ESPRIT

Neue Mächte, neue Bedrohungen

Ein Gespräch mit den französischen Forschungsleitern Pierre Hassner und Bruno Tertrais über den Zusammenbruch des Modells Zentrum-Peripherie

 

 

Unilateralismus versus Multilateralismus, Friedenspolitik versus Kriegstreiberei, USA versus Europa, USA versus China? In den in Umlauf befindlichen Weltbildern passt die Realität mit ihren international sich überschneidenen Konflikten nicht gut hinein. In dem Gespräch der französischen Zeitschrift »ESPRIT« werden die Gefahren des Terrorismus, eines islamischen Fundamentalismus oder der Atomwaffen im Zusammenhang mit starken und schwachen Staaten und der Rückkehr der Geopolitik diskutiert. Kann zwischen Demokratie und Machtpolitik unterschieden werden?

 

Was kann man zur Realität der Bedrohungen im internationalen Maßstab sagen?

Pierre Hassner – Die erste Bedrohung, die ich ausmachen kann, beruht auf der Tatsache, dass wir nur sehr selten einer solchen Ungewissheit ausgesetzt waren. Man kann in gewisser Weise sagen, dass die internationale Lage eigentlich gar nicht so schlimm ist: Mehrere Berichte zeigen im Gegensatz zur allgemeinen Wahrnehmung, dass die Zahl der Kriege, einschließlich der Bürgerkriege, und die Zahl der Völkermorde seit 1995 abgenommen hat. Aber trotzdem befinden wir uns weitgehend in Ungewissheit und fürchten, dass ein neues Attentat alles grundlegend erschüttern und verändern könnte. Im Nahen Osten, mit der inneren Situation in Israel, befindet man sich mehr als jemals zuvor im Zweifel. Die terroristische Bedrohung und die drohende Weiterverbreitung von Atomwaffen bleiben weiterhin präsent. In den Vereinigten Staaten kann man nach dem »Krieg gegen den Terrorismus«, der von George Bush angekündigt worden war, eine Rückkehr zur Geopolitik beobachten: Nach dem 11. September 2001 gab es der amerikanischen Rhetorik zufolge keinen Konflikt der Großmächte mehr, die von nun an gegen den Terrorismus vereint seien. Seitdem ist aber wieder die Logik der Staaten zurückgekehrt: Die Amerikaner sind mit China und Russland beschäftigt und machen sich Gedanken über ganz klassische geopolitische Probleme wie zum Beispiel die natürlichen Ressourcen oder die Energieversorgung. Dieses Schwanken zwischen einer Analyse, die den Terrorismus privilegiert, und einer Analyse, die zu den klassischen Kategorien der Geopolitik zurückkehrt, übersetzt sich in der amerikanischen Administration in den Gegensatz zwischen den al-Qaida firsters und den China firsters. Wenn es also neue Bedrohungen gibt, so gibt es auch eine Rückkehr zu den alten Bedrohungen, sprich so etwas wie einen Kalten Krieg mit Putin, der Ukraine ...

2005 ist auch ein Jahr, in dem man sich in größerem Maße der außerpolitischen Bedrohungen bewusst wurde, wie etwa der Klimaveränderung, der Epidemien, der Vogelgrippe oder der sozialen Phänomene wie die Migrationen und die Aufstände in den Vorstädten.

Insgesamt ist es schwierig, an die verschiedenen Formulierungen zu glauben, die gefunden wurden, um auf die Herausforderungen dessen zu antworten, was diese Phase charakterisiert: das wohlwollende amerikanische Imperium, die europäische Multipolarität, die Herrschaft des Gesetzes. Die USA sind in der Defensive, und die Multipolarität existiert vielleicht, aber mit China und Indien – und nicht, wie man gehofft hatte, mit Europa und Japan. Die Integrationsmodelle sind in Schwierigkeiten geraten, ob es sich um die in den Vereinigten Staaten (siehe New Orleans) oder um die in Frankreich (siehe die Krise der Vorstädte) handelt. Europa ist gelähmt, und Frankreich noch etwas mehr.

Dennoch, die Idee, dass man, um die internationalen Beziehungen zu verstehen, den »neuen Bedrohungen« eine größere Bedeutung beimessen sollte, hat in den letzten Jahren anscheinend Sinn gemacht. Erleben wir einen Zeitenwechsel?

Bruno Tertrais – Die Debatte über die Bedrohungen weist einen entsetzlichen Mangel an intellektueller Strenge auf. Man kann die Vogelgrippe und die iranische Atombombe nicht auf eine Ebene stellen. Und die Vogelgrippe, die bis heute achtzig Menschen getötet hat, ist auch nicht dasselbe wie die Malaria, die mehr als eine Million Tote pro Jahr fordert. Die Katastrophe von Tschernobyl wird herangezogen, um die Gefahren der Atomenergie zu unterstreichen, aber sie hat drei- oder viermal weniger Opfer gekostet als die industrielle Katastrophe in Bhopal in Indien. Manchmal befindet man sich, vor allem in Europa, in völliger Konfusion. Eine Umfrage im Jahre 2003 hat gezeigt, dass die Europäer die größten Bedrohungen des Friedens in Israel und den USA sahen. Auch wenn diese Umfrage während der Irakkrise stattfand, so kann sie doch nur Verblüffung hervorrufen.

Es gibt in der Tat zwei große Schulen, die sich den USA widersetzen, um herauszufinden, ob die strategische Welt der nächsten dreißig Jahre mehr vom Terrorismus und Islamismus als von Asien und einer möglichen chinesischen Bedrohung geprägt wird. Die Gefahr einer Verschmelzung dieser beiden Bedrohungen, das »konfuzianisch-islamische« Bündnis, das bereits von Samuel Huntington angekündigt wurde, scheint mir dagegen ein Hirngespinst zu sein.

Zur allgemeinen Situation kann man sagen, dass es gleichzeitig ein Scheitern des Terrorismus und ein amerikanisches Scheitern gibt. Ein Scheitern des Terrorismus, weil seit vier Jahren – im Gegensatz zu den eingestandenen Zielen im Einflussgebiet von al-Qaida – keine Regierung in der arabisch-islamischen Welt gestürzt wurde. Unsere Demokratien sind nicht zu Diktaturen geworden, selbst wenn die Frage des Gleichgewichts von Sicherheit und Freiheit einem Sorgen machen kann. Europa wird auch nicht zunehmend vom Terrorismus verfolgt. Weder Madrid noch London sind europäische »11. September« gewesen. Parallel dazu kann man in dem Maße von einem amerikanischen Scheitern sprechen, in dem es Amerika nicht gelungen ist, die Veränderungen des Phänomens al-Qaida zu begreifen, das sich seit vier Jahren gewandelt hat. Amerika hat Reaktionen hervorgerufen, die zum Gegenteil dessen führten, was es wollte. Das heißt Reaktionen der Differenzierung im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, sprich: Sympathiebekundungen, die es davor nicht gegeben hat, für terroristische Gruppen. Es hat das Zugehörigkeitsgefühl der Moslems zu einem gemeinsamen, vom Westen bedrohten Raum gestärkt. Und der heutige Islamismus ähnelt dem einstigen Panarabismus, wie Olivier Roy immer wieder hervorhebt.

Die atomare Bedrohung scheint mir heute besonders besorgniserregend zu sein. Die biologische Bedrohung wird das vielleicht in der Zukunft auch sein, aber das ist noch nicht der Fall. Das wird von der Art und Weise abhängig sein, in der die Labore sowohl in den westlichen Ländern wie auch in den terroristischen Gruppen Fortschritte machen. Was die Atomkraft betrifft, so ist man wieder in der gleichen Lage wie in der Mitte der Sechzigerjahre, und Analysen wie die von McNamara haben weiterhin Bestand: Wenn wir nicht aufpassen, haben wir in vierzig Jahren zwanzig oder dreißig Atommächte. Diejenigen, die solche Voraussagen heute für lächerlich halten, vergessen, dass gerade diese Bewusstwerdung zum Atomwaffensperrvertrag geführt hat. Wenn der Iran und Nordkorea zu Atommächten werden, besteht die Gefahr einer kaskadenförmigen Weiterverbreitung.

P. Hassner – Nordkorea ist zweifellos bereits im Besitz von Atomwaffen. Schon 1945 sah man für 1980 einhundert Atommächte voraus, und einige bewiesen mathematisch, dass es bei dieser Zahl von Atommächten gewiss sei, dass zehn oder zwanzig Jahre später eine Atombombe explodieren würde. Man ist nicht mehr weit davon entfernt. Aber all das stärkt die Furcht vor der Zukunft. Ob es sich um die Vogelgrippe oder den Terrorismus handelt – was Panik erzeugt, ist die Möglichkeit, sprich: die Wahrscheinlichkeit von künftigen Katastrophen, die durch die relativ bescheidenen aktuellen Bemühungen nicht vermieden werden können. Was den Terrorismus betrifft, so weiß ich nicht, ob man von einem Scheitern sprechen kann, aber in den letzten Jahren hat sich der Gedanke aufgedrängt, dass es einen qualitativen Sprung des Terrorismus gegeben hat, mit dem Gebrauch von schmutzigen Waffen wie etwa dem Sarin-Gas, das 1995 in der U-Bahn von Tokyo benutzt wurde. Die Formulierung von George Bush, der zufolge wir uns mit einem Bündnis von Fanatismus und Technologie auseinander setzen müssen, bezeichnet ein wahres Problem. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Terrorgruppen in Zukunft mit unkonventionellen Waffen handeln werden.

Wenn man diese Ungewissheit akzeptiert, wie soll man dann die Bedrohungen hierarchisieren? Die Vogelgrippe könnte sich durchaus als eine Gefahr erweisen, die viel ernster als die iranische Atombombe ist. Auch wenn sie bislang noch nicht mutiert ist und nur wenige Menschen getötet hat, sehen die Fachleute voraus, dass dies sicherlich in einigen Jahren geschehen wird und dass sie in diesem Fall sicherlich eine große Zahl von Opfern verursachen wird. Andererseits, was die iranische Atombombe betrifft, so bringt sie die große Gefahr eines Wettlaufes um Atomwaffen im Mittleren Osten mit sich, beziehungsweise eines aggressiven Einsatzes gegen Israel durch einen Fanatiker vom Schlage eines Ahmadinejad. Aber dieser Wettlauf scheint mir langfristig unvermeidlich zu sein, und es besteht die Möglichkeit, dass er mit einer anderen Regierung in die Logik der gegenseitigen Abschreckung übergeht. Alles in allem gesehen hat die Erlangung der Atombombe eine Stabilisierung zwischen Indien und Pakistan ermöglicht. Jedenfalls sind alle südlichen Länder der Meinung, dass die Amerikaner und die Europäer, die selber im Besitz von Atomwaffen sind und sie anderen vorenthalten wollen, weder die Macht noch das Recht haben, der ganzen Welt ihr Gesetz zu diktieren. Wirtschaftssanktionen oder ein Atomschlag gegen den Iran können dessen Bevölkerung nur um die nationale Forderung nach dem Besitz der Bombe vereinen, und das umso mehr, als sie sich von den Nachbarn bedroht fühlt, die sich im Besitz von Atomwaffen befinden, wie etwa Russland, Pakistan, Israel und ein im Irak präsentes Amerika.

Die aus Taiwan kommende Gefahr ist nicht geringer. Innerhalb der nächsten zehn Jahre könnte China die Insel besetzen. Werden die USA in diesem Fall einen Krieg gegen China beginnen? Überlegungen dazu können nur virtuell bleiben. Das Gewicht der Drohung und ihre Wahrscheinlichkeit ist nur sehr schwer einzuschätzen.

B. Tertrais – Was den möglichen Gebrauch von massiven Zerstörungswaffen durch Terrorgruppen betrifft, so ist anzumerken, dass die bevorzugte Handlungsweise nicht der Einsatz von chemischen, biologischen oder atomaren Waffen ist, sondern das Selbstmordattentat. Die Verallgemeinerung dieser Technik ist eine der wichtigsten strategischen Entwicklungen der letzten Jahre, denn sie bildet für den Terrorismus einen echten »Kraftverstärker«. Was zur Folge hat, dass die Terrorgruppen gegenwärtig nicht davon ausgehen, dass der Übergang zu »massiven Zerstörungswaffen« unverzichtbar ist, um eine Massenvernichtung zu bewirken.

Was das atomare Risiko betrifft, muss man die Rede von Thomas Schelling zur Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften im Jahre 2005 lesen. Für ihn ist das wichtigste Ereignis in den letzten sechzig Jahren die Nicht-Verwendung der Atomwaffe. Das Tabu der Verwendung von Atomwaffen bleibt in der Tat vorherrschend, aber eine der großen Fragen lautet, ob es gebrochen werden wird. Für manche wird es im Laufe der Zeit stärker werden; für andere gibt es dagegen mit dem Schwinden der Erinnerung an Hiroshima und dem körperlichen Verschwinden der Opfer des Dramas eine Tendenz, dieses Tabu zu vergessen, sodass es schwächer wird. Meiner Meinung nach gibt es heute zwei Gefahrenpunkte für einen Atomkrieg: Kaschmir und Taiwan. Und im letzteren Fall bedeutet das die Gefahr eines Krieges im weltweiten Maßstab, der China und die Vereinigten Staaten einbezieht.

Die Gefahr, die der Erwerb der Atomwaffe durch den Iran darstellt, ist nicht so sehr das Risiko ihres direkten Einsatzes, sondern liegt vielmehr in den Folgen für den Mittleren Osten und zwar vor allem darin, einen Wettlauf um den Erwerb der Atomwaffe in der ganzen Region auszulösen. Aber mir scheint, dass im Konfliktfall China eher als der Iran geneigt ist, die Atomwaffe einzusetzen.

Kommen wir zur Hierarchie der Bedrohungen zurück. Liegt eines der heutigen Probleme der Sicherheitsfrage nicht in dem Abstand zwischen der Wahrnehmung und der Realität der Bedrohung? Wie soll man diesen Abstand überwinden?

P. Hassner – Nach einer kürzlichen Umfrage, bei der man Amerikaner und Europäer befragte, was ihnen als Hauptgefahr erschien, antworteten Erstere: der Terrorismus, und Letztere: die Klimaveränderung. Aber beide Seiten sind sich mehr und mehr der Gefahr bewusst, die von der anderen für größer gehalten wird.

B. Tertrais – Dennoch stand in Europa in den Neunzigerjahren der Terrorismus oft an der Spitze der Besorgnisse. In Frankreich war das Land, das am meisten als Bedrohung für die Sicherheit Europas wahrgenommen wurde, Algerien, wegen der Attentate. Nun zum Abstand zwischen Wahrnehmung und Realität. Die Vogelgrippe, die Klimaerwärmung und die Umweltverschmutzung sind Bedrohungen. Aber welchen Platz sollen sie unter unseren Besorgnissen einnehmen? Die Vogelgrippe erinnert an die vielen Toten infolge der Spanischen Grippe am Ende des Ersten Weltkriegs. Aber ist die Spanische Grippe deswegen ein Ereignis, das auf der gleichen Ebene anzusiedeln ist wie die großen Phasen der Gewalt im 20. Jahrhundert? Und ist das Ausmaß der Klimaerwärmung nicht ziemlich unklar und unter Fachleuten umstritten? Ohne die Fragen zu leugnen, die mit der Gesundheit und der Umwelt verbunden sind, wäre es legitim, dass die Fragen, die sich auf den Terrorismus, das Wachstum und den Aufschwung in Asien beziehen, in der öffentlichen Meinung mehr präsent sind. Man leidet unter der Amtsperiode Bush, und zwar in dem Sinne, dass viele politisch und intellektuell Verantwortliche fürchten, als Anhänger des amerikanischen Präsidenten angesehen zu werden, wenn sie diese Fragen ansprechen. Wenn die Amerikaner die Bedrohung auch übertreiben mögen, so kann es auch nicht darum gehen, sie zu leugnen. Die amerikanischen Analysen sind manchmal doch ein Hinweis auf die wirklichen Fragen.

China wird eher als eine Gefahr auf wirtschaftlicher Ebene und auf der Ebene der Beschäftigung wahrgenommen als eine militärische Gefahr. Aber einer der großen Fehler der heutigen strategischen Analyse besteht darin, davon auszugehen, dass die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit der USA und Chinas einen Krieg zwischen diesen beiden Ländern verhindern würde.

Die Idee der Rückkehr der Geopolitik könnte auch für die Rolle der Staaten auf der internationalen Bühne sprechen. Wie sehen die Staatstypen aus, die bei den internationalen Beziehungen Probleme bereiten? Muss man sich Sorgen machen über die Relikte von starken Staaten oder über die Schwäche von zusammengebrochenen Staaten? Des Weiteren stellt sich das Problem, zu definieren, was ein starker Staat ist. Zur Zeit des Kalten Krieges gab es eine gewisse Klarheit durch den Begriff der totalitären Macht. Aber gibt es heute eine Gemeinsamkeit zwischen dem Autoritarismus chinesischer, russischer oder pakistanischer Machart?

P. Hassner – Ich habe von einer Rückkehr der Geopolitik gesprochen, aber man darf auch nicht die Tatsache aus dem Auge verlieren, dass die Beziehungen zwischen den Staaten heute grundlegend durch den Einfluss der Kommunikationsformen, der Leidenschaften, des Irrationalen, der Furcht und des Ressentiments verändert werden. Stanley Hoffmann spricht von der Notwendigkeit, eine »Geopolitik der Leidenschaften« zu entwickeln. Wenn die Vereinigten Staaten nicht die Rolle eines Imperiums im eigentlichen Sinne spielen können, so liegt das daran, dass die Gesellschaft von dem Moment an zu regieren beginnt, in dem die Zahl der Toten steigt und die Fotos von Abu Ghraib verbreitet werden. Es gibt alle möglichen Beispiele auf der Welt: das Fehlen des Staates, schwache Staaten, gescheiterte Staaten und starke Staaten. Kann man das Auftauchen von China als eine friedliche Expansion charakterisieren? Die Fachleute für diese Region sind sich bei diesem Thema nicht einig. Deng Xiaoping soll gesagt haben: »Unsere Priorität für die nächsten fünfzig Jahre besteht darin, China zu einer respektablen und respektierten Großmacht zu machen, danach wird man sehen.« Offensichtlich liegt alles in diesem »danach«!

Gewiss ist jedenfalls, dass die chinesischen Führer versuchen, Kapitalismus, Autoritarismus und Nationalismus miteinander zu kombinieren. Das Gleiche gilt für Russland. Putins Macht erscheint immer mehr als autoritär und mafiös und appelliert immer mehr an die Nostalgie des Imperiums und zugleich an die Furcht vor der Umzingelung. Auf internationaler Ebene besteht das Ziel darin, die Länder der ehemaligen Sowjetunion zu kontrollieren, wobei auf die Waffe der Energieversorgung und auf militärische Macht zurückgegriffen wird.

B. Tertrais – Die Rolle der Staaten ist immer extrem wichtig. Keine NGO und kein multinationales Unternehmen hat heute ein Gewicht, das zum Beispiel mit dem der Ostindienkompanie im 19. Jahrhundert verglichen werden könnte. Diese hatte quasi staatliche Kompetenzen und überdies ein beträchtliches wirtschaftliches Gewicht. Wir befinden uns noch in einer Welt des »Westfälischen Friedens«, mal abgesehen von der Frage der Einmischung. Die Rolle der Staaten in den Nationalökonomien bleibt extrem wichtig. Der Anteil des Staates am Bruttoinlandsprodukt verschiedener westlicher Länder ist immer beträchtlich. Selbst während der Präsidentschaft von Reagan, der ansonsten als Champion der Deregulierung angesehen wurde, hat der Anteil öffentlicher Ausgaben beträchtlich zugenommen. Der Terrorismus führt auch zu einer Rückkehr oder zu einer Stabilisierung des Gewichtes des Staates, da dieser die Aufgabe übernimmt, auf seinem Territorium für Sicherheit zu sorgen. So befindet sich Pakistan in einer Phase des Aufbaus des Staates: Der Terrorismus trägt dort zur Stärkung des Gewichtes des Staates bei, zu seiner größeren Präsenz auf dem gesamten Territorium, einschließlich der abgelegenen Zonen, in denen er bis dahin nur wenig präsent war. Und das gilt für viele Länder auf der Welt. Die größten heutigen Probleme kommen entweder von »zu schwachen« Staaten, die zu Rückzugsgebieten für den Terrorismus werden können, oder von »zu starken« Staaten, die ihre Agenda durchsetzen wollen. So können China und der Iran in dem Sinne als revisionistisch eingeschätzt werden, dass sie die internationale Ordnung, wie sie ihnen von den westlichen Ländern und insbesondere von den USA und vor allem in ihren eigenen Regionen, in Ostasien und im Mittleren Osten aufgezwungen wird, revidieren wollen. Für manche Iraner handelt es sich um eine echte »zivilisatorische« Herausforderung: Der Iran will der islamischen Welt eine potenzielle Alternative zur westlichen Modernität präsentieren. Der Iran ist das Land in der sich entwickelnden Welt, in dem Huntingtons Buch Kampf der Kulturen am meisten Beachtung gefunden hat. Und man könnte sogar sagen, dass der wichtigste Akteur bei den internationalen Beziehungen, die Vereinigten Staaten, selber auch in dem Maße »revisionistisch« ist, in dem er den Status quo im Namen der Verbreitung der Demokratie und der Schaffung eines neuen Mittleren Ostens umstürzen will. Seit dem 11. September ist er »revisionistisch«.

Erscheinen die Demokratien in diesem Kontext als Elemente der Stabilität? Besteht nicht die Gefahr, dass die Demokratien in ihrem Inneren von den Gefahren angesteckt werden, die aus der internationalen Ordnung kommen? Man denke hier an die Beispiele Abu Ghraib und Patriot Act, aber auch an das jüngere Beispiel von Gerhard Schröder. Indem er es akzeptierte, zum Führungsteam eines Unternehmens zu gehören, das durch die Unterzeichnung einer Vereinbarung geschaffen wurde, die er kurz vor seinem Scheitern bei den Bundestagswahlen mit Putin getroffen hatte, hat er auf der Skala der in Deutschland akzeptierten Korruption einen beträchtlichen Sprung gemacht.

B. Tertrais – Dieses Problem der Korruption ist wichtig, denn es ist ein Bestandteil dessen, was die amerikanische Rechte Frankreich und Deutschland vorwirft. Seit 2001 wirft sie dem »Alten Europa« vor, sich neben anderen Anzeichen für seine Dekadenz und seinen Mangel an moralischen Bezugspunkten zur Korruption verleiten zu lassen. Das könnte heute ein leichtes Lächeln hervorrufen, wo mehrere Führer der republikanischen Partei wegen Korruption in Schwierigkeiten geraten sind! Die Verbindungen der Familie Bush zur Herrscherfamilie in Saudi-Arabien oder die von Vizepräsident Dick Cheney zur Firma Halliburton erinnern daran, dass es auch für die Republikaner die Gefahr der Vermischung von Genres gibt. Die Vermischung von Genres wird übrigens manchmal voll und ganz eingestanden, so zum Beispiel als James Baker verkündete, dass Kuwait befreit werden musste, um »Jobs« in Amerika zu schaffen. Aber der Status der Häftlinge von Guantanamo hat zu einem Urteil des Obersten Gerichtshofes geführt, und die Affäre von Abu Ghraib zu Sanktionen. Das beweist, dass die amerikanische Demokratie funktioniert.

Man kann die Vereinigten Staaten und Europa nicht radikal gegenüberstellen, ohne in einen undiskutierbaren Schematismus zu verfallen. Gewiss, die aktuelle Phase ruft reale Divergenzen hervor, mit Entscheidungen, die übrigens auf beiden Seiten zweifelhaft sind. Amerika entschied sich für die Moral, wenn auch um den Preis der Illegalität, Europa für das internationale Recht, wenn auch um den Preis der Immoralität. Die Vereinigten Staaten haben sich für die Destabilisierung entschieden, wenn auch um den Preis des Chaos, und im Übermaß auf den Erfolg von Zwangsmaßnahmen gesetzt; Europa hat sich seinerseits für die Stabilität entschieden, wenn auch um den Preis der Ungerechtigkeit, und wiegt sich in Illusionen des Dialogs und des Engagements. Amerika hat sich schließlich von der Leidenschaft mitreißen lassen; aber Europa hat seinerseits die Leidenschaft vergessen ...

P. Hassner – Man findet in den USA gleichzeitig die jacksonsche militaristische Seite und die protestantische fundamentalistische Seite, aber auch eine Tradition der Legalität, eine demokratische Denkweise und ein modernes, individualistisches Volk. Niemand wagt es in den Vereinigten Staaten, die Wehrpflicht wieder einzuführen; und die Öffentlichkeit lehnt die wachsende Zahl von Toten ab. Senator McCain hat als Einziger gesagt, dass mehr Truppen benötigt werden. In diesem Sinne stehen wir, was das Verhältnis zu den Arabern oder den fanatischen Moslems betrifft, auf derselben Seite. Das grundlegende Problem liegt in der Entscheidung zwischen Demokratie und Machtpolitik. Ich erinnere daran, dass auch wir unsere düsteren Kapitel in Algerien hatten, und damals hat sich das französische Parlament nicht einstimmig gegen die Folter ausgesprochen. Im 19. Jahrhundert konnten die Kolonialstaaten auf heimischem Boden eine annehmbare Macht ausüben, während sie in den Kolonien grausame Repressionen vornahmen. Heute gehen die Bilder um die Welt, und dieses zwiespältige Verhalten ist unhaltbar geworden. Von da an wird ganz deutlich: Das Dilemma zwischen Realismus und Demokratie ist real. Die Staaten werden heute sehr viel mehr von den Reaktionen beeinflusst, die sie in der öffentlichen Meinung und überall auf der Welt auslösen.

B. Tertrais – Heute finden die unbedeutendsten Gerüchte oder Erklärungen unmittelbar und unvermittelt – durch das Internet oder das Satellitenfernsehen – ihren Widerhall in den entlegensten Ecken der arabisch-islamischen Welt. Das sind Phänomene, die es früher nicht gegeben hat und die auch sehr wichtig für das Funktionieren von Demokratien sind: Sie tragen zur Entstehung des Bildes einer Konfrontation zwischen »denen« und »uns« bei. Aber sie haben auch gewisse Vorteile: Wie Michael Ignatieff meint, verhindert das Gewicht der öffentlichen Meinung im Westen, dass wir der Verlockung des Imperiums nachgeben, da unsere Bevölkerungen nicht bereit sind, den Preis dafür zu bezahlen.

Was könnte die internationale Ordnung stabilisieren? Man kann sich fragen, wer heute die Legitimität hätte, Gesetze und Umgangsregeln zu schaffen. Das Szenario des amerikanischen Unilateralismus, der, wenn auch widerwillig, ein Minimum an internationaler Ordnung, die alle Länder brauchen, durchsetzt, scheint schnell in sich selbst zusammengebrochen zu sein.

P. Hassner – Die Amerikaner haben im Irak die Grenzen des militärischen Instruments entdeckt. Demokratisierung war der Slogan der zweiten Bush-Administration. Das Bush-Team legt den Schwerpunkt mehr auf die Gefahren, die von zusammengebrochenen Staaten ausgehen, und folglich spricht Bush eher von Unterstützung beim Aufbau von Staaten und von nation building. Während die Amerikaner weiterhin glauben, dass sie gegenüber dem Bösen das Gute vertreten, berücksichtigen sie unter dem Zwang der Verhältnisse nun doch die Tatsache, dass man mit den Ländern in Abhängigkeit von Bündnisentscheidungen umgehen muss. Das heißt, dass sie die Ukraine nicht zu sehr unterstützen, aber trotzdem Putin kritisieren, und zwar mehr als die Europäer. Sie brauchen Usbekistan für Afghanistan, aber als sie die von seiner Regierung ausgeübte Unterdrückung kritisierten, beeilten Russland und China sich, diese Regierung zu unterstützen, welche ihrerseits ihre Unterstützung für die USA zurückzog. Solche Probleme sind auch im Irak entstanden, und zwar einerseits auf politischer Ebene – die Schiiten unterstützen und sich die Sunniten nicht zum Feind machen – und andererseits auf militärischer Ebene: weitermachen und koste es, was es wolle, die Aufständischen vernichten oder sich vor allem darum bemühen, sich die Bevölkerung nicht zum Feind zu machen. Letzten Endes handelt es sich immer um dasselbe Dilemma, das man schon in Vietnam erlebt hat: search and destroy, den Terrorismus oder die Guerilla aufspüren und vernichten, oder winning hearts and minds, den friedlichen Weg einschlagen und die Unterstützung der Bevölkerung gewinnen.

B. Tertrais – Ich stehe dem wishful thinking europäischer Art äußerst kritisch gegenüber, das sich zur Zeit der Wiederwahl von Bush entwickelt hat und das darin besteht, zu denken, dass der Präsident schließlich doch noch »zur Vernunft zurückkehren« wird, und dass auf die erste unilateralistische und neokonservative Amtszeit eine realistische und multilateralistische Amtszeit folgen wird. Diese Idee ist verlockend, aber sie scheint mir falsch zu sein. Der Irak darf bestimmte Gegebenheiten nicht verbergen. Selbst unter Bush praktizieren die Amerikaner den Multilateralismus, und zwar zumindest in vier Formen. Zunächst den Multilateralismus vom Typus der Welthandelsorganisation (WTO), in der die USA nur eine Macht unter anderen sind. Dann der Multilateralismus via leadership in der NATO, in der die USA versuchen, durch institutionelle Mechanismen einen Konsens in ihrem Sinne zu schaffen. Man kann auch die Bewältigung der Nordkoreakrise zitieren, bei der die USA die Auffassungen von Japan und Südkorea berücksichtigen müssen. Schließlich, ein Grenzfall, ist die Koalition im Irak in gewisser Weise multilateral, da sie mehrere Länder einbezogen hat, selbst wenn dies die engsten Verbündeten wie Großbritannien, Australien und Polen sind. Man kann Unilateralismus und Multilateralismus nicht in schematischer Weise gegenüberstellen, als ob es reine Modelle des einen oder des anderen geben würde. Aber insgesamt meine ich, dass die ziemlich churchillsche ideologische Haltung, die darin besteht, zu sagen, dass die USA für mehrere Generationen im Krieg sind, weiterhin die Linie von Bush ist.

P. Hassner – Trotzdem hat es bestimmte Entwicklungen gegeben. Die ideologische Offensive gegen den Multilateralismus ist stark gewesen, vor allem in der Zeit, als die Neokonservativen am meisten Einfluss hatten. Für sie konnte die Legitimität nur aus der amerikanischen Verfassung und aus der amerikanischen Wählerschaft kommen; von den großen universellen Prinzipien und von einer Versammlung der Vereinten Nationen, in der Sklavenhalterstaaten und totalitäre Staaten vertreten sind, war nichts zu erwarten. Sie sind weitgehend der Idee des »mit zweierlei Maß messen« gefolgt: Wir akzeptieren die internationalen Zwänge nicht, fordern aber, dass die anderen sich ihnen anpassen. Aber eine solche Position kann nicht lange halten. Selbst Robert Kagan, der sagte, dass man nicht zu verhandeln brauche, wenn man in der Position des Stärkeren sei, hat seine Position abgeschwächt, als er später sagte, es sei notwendig, eine Legitimität zu haben. Mir scheint, dass eine gewisse Neuorientierung stattgefunden hat. Es ist ja kein Land allein unilateralistisch oder multilateralistisch.

Ungewissheit besteht weiterhin darüber, ob eher Druck auf die organisierten Netze oder auf die Schurkenstaaten ausgeübt werden soll. Rumsfeld hat bei mehreren Gelegenheiten dazu geraten, eher vom Krieg gegen die organisierte Gewalt als vom Krieg gegen den Terror zu sprechen. Es gibt innerhalb der US-Administration eine Tendenz, sich diese Formulierung zu Eigen zu machen. Wenngleich Bush an der Formel vom Krieg gegen den Terror festhält.

B. Tertrais – Eine der in Frankreich kaum wahrgenommenen Entwicklungen ist die amerikanische Neuorientierung des Krieges gegen den Terror. Ende 2005 haben mehrere Reden von Bush eine Neudefinition des Krieges gegen den Terror als Krieg gegen eine Weltanschauung gezeigt. Angesichts der Gefahr, vom Krieg gegen den Terror in einen Krieg gegen den Islam oder in einen »unendlichen Krieg« abzugleiten, ist diese Orientierung bemerkenswert.

Es gibt heute einen Wettstreit zwischen zwei Mächten oder vielleicht zwischen zwei Legitimitäten: die USA und die UNO. Man muss betonten, dass die beiden Leitbegriffe »Multipolarität« und »Multilateralismus«, die von Frankreich verwendet werden, sehr zweideutig sind. Man kann zeigen, dass Multilateralismus sogar auf die amerikanische Vorgehensweise angewandt wird, wofür ich schon einige Beispiele angeführt habe. Die Multipolarität ist noch schwieriger zu definieren: Ist sie ein Zustand des Systems oder ein Paradigma, ein zu erreichendes Ideal? Beide Definitionen lassen sich im französischen Diskurs wiederfinden. Zu dieser definitorischen Unschärfe kommt ein mangelndes Verständnis zwischen Amerikanern und Franzosen. Die Vereinigten Staaten verstehen diesen Diskurs als ein Lob der Rückkehr zum Gleichgewicht der Kräfte und zu einem System, das aus ihrer Sicht in Europa gescheitert ist. Manche Franzosen halten es für unlogisch, dass die Amerikaner, die bei sich zu Hause die balance of power, das Gleichgewicht der Mächte, als Norm der Demokratie rühmen, dies nicht im internationalen System akzeptieren. Einige offizielle amerikanische Texte berufen sich indessen auf die Multipolarität, wenngleich in zweideutiger Weise. So verteidigt die National Security Strategy, die im Jahre 2002 veröffentlicht wurde, das Ziel einer Welt des friedlichen Wettbewerbs zwischen den Großmächten. Diese Formulierung erscheint als eine Art Kompromiss zwischen der neokonservativen Schule und der realistischen Schule. Die Unipolarität ist sicherlich weder so gut, wie die Vereinigten Staaten behaupten, noch so schlecht, wie die Franzosen meinen.

P. Hassner – Die Welt kann nicht unipolar sein und ist nicht streng unipolar, abgesehen von dem, was die militärischen Kapazitäten Amerikas betrifft. Multipolarität ist immer vorhanden, wenn man darunter die Mannigfaltigkeit von Einfluss- und Widerstandszentren versteht. In vergleichbaren Begriffen staatlicher Macht gesagt, hat sie gute Chancen im 21. Jahrhundert aufzutauchen, wenn auch eher zugunsten von Asien als von Europa. Vor allem dürfen die internen und externen Grenzen der Macht nicht vergessen werden. So definiert der englische Historiker Niall Ferguson in Colossus [Das verleugnete Imperium] drei Mängel, die es den USA nicht erlauben, ein Imperium zu sein. Der erste ist die wirtschaftliche Abhängigkeit (sie brauchen die Chinesen und die Japaner, insbesondere wegen ihres Haushaltsdefizits); dann ein Mangel an Menschen bei der militärischen Aktion, da sie keine Wehrpflicht wieder einführen wollen (sie können ein Land bombardieren, aber es ist danach schwierig, es zu besetzen und seine Sicherheit zu gewährleisten); schließlich ein Mangel bei der Kontinuität der Aufmerksamkeit (sie interessieren sich für ein Land und dann für das nächste). Diese drei Mängel haben mit der Natur der modernen Gesellschaft und mit der des amerikanischen Regimes zu tun. Eine kapitalistische Demokratie, die sich auf eine individualistische Bevölkerung und eine wechselnde öffentliche Meinung stützen muss, kann nur schwer ein Imperium sein. Kurz gesagt, das Haupthindernis für ein amerikanisches Imperium ist die amerikanische Gesellschaft, die nicht bereit ist, die menschlichen, wirtschaftlichen und manchmal moralischen Kosten zu akzeptieren, die für eine imperiale Position notwendig sind.

Gegenwärtig gibt es keine Großmächte, die in der Lage wären, ein Gegengewicht zu den USA zu bilden, aber alle bemühen sich, die vorherrschende Macht zu begrenzen und zu sabotieren, indem sie eine Art von diffuser Gegenmacht schaffen.

B. Tertrais – Ja, man hat in diesem Zusammenhang von soft balancing gesprochen. Der Leitartikler William Pfaff hat 2002 den geschichtlich außergewöhnlichen Charakter der aktuellen Situation betont, in der fast alle Großmächte im selben Boot sitzen. Die amerikanische Macht scheint mir dauerhaft zu sein, und bestimmte angekündigte Hindernisse scheinen nicht zwangsläufig zutreffend zu sein. Man verweist zum Beispiel oft auf die wirtschaftlichen Defizite, auf die Defizite in der Handelsbilanz und in der Zahlungsbilanz. Aber solange Amerika die gleiche demographische und wirtschaftliche Dynamik und das gleiche wissenschaftliche und technische Innovationspotential hat, wird es ihm möglich sein, das Hindernis der Defizite zu umgehen – und das umso mehr, als der Rest der Welt, einschließlich China, angehalten ist, sie zu finanzieren. Und wie der Analyst Barry Posen zu Recht sagte, »Amerika beherrscht die gemeinsamen Räume«, das heißt die Meere, die Luft, den Weltraum und den Cyberspace. Die amerikanische Macht ist dauerhaft, da unerreicht. Diese Gegebenheiten finden sich nirgendwo anders. Europa und Japan haben ein Innovationsvermögen, aber nicht diese demographische Dynamik; China und Indien haben eine wirtschaftliche Dynamik, aber nur ein geringes Innovationsvermögen und überdies ihre eigenen demographischen Probleme, insbesondere einen männlichen Bevölkerungsüberschuss. China wird außerdem »vergreisen, bevor es reich wird«.

Die amerikanische Macht kann deshalb dennoch nicht mit einem Imperium verglichen werden, selbst wenn man sich nur mit rein militärischen Gegebenheit beschäftigt. Man sehe nur die geographische Lage der amerikanischen Militärbasen im Ausland: Diese sind nicht offen für das Land, sondern in sich selber abgeschlossen, abgeschottet, und die Amerikaner tendieren dahin, ihre Zahl zu verringern. Gewiss, es wird eine Basis im Irak bleiben, wie das bereits der Fall im Kosovo, in Kuwait und in Afghanistan war. Aber nichts, was dem Römischen Reich oder dem britischen Empire ähnelt.

Kann Europa nicht ein mögliches Gegengewicht bilden?

B. Tertrais – Ich gehe nicht davon aus, dass Europa ein Gegengewicht bilden sollte. Das ist übrigens auch nicht das, was Frankreich mit Hilfe des europäischen Projekts anstrebt, im Gegensatz zu dem, was die Vereinigten Staaten denken. Ich wundere mich, dass es heute ein Missverhältnis zwischen drei Welten gibt: Europa, Asien und Amerika. Europa hat das 20. Jahrhundert überwunden, vielleicht auf die Gefahr hin, es zu vergessen. Amerika erweckt seinerseits den Eindruck, das 20. Jahrhundert wiederzubeleben, indem es den Krieg gegen den Terrorismus mit den großen Konflikten der Vergangenheit verbindet, aber es wird ihm nicht gelingen, die anderen Länder auf seine Vorgehensweise zu verpflichten. Sein internationales Leben wird noch von den Konflikten des letzten Jahrhunderts rhythmisiert, in Gestalt von geschichtlichen Streitsachen und von territorialen Streitigkeiten.

Es gibt zu diesem Thema eine Debatte über die Zukunft Asiens, die insbesondere von Aaron Friedberg ausgelöst wurde, dem Verantwortlichen für Asien im Team von Dick Cheney. Diese Debatte dreht sich um die Frage: »Wird die Vergangenheit Europas zur Zukunft Asiens?« Man beschwört, meiner Meinung nach nicht ganz ohne Grund, die Möglichkeit eines »asiatischen 1914« herauf. Die Streitigkeiten materialisieren sich an symbolischen, politischen und wirtschaftlichen Einsätzen, die strittige Inseln oder Militärzonen sind. Wobei der wichtigste Einsatz Taiwan ist.

P. Hassner – Das Modell Zentrum-Peripherie ist zusammengebrochen, ebenso wie der Gegensatz Nord-Süd. Eine Zwischenkategorie, die immer wichtiger wird, ist aufgetaucht: die von aufstrebenden Ländern, die man BRIC countries genannt hat, um die Gesamtheit von Brasilien, Russland, Indien und China zu bezeichnen, die trotz offensichtlicher Divergenzen (insbesondere was Russland betrifft) konvergierende Interessen haben, zum Beispiel bei Verhandlungen mit der WTO. Man beobachtet eine gewisse Dezentrierung und zunehmende Beziehungen zwischen den ehemaligen Peripherien. Ohne dem Modell von Huntington zu folgen, können wir uns langfristig vorstellen, dass Europäer und Amerikaner sich um die westlichen Werte und die Werte der liberalen Demokratie versammelt wiederfinden werden, und zwar in einer Welt, in der sie und ihre Werte nicht mehr vorherrschend sind und in der sie sich öffnen und anpassen müssen und gleichzeitig nicht auf ihre Botschaft verzichten dürfen. Man muss die internationale Ordnung und die der Territorien nach diesem Schema der Öffnung und Abschließung überdenken.

B. Tertrais – Die Gefahr liegt darin, dass der westliche Kampf für die universellen Werte heute von den amerikanischen Übertreibungen beeinträchtigt wird, die dahin tendieren, diesen Kampf unglaubwürdig zu machen. Es ist indessen wünschenswert, dass die Fortsetzung der Demokratisierung nicht durch das Auftauchen von neuen Mächten in Frage gestellt wird.

P. Hassner – Die Amerikaner müssen ihre imperialen Neigungen überwinden, und die Europäer noch mehr ihre »passivistischen« Neigungen als ihre pazifistischen.

Das Interview wurde geführt von Nathalie Lempereur, Olivier Mongin und Marc-Olivier Padis und in der Ausgabe 2/06 der Zeitschrift ESPRIT. Revue international in Paris veröffentlicht. – Aus dem Französischen von Ronald Voullié. – Die Kommune-Redaktion hat das Gespräch an verschiedenen Stellen leicht gekürzt.

Pierre Hassner, ehemaliger Forschungsleiter am »Centre d’études et de recherches internationales de Sciences-Po« (Ceri), hat vor kurzem zusammen mit Gilles Andréani Justifier la guerre? De l’humanitaire au contre-terrorisme? (Paris 2005) herausgegeben; Bruno Tertrais ist Forschungsleiter bei der »Fondation pour la recherche stratégique« (Frs), er hat insbesondere La Guerre sans fin (Paris 2004) veröffentlicht.

»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, 2/2006