdenkens, das mit einem unermüdlichen Absolutionsbedürfnis und Rationalisierungsvermögen einhergeht: »Für alles findet man ein Erklärung, für alles bringt man Verständnis auf, alles wird entschuldigt. Der Pädophile ist Opfer einer unglücklichen Kindheit, der Mörder alter Damen macht akute Finanznot geltend, die Vergewaltiger in den Vorstädten sind Produkt der hohen Arbeitslosigkeit und die verwahrlosten Jugendlichen in den Kellern der Wohnsilos, die 15-jährige Mädchen stundenlang vergewaltigen, offenbaren den Mangel an sozialen Einrichtungen. Bin Laden hat seinen Auftritt als edler Held oder Rächer aller Gedemütigten und Entrechteten dieser Erde. … Die mehrheitlich und mit den besten Absichten vertretene These lautet: Hass als solches, als eine Konstante des Denkens und Handelns, gibt es nicht … ist notwendigerweise das Ergebnis äußerer Faktoren: Unglück, ungünstige Umstände, Elend, Frustrationen, Demütigungen und Verletzungen« (S. 8).

Es mangele nie an entsprechenden Ursachen, mit denen man den eigenen Hass rationalisieren könne. Die angeblichen Ursachen seien aber bloß vorgeschoben und »mehr oder weniger günstige Umstände, Zufälle«, die nichts daran änderten, dass es einen Zerstörungswillen an sich gäbe. »Der Hass existiert« (S. 9) und hat eine identitätsstiftende Funktion: »Ich hasse, also bin ich« (S.10). An anderer Stelle (in einem Beitrag für die FAS, 20.11.05) erkennt Glucksmann in diesem »Geist des Hasses« einen »Flächenbrand des Nihilismus«, dessen Botschaft sei, »dass stark ist, wer Schaden anrichtet«: Je mehr einer zerstöre, desto wichtiger fühle er sich. Der theologisch-politische Wahn, ganz gleich ob von christlicher oder islamischer Seite, heize Konflikte bloß an, die in der bösartigen Natur des Menschen bereits angelegt seien. Wie aber gestaltet sich dieses Verhältnis von Seele und Umwelt?

Das Vernichtungsdenken geht dem Vernichtungshandeln voraus –
Zur Sozialpathologie des Bösen

Der Frage nach den Vermittlungen von innen und außen, von psychischer und sozialer Realität, von Diskurs und Handeln in der Vorgeschichte von Genoziden untersucht der Sozialpsychologe Harald Welzer in seinem Buch Täter – wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden (2005) vor allem am Beispiel des Nationalsozialismus (auch entsprechenden Ereignissen in Vietnam, Ruanda und Jugoslawien ist jeweils ein Abschnitt gewidmet). Das Modell, das er anbietet, verbindet drei ineinander verschachtelte Motivkreise. Der erste Kreis entsteht durch einen gesellschaftlichen Diskurs, in dessen Verlauf eine bestimmte Gruppe als minderwertig identifiziert und so radikal aus der menschlichen Gesellschaft ausgegrenzt wird, dass sich unmerklich das zivilisierende »Tötungsverbot in ein Tötungsgebot« verwandelt. Auf dieser Grundlage liefert im zweiten Kreis eine kollektive Deutungsmatrix dem Einzelnen Maßstäbe einer neuen Moral, die zu einem veränderten sozialen Regelverständnis und Regelverhalten führt, das den Mord geradezu verlangt. Erst im dritten Kreis geht es um die Einschätzung der Risiken einer Tat für den Täter, um ihre möglichen materiellen und narzisstischen Gewinne, um unbewusste Gratifikationen und so weiter – also um Psychologie im engeren Sinne. Die Spirale, die zur Mordbereitschaft und schließlich zum mörderischen Handeln selbst führt, beginnt also nicht mit Psychologie oder Psychopathologie, sie endet höchstens damit.

Dabei ist entscheidend, wie die handelnden Personen die Welt wahrnehmen und welche sozialen und normativen Kontexte ihre Wahrnehmung prägen. Offenbar genügt eine mentale Koordinatenverschiebung, die im Falle der Nazis rassentheoretischer Art war, um einer Gruppe von Menschen jeden menschlichen Status abzuerkennen. Auf diese Weise ließe sich erklären, was nach Erklärung ruft: wie sich in den Jahren nach 1933 völlig normale Menschen in eine wahnhafte Ideologie haben hineinziehen lassen; wie eine überwiegende Mehrheit ihr Wertesystem so hat ändern können, dass sie sich an einem paranoiden Massenwahn aktiv oder passiv beteiligt hat; wie bis dahin seelisch gesunde Männer (und Frauen) zu gemeinen Mördern werden konnten, die schließlich in ganz Europa ihre Untaten vollbrachten – im Schatten des Polen- und Russlandfeldzugs, in den Vernichtungslagern hinter der Front, im Rahmen alltäglicher Massenerschießungen oder martialischer Straf- und Racheaktionen.

Welzers These ist ebenso schlicht wie überzeugend: Erst ein rapider Wandel im öffentlichen und privaten Bewusstsein erlaubte es, die Juden zuerst zu diskriminieren, dann moralisch auszugrenzen und schließlich physisch zu eliminieren – das Vernichtungsdenken ging dem Vernichtungshandeln voraus. Schrittweise erfolgte innerhalb weniger Jahre eine kollektive moralische Enthemmung, die eigentlich keine Enthemmung war, sondern der Aufbau einer neuen, einer arischen, einer Herrenmenschenmoral. Diese neue Moral wirkte sozialintegrativ im Sinne der Volksgemeinschaft. Es war geradezu eine vaterländische Pflicht, sich eventueller Skrupel zu entledigen. Denn die Juden wurden nicht aus unmoralischen, sondern aus moralischen Gründen umgebracht; man musste sie aus Gründen einer höheren Moral umbringen, weil sie sich gegen Deutschland verschworen hatten, weil sie das internationale Finanzkapital repräsentierten, weil sie Schädlinge waren, die den Volkskörper zu vergiften drohten; weil sie die Unreinen waren, das Heterogene, das Ambivalente verkörperten, den kosmopolitischen Geist der Zersetzung repräsentierten und so weiter.

Mit Hilfe von Welzers Ansatz ließe sich auch das Entstehen jenes »eliminatorischen Antisemitismus« besser verstehen, den Daniel Goldhagen diagnostiziert, aber volkspsychologisch mythologisiert hat, statt ihn aufzuklären: Der Massenmord an den Juden beginnt mit einem mentalen Koordinatenwandel, der radikalen Unterscheidung von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, die schließlich dazu führt, dass einzelne Menschen Dinge tun, die sie unter anderen Umständen niemals tun würden. War es in Nazi-Deutschland die Rassentheorie, die letzten Endes den Massenmord rechtfertigte, so lieferten in Ruanda oder in Jugoslawien ethnische Distinktionen die Rechtfertigung zu den »Säuberungsaktionen«, denen Nachbarfamilien zum Opfer fielen, mit denen die Täter jahrzehntelang friedlich zusammengelebt hatten. Hier gelingen Welzer Einsichten in die Dynamik moderner Genozide, die einen schaudern lassen. Denkt man seine These weiter, sieht es nicht gut aus für eine zusammenwachsende Welt, die zunehmend von Identitätskämpfen – also letzten Endes von der Frage nach Zugehörigkeit und Ausgrenzung – bestimmt wird.

Intersubjektivität: ein Paradigmenwechsel im psychoanalytischen Diskurs über Destruktivität

Der Gegenwartsdiskurs einer modernisierten Psychoanalyse, die gerade ihre »intersubjektive Wende« vollzieht – Helmut Thomä und ich haben diesen »relational turn« in dem gemeinsam herausgegebenen Sammelband Die vernetzte Seele (Altmeyer/Thomä 2006) dokumentiert – widmet sich gerade der Überwindung der klassischen Fragestellung, ob die bösartige Aggression des Homo sapiens dem Inneren des Trieblebens entstammt oder als Antwort auf äußere Frustrationen entsteht. Jenseits der obsoleten Alternative von innen oder außen wird inzwischen eine »dritte« Perspektive eingenommen, welche die reflexive, aber unbewusste Beziehung zwischen den Beteiligten in den Blick nimmt: Die gattungsspezifische Destruktivität wurzelt in Verhältnissen der Intersubjektivität. Hier zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab, der eine Verabschiedung rein internalistischer oder externalistischer Aggressionskonzepte mit sich bringt und das prekäre Verhältnis zwischen Selbst und Anderem neu bestimmt. Der auf Vernichtung zielende Zerstörungsakt entsteht demnach in einem Raum, in dem Individuen, Gruppen oder ganze Kulturen sich aufeinander beziehen, etwas miteinander austragen, aneinander gebunden sind – und gerade deshalb umso empfindlicher für Kränkungen sind.

In meiner Aufsatzsammlung Im Spiegel des Anderen (Altmeyer 2003) habe ich diesen mentale Verbindungen herstellenden Zwischenraum ein wenig ausgeleuchtet und Evidenzen zusammengetragen. Nach offiziellen Kriminalstatistiken findet in den westlichen Industriestaaten die Mehrzahl aller gewalttätigen Konflikte innerhalb eines überschaubaren sozialen Intimraums statt, der die Beteiligten eng miteinander verbindet. Empirisch ist gut belegt, dass an Wochenenden und Feiertagen mit der Heftigkeit von Familienauseinandersetzungen auch die Zahl psychiatrischer Aufnahmen ansteigt, dass Kindesmisshandlung sowie Vergewaltigung in der Ehe auf der Rangliste der Gewalttaten ganz oben stehen, dass bei vielen Mord- und Totschlagsdelikten Täter und Opfer aus dem gleichen Umfeld stammen. Kein Zufall auch, dass die grausamsten ethnischen Verfolgungen sich zwischen benachbarten und eng verwandten Bevölkerungsgruppen ereignen. Freud hat das einmal den »Narzissmus der kleinen Differenzen« genannt: Je näher man sich kommt, desto stärker wächst ein Fundus an enttäuschten Glückserwartungen, uneingelösten Beziehungsansprüchen und verletzten Selbstwertgefühlen, bis auf der narzisstischen Dimension die tiefste Kränkung des Selbst in die äußerste Wut auf den Anderen (oder in Autoaggression) umschlägt.

Die maligne Aggression, ein fragwürdiges Gattungsprivileg, das den Menschen von der Tierwelt abhebt, hat ihren Ursprung in überstrapazierten Interaktionsstrukturen sozialer Einheiten: in problematischen Eltern-Kind-Beziehungen, in verzerrten Familienkommunikationen, in eskalierenden Partnerschaftskrisen, in unlösbaren Nachbarschaftskonflikten, in gesellschaftlichen Spannungen zwischen Gruppen, die zusammenleben müssen. Wenn die Differenzen nicht mehr verhandelbar scheinen, bricht die Kommunikation schließlich zusammen. Aber selbst ihr Zusammenbruch enthält noch Botschaften, die keineswegs uneinfühlbar sind, sondern szenisch verstanden werden können. Es geht dabei um Formen der Selbstbehauptung, um das Verhältnis von Macht und Ohnmacht, um reziproke Anerkennung und ihre Verweigerung. Gewalt »spricht« unbewusst eben doch: Sie signalisiert die Entgrenzung des Selbst und die Zerstörung des Anderen, der im doppelten Sinne »entfernt«, nämlich durch Vernichtung distanziert werden muss (auch die Verschmelzung bedeutet im psychoanalytischen Sinne eine Vernichtung des Objekts als eigenständiges Wesen).

Die Grundlagen einer solchen Objektbeziehungstheorie der Destruktivität hat Donald Winnicott mit seiner Konzeption einer intersubjektiven Genese des Subjekts bereitgestellt. Er nimmt einen Übergangsraum (»potential space«) zwischen Subjekt und Objekt an, der – weil er Entgrenzungserfahrungen erlaubt – nicht nur für Spiel und Kreativität, sondern auch für Zerstörungsphantasien offen ist. Ursprünglich ist dieser Raum von der narzisstischen Fiktion des hilflosen Säuglings gefüllt, er könne über die Mutter verfügen. Durch ihr einfühlsames Verhalten wird diese Illusion zunächst bestätigt, im Zuge unvermeidlicher Frustrationen aber schließlich enttäuscht. Während der Säugling seine Allmachtsvorstellung nun zu retten versucht, indem er die Mutter angreift und »zerstören« will, muss diese – wenn sie »gut genug« ist – sich als »unzerstörbar« erweisen und den Angriff überleben. Im gekonnten Wechselspiel von mütterlicher Einfühlung und Versagung entdeckt das Kind eine widerständige, von ihm unabhängige Realität, auf die es seinerseits angewiesen ist, an der es aber wachsen und flexible Grenzen aufbauen kann. Der frühkindlichen Aggression kommt also eine Wirklichkeit herstellende und zugleich selbstkonstituierende Funktion zu. Paradoxerweise erlangt das entstehende Selbst gerade dadurch Autonomie, dass es im Scheitern der Attacke seine kränkende Abhängigkeit vom Anderen anerkennt. Um aber diese Entwicklungsleistung zu erbringen, muss es sich seinerseits als eigenes Wesen anerkannt fühlen: Erst die Reziprozität der Anerkennung lässt den Prozess der Identitätsbildung gelingen.

Diese aus der psychoanalytischen Erforschung menschlicher Intersubjektivität gewonnenen Einsichten lassen sich nun für das Verständnis der Destruktivität im Besonderen heranziehen: Das Selbst verletzt die Grenzen zum Anderen, auf den es doch angewiesen ist, um sich seiner eigenen Größe, Mächtigkeit und Unabhängigkeit illusionär zu vergewissern – die narzisstische Verleugnung einer unerträglichen Abhängigkeit ist die eigentliche Quelle des Bösen, die physische Vernichtung des Objekts die Antwort auf eine Kränkung, die psychisch nicht repräsentiert werden kann. Auf dieser metapsychologischen Folie könnte man auch die Globalisierung als Nähe- und Anerkennungsproblem begreifen. Weil sich im psychosozialen Kosmos Selbst-, Fremd- und Weltdeutungen nicht unabhängig voneinander bilden, weil hier Interessen konfligieren, verschachtelte Identitätskonstruktionen ins Wanken geraten und Idiosynkrasien sich als unverträglich erweisen können, gerät das immer enger geknüpfte Netz symbolisch vermittelter Interaktion auch im universellen Maßstab an eine Belastungsgrenze.

Mit anderen Worten: Das Zusammenrücken der Menschen schürt die Spannungen untereinander. Der Glutofen einer globalisierten Intimität, so die These, gebiert mit der Nötigung zur wechselseitigen Anerkennung auch die totalitäre Kraft der Negation, die jede Differenz auslöschen und Unterschiedslosigkeit herstellen muss. Im intermediären Raum der Beziehung angesiedelt, wäre das Böse nicht drinnen und nicht draußen, nicht unter oder über, sondern zwischen uns – und am Ende nur wirklich zu bannen, wenn eine selbstreflexive Distanz die Frage zuließe: Wer bin ich für den Anderen, und wer ist er für mich?

Religiöse versus szientistische »Vorbereitungsgesellschaft« – schlechte Aussichten

Dass der im islamischen Gewand auftretende zeitgenössische Totalitarismus zu dieser selbstkritischen Sicht nicht in der Lage ist, scheint angesichts der Unbedingtheit seines Sittengesetzes offenkundig. Die für uns interessantere Frage ist, ob der Westen sich diesen exzentrischen Blick aus einer fremden Perspektive leisten kann und was wir sehen, wenn wir den Zustand unserer eigenen Gesellschaft im »Spiegel des Anderen« betrachten. Am Ende will ich auf Antworten zweier Autoren hinweisen, die trotz unterschiedlicher Weltanschauungen – der eine gilt als notorisch linksliberaler, der andere als notorisch kulturkonservativer Intellektueller, beide entstammen sie der Tradition der Frankfurter Schule – zu bemerkenswert korrespondierenden Diagnosen kommen, auch wenn sie daraus konträre Schlüsse ziehen.

Beginnen wir mit Botho Strauß, der sich seit dem »Anschwellenden Bocksgesang« (1993) – dort hatte er bereits den Blick auf jene spirituellen Leerstellen im ökonomistischen Gesellschaftsmodell liberaler Demokratien angemahnt, der durch den islamistischen Furor erzwungen werde, und kommende Weltkonflikte »jenseits der Ökonomie« prognostiziert – gerne dem Verdacht aussetzt, ein Denker der Rechten zu sein. Nachdem sich seine düstere Prognose am 11. September 2001 bewahrheitete hatte, erneuerte er – ebenfalls im Spiegel unter dem Titel »Der Schlag« (2001) – seine These von der »metaphysischen Blindheit der westlichen Intelligenz«, die mit der »Blindheit der Glaubenskrieger« auf verhängnisvolle Weise zusammenhänge. In seinem Kommentar zum aktuellen Karikaturenstreit – in einem weiteren Spiegel-Beitrag »Der Konflikt« (2006) – befindet er nun, der westlichen Jugend werde »ihr inneres Hab und Gut eher streitig gemacht von den Zwängen der Anpassung, der Vorteilssucht und des Karrieredenkens, als von den Strenggläubigen des Propheten«. Wir leben, so Strauß, nicht in einer Parallel- sondern in einer »Vorbereitungsgesellschaft«: Mit seiner von Gott- und Kinderlosigkeit begleiteten Geistlosigkeit sei der kapitalistische Westen dabei, im unlösbaren Konflikt mit den sakralen Verheißungen des Islam seine Dominanz zu verlieren; auf lange Sicht könnten die Integrationsangebote und Anpassungsforderungen liberaler Systeme auch mit der (»diesseitigen«) sozialen Integrationskraft des Islam nicht konkurrieren, wenn der Westen seinen »tiefen antichristlichen Rigorismus«, seine eifernde »Anti-Passions-Passion« nicht endlich aufgebe. Seine Forderung nach einer Rückkehr zur eigenen Religion beendet Strauß mit einem kaum versteckten Seitenhieb gegen den religiös unmusikalischen Diskurstheoretiker Habermas: Die Periode der »neuen Unübersichtlichkeit« sei vorbei – und es sei »eine schwache Zeit« gewesen.

Dabei hatte Jürgen Habermas in seiner Paulskirchen-Rede Glaube und Wissen (2001) dieselbe Frage gestellt, ob nämlich die »Wiederverzauberung der Welt« eine Reaktion darauf ist, dass die mit der Säkularisierung zur Herrschaft gekommene instrumentelle Vernunft bestimmte, von der Religion beantwortete Sinnfragen nicht aufgenommen und ins Vokabular der Aufklärung übersetzt hat – säkulare Gesellschaften und Religionen müssten aufeinander hören. Diesen Gedanken weiterentwickelnd skizziert Habermas in der Einleitung zu seiner Aufsatzsammlung Zwischen Naturalismus und Religion (2005) eine ambivalente Zeitdiagnose, die einigermaßen beunruhigt: auf der einen Seite ein wissenschaftsgläubiges Weltbild der radikalen Aufklärung, welche die naturalisierende Objektivierung des Menschen so weit treiben möchte, dass sie das bisher Unverfügbare verfügbar zu machen und den intersubjektiv verfassten Geist auf Materie zu reduzieren beansprucht; auf der anderen Seite eine Revitalisierung und Repolitisierung religiöser Traditionen, die sich mit einer grundsätzlichen Kritik am Rationalitätsanspruch der westlichen Moderne verbindet. Beide Tendenzen zusammengenommen, so gegenläufig sie auch erscheinen mögen, gefährdeten erst den Zusammenhalt eines politischen Gemeinwesens, indem sie, so Habermas, die Bürger zu einer »weltanschaulichen Polarisierung« nötigen, die den zivilen Umgang miteinander bedroht. Die Demokratie müsse aber die Differenzen zwischen säkularen und religiösen Überzeugungen überspannen und sei dazu auf mentale, mit fundamentalistischen Einstellungen unvereinbare »Toleranzerwartungen« angewiesen. In der Unversöhnlichkeit dieser beiden, jeweils auf eigene Weise entgleisenden Weltbilder erkennt Habermas Quellen der neuen Gewaltleidenschaft.

Literatur:

Altmeyer, M. (2003): Im Spiegel des Anderen, Gießen: Psychosozial

Altmeyer, M./Thomä, H. (Hrsg.) (2006): Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, Stuttgart: Klett-Cotta

Benjamin, W. (1921): »Zur Kritik der Gewalt«; in ders.: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 42–66

Diner, D. (2005): Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, Berlin: Propyläen

Elias, N. (1939): Über den Prozess der Zivilisation, 2 Bde., Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001

Engels, F. (1878): »Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (›Anti-Dühring‹)«, in: MEW, Bd. 20, Berlin: Dietz 1973

Enzensberger, H.<|>M. (1993): Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt am Main: Suhrkamp

Fanon, F. (1961): Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1966

Habermas, J. (2001): Glaube und Wissen, Frankfurt am Main: Suhrkamp

Habermas, J. (2005): Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt am Main: Suhrkamp

Glucksmann, A. (2004): Hass, München: Nagel und Kimche/Carl Hanser Verlag 2005

Lear, J. (2005): Freud, New York und London: Routledge

Strauß, B. (1993): »Anschwellender Bocksgesang«, in: Der Spiegel, Heft 6/93

Strauß, B. (2001): »Der Schlag«, in: Der Spiegel, Heft 41/01

Strauß, B. (2006): »Der Konflikt«, in: Der Spiegel, Heft 7/06

»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, 2/2006