Elisabeth Kiderlen

Reform der Revolution

Medienbild und Alltagswelt – ein Blick hinter die Kulissen der iranischen Rambo-Politik

Während der iranische Atomkonflikt an Dramatik zunimmt und sich über die medialen Kanäle die Bilder eines den Holocaust leugnenden Präsidenten ausbreiten, wird unsere Autorin im Iran von einem unaufgeregten Alltag erfasst. Dabei findet sie durchaus erhebliche Veränderungen in der innenpolitischen Situation vor. Denn mit Ahmadinejad hat eine Generation an Macht gewonnen, die ganz real die Erneuerung der islamischen Revolution gegen das alte religiöse Establishment in Angriff nimmt. Eine neue Frömmigkeit als Garant für Entwicklung, ein neuer aggressiver Kurs nach außen?

Am 26. November letzten Jahres fiel der Satz des iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad, durch den die Außenpolitik der EU eine andere wurde. Ahmadinejad hatte sein Idol, den Revolutionsführer Chomeini, auf einer Versammlung zum jährlichen Al Quds-Tag (Jerusalem-Tag) vor 4000 Studenten zitiert: »Imam Chomeini hat immer Recht gehabt. Er hat vorausgesagt, dass das Sowjetreich untergehen würde, es ist untergegangen. Er hat gesagt, dass Iraks Diktator Saddam Hussein fallen würde, er ist gefallen. Und er hat gesagt, dass Israel von der Landkarte verschwinden werde ... Diese Prophezeiung wird sich auch noch erfüllen.« Zwei Tage später bin ich nach Isfahan geflogen, wo ich drei Monate als Gastdozentin an der dortigen Universität unterrichten sollte.

Wenig später legte Ahmadinejad nach. Er erklärte den Holocaust zum Mythos. Damit stellte er die Legitimität der israelischen Staatsgründung von 1948 in Frage, denn die Mehrheit der in der UNO versammelten Nationen hatte der Teilung Palästinas auch aus Entsetzen über den Mord an den europäischen Juden zugestimmt. Er glaube nicht an den Holocaust, so der Präsident weiter, wenn die Europäer aber darauf beharren wollten, dass es dieses unglaubliche Verbrechen wirklich gegeben habe, dann sei nicht einsichtig, warum die Palästinenser und nicht die Mörder dafür zahlen sollten. Israel nach Europa, so seine Konsequenz.

Der Westen reagierte mit Kopfschütteln oder heller Empörung. Die meisten iranischen Zeitungen, die alle durch die Zensur müssen, konterten mit der Frage, warum die Europäer einer rationalen Diskussion nicht zugänglich seien. In der Teheran Times erschienen Woche für Woche Artikel von so genannten Revisionisten wie Fredrick Toben vom Australischen Adelaide Institute, die die Größenordnung der Vernichtung in Frage stellten. Andere Stimmen kritisierten, dass das Gedenken an den Völkermord zu eng mit den Juden verknüpft sei und der Mord und die Gefährdung anderer Völker und Gruppen übergangen würden. Hendryk Broders Spiegel-Artikel wurde nachgedruckt, in dem er erklärt hatte, dass der Mord an den europäischen Juden durch die Deutschen nicht auf dem Rücken der Palästinenser ausgetragen werden dürfe. Anfang dieses Jahres wurde dann Horst Mahler als Kronzeuge gegen die westliche Holocaustforschung in den Iran eingeladen. Es ist ein krudes Gemisch von Stimmen mit ganz verschiedenen politischen Hintergründen, die da als Kronzeugen für Ahmadinejads Haltung präsentiert werden. Der Präsident Ahmadinejad stellte eine Holocaust-Konferenz in Aussicht, auf der die Fakten endlich frei von der Befangenheit der Opfer und der Täter geklärt werden sollten. Diese Ankündigung hatte es in sich, da sie mit knapper Geste die gesamte westliche Holocaustforschung vom Tisch fegte. An der Universität von Isfahan fand vor kurzem eine erste kleine Konferenz »Holocaust – Wahrheit oder Lüge« statt.

Was wir in diesen Monaten in den deutschen Medien vom Iran wahrnahmen, war nur das weltumspannende Zusammenspiel von radikalen Reden, provokativen Thesen, bedrohlichen Szenarien, düsteren Bildern und den entsprechend aufgeschreckten und scharfen Worten aus dem Westen. Hinzu kam die Unklarheit, ob die Iraner nicht nach der Bombe griffen. Iran schrumpfte zum Land Strippen ziehender Ayatollahs, eines verrückten Präsidenten, unterdrückter Frauen, aufgepeitschter Massen und der Bedrohung Israels. Ein Land, das Angst und Schrecken verbreitet.

Im Iran nichts davon. Eine helle Wüstensonne in Isfahan, in den gepflegten Parks beidseitig des Flusses sitzen Familien und machen Picknick. Auf den großen Boulevards aus dem 17. Jahrhunderts, die Baron de Haussmann später für Paris kopierte, wird flaniert. Neugierige Menschen fragen immer wieder, ob es einem im Iran gefällt, ob die Stadt nicht schön und die Leute nicht gastfreundlich seien. Sie kennen das westliche Bild des düsteren Iran und wollen immer erneut bestätigt bekommen, dass es nicht stimme. Die politischen Nachrichten werden hier zwar zur Kenntnis genommen, doch sie provozieren wenig Aufregung. Israel und die Palästinenser sind weit weg, und den Holocaust hat man sowieso nie recht verstanden. Das passt zur unentschiedenen Erklärung von Expräsident Chatami, mit der er sich von seinem Nachfolger und dessen Wort vom Holocaust-Mythos distanzierte: »Wir sollten wissen, dass eines der Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus das Massaker an unschuldigen Menschen war, und unter diesen war ganz sicher eine große Anzahl Juden.« (SZ, 1.3.06)

Meine Studenten und Bekannten schimpfen mit verblüffender Offenheit über die Korruption der Mullahs, und bei deren Erwähnung fahren sie sich mit dem Zeigefinger im Kreis um den Kopf, um den Turban anzudeuten. In Schah-Zeiten, erzählt mir eine iranische Freundin, die es wissen musste, wäre solche Offenherzigkeit nicht möglich gewesen, der Savak, der damalige Geheimdienst, war überall präsent. Die Diskussion über den Holocaust scheuen hingegen die Studenten, weil sie sich von allen Seiten in die Pflicht genommen fühlen. Gleichzeitig wissen sie, dass sie zu wenig mit der europäischen Geschichte 1933–1945 vertraut sind und mit dem Wenigen, das sie gehört haben, wollen sie nicht argumentieren. Sie fürchten, etwas Falsches zu sagen. Eine eigenständige Nuklearpolitik hingegen wollen alle, und wenn dabei eine Bombe entstünde, auch gut, Pakistanis und Israelis haben ja auch eine.

Die Welt, von der ich in deutschen Zeitungen im Internet las, und die Welt, in der ich in diesen drei Monaten lebte, schien nicht dieselbe zu sein. In dem Iran, den ich erlebte, herrschte Gelassenheit bis hin zu Indifferenz. Unter Intellektuellen, Künstlern oder Studenten gibt es so etwas wie Kriegslust, Kriegsbereitschaft, Aggressivität oder eine Militarisierung der Sprache nicht. Es gibt noch nicht einmal eine Kriegsangst. Kaum einer erwartet hier in nächster Zeit Veränderungen durch Einmischung von außen, denn erstens habe Iran Öl und Gas, welches der Westen und Ostasien dringend brauchten, zweitens seien die USA mit dem Irak-Krieg voll beschäftigt, drittens würden die Europäer im Iran gut verdienen. Und schließlich gäbe es eine große iranische Diaspora in den USA, die es schon zu verhindern wüsste, dass Bomben auf ihre Verwandten im Iran geworfen würden. Es gab allerdings auch solche, die eine schnelle Veränderung herbeisehnten und diese Argumente mit Bedauern vorbrachten. Sie werfen Europa Opportunismus vor. »Deutschland verdient so gut am Iran, deshalb will es nichts ändern und führt nur fruchtlose Dialoge der Kulturen.« Am ehesten erwarten sich diese Kreise etwas von den USA. Von der demokratischen Opposition hingegen ist gar nichts mehr zu hören, es ist, als ob Chatamis »Zagen und Versagen«, wie meine Studenten das nennen, diese politische Position so gründlich desavouiert hätte, dass es ihr die Sprache verschlagen hat. Im Übrigen liegt der Gleichmut der Iraner nicht daran, dass sie keinen Zugang zu unzensierten Informationen hätten, im Gegenteil: Alle gucken die amerikanischen Sender in persischer Sprache, aber auch BBC, und einige Deutsche Welle.

Die üblichen Demonstrationen nationaler Macht, wie sie auf der ostasiatischen Seite der Achse des Bösen, in Nordkorea, mit Militär- und Waffenparaden immer wieder über die Bühne gehen und wie sie auch der Schah von Persien vor der Revolution gern inszenierte, sind in der Islamischen Republik eher selten. Einzelne Generäle beschwören dem geistigen Führer Khamenei gegenüber die iranische Verteidigungsbereitschaft, aber die einzige Volksgruppe, die bereit zu sein scheint zu kämpfen, sind die Basidji. Die Revolutionsgarden begegneten mir zum ersten Mal bei einer Fahrt mit dem Autobus, der an einem Freitag, dem islamischen Sonntag, im Verkehr stecken blieb. Eine Demonstration. Im Iran gibt es immer besondere Tage, den Tag der Revolution, den Tag der Studentinnen, den Tag der gesunden Luft ( ja tatsächlich, an diesem Tag gehen die Mitglieder der NGO »Tabiat« – Natur – in die Schulen und reden über Umweltschutz). Dieser Tag war also der Tag der Basidji, und sie demonstrierten in lockeren, lang gezogenen Reihen – einige der Jungen hatten ein Gewehr in der Hand, Männer trugen Transparente mit Treueschwüren für die Revolution, Frauen waren dabei, auch Veteranen und Kriegsversehrte aus dem Iran-Irak-Krieg, in dem zwischen 1980 und 1988 mehr als dreihunderttausend Menschen starben. An ihrem Ehrentag trotteten die Basidji kilometerweit durch die Straßen, während die Polizei ihnen den Verkehr vom Leib hielt. Schon Tage vor dieser Parade wurde mit Musik und Reden um neue Mitglieder geworben. Die Basidji erhalten so manche Vergünstigung, zum Beispiel ist ein Teil der Studienplätze für sie reserviert.

Die Basidji sind die Freiwilligentruppen der Revolution, meist kommen sie aus armen Verhältnissen. Sie gehören nicht zur regulären Armee, ihre offiziell neun Millionen Mitglieder stehen unter dem Kommando der Revolutionswächter, mithin des geistigen Führers. Die Basidji sind mit ihrer Glorifizierung von Märtyrertum und Selbstaufopferung und mit ihrer Leidensbereitschaft der ideologisch-militärische Kern der Islamischen Republik. In der Berichterstattung westlicher Korrespondenten und in den Erzählungen der Jugendlichen aus wohlhabenden Kreisen tauchen sie nur als fanatische Brutalos auf, tatsächlich sind sie es, die den schiitischen Schmerzenskult um Hussein, den ermordeten Enkel von Mohammad, ausleben. In der Ashura-Zeit wird diese Geschichte des Verrats an der Familie des Propheten immer wieder erzählt, die Zuhörer weinen und die jungen Männer geißeln sich selbst mit eisernen Ketten und tragen schwere Gestelle mit sich herum. Bilder von Hussein mit langen Haaren und grünem Federbusch sieht man überall, er sieht ähnlich sanftmütig aus wie Christus auf volkstümlichen Bildern.

In der Zeit kurz nach der Revolution, so wird erzählt, hätten die Basidji den jungen westlich orientierten Iranerinnen den Lippenstift mit Schmirgelpapier von den Lippen gerieben. Heute kontrollieren sie Hochzeiten, ob wirklich kein Alkohol getrunken wird und Frauen und Männer nicht zusammen tanzen. Und während des Ramadan, wenn tagsüber nichts gegessen werden darf, schleppen sie junge Mädchen oder Jungens, die in der Öffentlichkeit Kaugummi kauen, auf die Polizeiwache. Die Basidji dienen in Friedenzeiten nebenher als Sittenpolizei, im Iran-Irak-Krieg wurden sie zu Tausenden auf den Minenfeldern und bei den Gasangriffen der Irakis verheizt. Ähnlich wie die Volksbataillone zur Verteidigung der französischen Republik gegen die eindringenden Preußen und Österreicher warfen sie sich den angreifenden Irakis entgegen. Auch Präsident Mahmoud Ahmadinejad diente im Iran-Irak-Krieg in einer Basidji-Einheit mit dem Namen »Al Quds« – Jerusalem. (Der englische Journalist Christopher de Bellaigue hat in seinem Buch Im Rosengarten der Märtyrer durchaus bewegende Porträts und Interviews mit den älteren Basidji veröffentlicht, die aus dem Krieg zurückkamen und das, wofür sie gekämpft hatten, nicht wiederfanden.)

Unterhalb der starken Worte eines Ahmadinejad geht im Iran allerdings etwas vor, das durch die mediale Aufrüstung beider Seiten aus dem Blickfeld zu geraten droht. Eine Jugendarbeitslosigkeit von über 30 Prozent, Korruption und Selbstbedienungsmentalität in den oberen Kreisen, Emigration der Tüchtigsten, fehlende Investitionen und Stillstand der Politik – dass die islamische Republik längst für Veränderungen reif war, darüber herrscht unter allen Beobachtern Einigkeit. Dass aber die Attacke auf die herrschende Generation alternder Revolutionäre nicht im Namen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Liberalisierung geführt werden sollte, sondern im Namen der islamischen Revolution selbst, damit hatte kaum jemand gerechnet. Und auch dass Ahmadinejad, der von sich selbst als einem frommen Muslim spricht, der auf den Erlöser hofft, sich vorsichtig von dem geistlichen Establishment distanzieren würde, hatte niemand erwartet. Er versucht, den etablierten Kreis der immer gleichen Schlüsselfiguren aufzubrechen und neue Jahrgänge »frommer und revolutionärer Beamter« an die Macht zu bringen, Männer, die sich bei den Basidji und den Revolutionswächtern, in den religiösen Stiftungen und im Geheimdienst hochgearbeitet haben. Männer seines Hintergrunds. Erneuerung des Staates als Generationsprojekt.

Zum Beispiel Huseyn Harsidj. Er ist der neue Vizechef und Kanzler für Finanzen und Administration der Universität Isfahan. Der 43-Jährige ist Parteigänger von Ahmadinejad, nach dessen Wahlsieg er aufgestiegen ist. Der Islamwissenschaftler und Politologe, der in Teheran und Australien studiert hat, trägt wie sein Präsident einen Dreitagebart und eine beige Windjacke. Bei dem Silvesterfest für die ausländischen Studenten gilt Harsidjs Hauptinteresse den Südkoreanern: »Wie hat Südkorea es geschafft, das Land in kurzer Zeit so stark zu machen?«, fragt er. »Mit einem 18-Stunden-Arbeitstag«, antwortet der Student aus Seoul. »Das machen die Iraner nicht mit«, erklärt Harsidj kategorisch im privaten Gespräch, seine Landsleute seien von notorischer Faulheit, der Iran selbst sei ein »Rentier-Staat« – der Ölreichtum ersticke Selbstinitiative und fördere die Erwartung, vom Staat versorgt zu werden. Dabei sollten sich die Iraner an Ali, dem vierten Imam und Schwiegersohn des Propheten, ein Beispiel nehmen, jener war eine eigenverantwortliche Person, die mit ihrer Hände Arbeit sich und die Familie durchgebracht habe. Es ist immer wieder verblüffend, wie Worte aus der Managementsprache und solche aus der Religion im Iran unvermittelt zusammenfinden.

Huseyn Harsidjs Denken vermittelt einen Einblick vermittelt in die Geisteshaltung der Generation, die mit Ahmadinejad an die Macht gekommen ist und jetzt Posten für Posten die Spitzen der Ministerien, Universitäten, Banken und der staatlichen Verwaltung bis in die zweite und dritte Reihe besetzt. Es ist eine Generation, die sich in ihrer Jugend für die islamische Revolution begeisterte, ihre Ausbildung und prägenden Erfahrungen aber nicht an den Medresen, den theologischen Hochschulen, gewonnen hat, sondern in den Schützengräben des achtjährigen Iran-Irak-Kriegs. Eine Generation von Machern, die jetzt das Land in den Griff nimmt.

Iran wird keine Abhängigkeit mehr zulassen, das ist der Grundton der Generation Ahmadinejad, der mit höchstem Pathos immer wieder angestimmt wird: Imam Chomeini hat das Land mit der Revolution aus den Ketten des Westens geführt, wir werden es stark machen. Was sie vereint, ist der Wille, die Nation voranzubringen. Man könnte ihr Programm als Doppelschritt bezeichnen: als radikales Zurück zu den ethischen Fundamenten und den Anfängen der Revolution. Und als ebenso radikales Voran in der Entwicklung des Landes mit dem unbedingten Willen, Anschluss an die moderne Wissenschaft und Technik zu finden. Rückschritt und Fortschritt in einem, normalerweise bedeutet das Stillstand. Wie will Harsidj dieses Paradox auflösen?

»Im Westen wird der Islam oft als Ursache für die Rückständigkeit der islamischen Länder gesehen und das Christentum als Grund für die Fortschrittlichkeit Europas. Ich meine aber, das Gegenteil ist der Fall. Im so genannten dunklen Mittelalter, als die Europäer noch sehr religiös und kirchengläubig waren, waren sie rückständig. Erst nach der Trennung von Staat und Religion machten sie Fortschritte. Anders in den islamischen Ländern: Während des europäischen Mittelalters blühten dort schon die Wissenschaften. Warum? Weil damals die Menschen im Geist des Islam lebten.« Und mit kühnem Griff fasst der Professor seine These zusammen: »Als aber die islamischen Gesellschaften immer mehr von der Religion abwichen, fielen sie zurück. Die Geschichte zeigt: Solange die Muslime fromm und gottesfürchtig sind, erzielen sie Fortschritte. Heute sehen wir überall eine Renaissance des Islam.«

Frömmigkeit als Garant für Entwicklung? Der Islam als Leiter des Fortschritts? Für den Westen eine unerhörte Begründung. War nicht eher die Offenheit der damaligen islamischen Kultur, die auch die griechische Philosophie aufgesogen hatte, ebenso wie ihr Interesse an Experiment und Empirie der Grund ihres frühen Erfolgs? Zurück zur Gegenwart: Das Zusammenspiel von religiösem Neofundamentalismus und rigorosem wissenschaftlich-technischem Fortschrittswillen, wie es sich bei Harsidj zeigt, ist kein neues Phänomen. Erneuern und Erstarken, darum kreisen die Auseinandersetzungen in den muslimischen Gesellschaften seit ihrer Berührung mit der Moderne und ihren Erfahrungen der Unterlegenheit gegenüber dem Westen. Und immer liegen zwei Antworten, wie mit diesen Erfahrungen umzugehen sei, miteinander im Streit: die Rückkehr zu Altem oder der Aufbruch zu Neuem. Und immer gibt es Bestrebungen, Alt und Neu zu einem kraftvollen Dritten zu vereinen.

In der Wissenschaft versucht der Iran mit aller Macht, Anschluss an die Spitzenforschung zu gewinnen, und das nicht nur in der Nuklearforschung. Wissenschaftler bereiten zurzeit den Beginn der Klonforschung vor. Dazu Harsidj: »Im islamischen Denken liegen Ethik, Wissenschaft und Philosophie nicht miteinander im Widerspruch. Wenn du dein Wissen vertiefst, wirst du vertrauter mit Gottes Schöpfung. Ein Wesen zu schaffen verstärkt den Glauben an Gott. Gott ist der Schöpfer, also kann ich auch Schöpfer sein, da ich ein Zeichen Gottes bin. Deshalb haben wir kein Problem mit dem Klonen.«

Der Vizerektor leitet die Pflicht, Wissen zu erwerben, direkt vom Propheten ab. Der habe den Menschen nahe gelegt, Wissen zu suchen, und wer Wissen hat, muss geachtet werden. Was bedeutet es da, wenn heute 75 Prozent der Studenten an der Universität Isfahan und über die Hälfte im ganzen Land weiblich sind?

»Wir haben diese Werte: Diejenigen, die Wissen haben, sollten in einer höheren Position sein. Ich bin sicher, dass in der nächsten Generation viele Frauen zu den Autoritäten in den Universitäten, aber auch im Parlament und in der Verwaltung gehören werden. Die Frauen werden diese Positionen einnehmen, weil sie das Wissen haben.« »Kein Problem mit dem Islam?«, frage ich ihn. »No problem with Islam. A woman can be the head of the university. You can see the changes, but step by step.«

Außerdem bedeutet Wissen Macht. »Und wir wollen mächtig sein, warum nicht? Deutschland wurde in beiden Weltkriegen besiegt, aber das Volk war stolz und zivilisiert und es machte Deutschland wieder so stark, dass es mit anderen Mächten konkurrieren konnte. Warum nur Deutschland? Oder Amerika? Das ist unsere Frage an die europäischen Führer. Die Europäer können nicht von der Freiheit der Wissenschaft reden und dann einem Land das Recht auf Nukleartechnologie vorenthalten.« Die Eroberung der Nukleartechnologie als mentaler Hebel, um sich vom Rentier-Staat zu verabschieden? Gleichgültig wie der Nuklearkonflikt ausgeht und ob ein Kompromiss gefunden wird, das Gefühl ungerecht behandelt zu werden, wird die Iraner nicht mehr verlassen und die kommenden Auseinandersetzungen beeinflussen.

Das Religiöse und das Nationale als geistige Fundamente Irans – nach Ahmadinejads Äußerungen über Israel und den Holocaust wird im Westen nun auch der Antisemitismus dazugezählt. Dafür mag eine Schlagzeile der Welt am Sonntag vom 12. Februar stehen, die, wenngleich grobschlächtiger und aggressiver als die meisten Zeitungen, diese Sichtweise illustriert: »Die Islamofaschisten predigen den Massenmord an Juden und Kreuzfahrern,« Diese Schlagzeile muss auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte gelesen werden, denn von Massenmord an Juden hat auch Ahmadinejad nie gesprochen, sondern von der Feindschaft gegen den Staat Israel, also einem institutionellen Gebilde, das verschwinden solle. Natürlich ist das Auseinanderhalten von antizionistischen und antisemitischen Handlungen, Gefühlen und Sprüchen nicht unproblematisch, an den Aufständen der arabischen Jugendlichen in Frankreich sieht man, wie nahtlos beides ineinander übergehen kann. Doch für eine Analyse der Situation Irans kommt man ohne diese Trennung nicht aus.

»Ausgerechnet der Westen wirft uns Antisemitismus vor, dabei hat es hier weder Pogrome noch Gettos gegeben wie jahrhundertelang in Europa«, ärgert sich ein Professor der Isfahaner Universität, der in Heidelberg studiert hat, über meine Frage nach der Beziehung von Juden und Muslimen im Iran. Antisemitismus zeige sich im Alltag der Menschen und nicht an der Feindschaft zwischen Nationen, Iran aber habe eine Tradition des friedlichen Zusammenlebens mit Juden. »Die Menschenrechte sind unsere Erfindung«, erklärt auch ein Student, der gerade ein Visum für Deutschland beantragt hat, auf die gleiche Frage. »Cyrus der Große war es, der schon vor 2500 Jahren religiöse Toleranz für all seine Völker verfügte.« Die Geschichte von Esther, der Jüdin und Frau des Perserkönigs, der aus Liebe zu ihr das jüdische Volk rettete, wird in diesem Zusammenhang immer erzählt, sie ist eine der Gründungslegenden Persiens.

Tatsächlich waren Juden wie Christen im Iran immer Bürger zweiter Klasse. Bestimmte Rechte, wie der Zugang zum Beamtentum, wurden ihnen vorenthalten, und sogar in Geld gerechnet waren sie weniger wert. Die Gesetze der Scharia verlangten für den Unfalltod eines Juden oder Christen weniger Wiedergutmachung als für den eines Muslims. Und höhere Bildung konnten sie schon deshalb nicht erlangen, weil diese in theologischen Hochschulen vermittelt wurde, zu denen weder Christen noch Juden Zutritt hatten. Ansonsten waren sie von Staat und Scharia geschützt. Unter Mohammad Reza Pahlevi, der 1941 von den Briten zum neuen Schah ausgerufen wurde, waren die Beziehungen zwischen Israel und Iran gut und eng. Beide Länder verband eine Distanz zu den Arabern und der Wille, der eigenen Sicherheit wegen im Nahen Osten zusammenzustehen.

Chomeini hingegen wollte alle muslimischen Länder unter der Führung der Islamischen Republik Iran einigen. Ein Mittel dafür war die Unterstützung der Palästinenser und die Gegnerschaft zu Israel. Dass er damit mit der Politik des Schahs brach, auch mit der iranisch-israelischen Kooperation im Bereich Militär und Geheimdienst, brachte ihm die Sympathien aller studentischen Gruppierungen ein. Das war 1979. Seitdem wird bei jedem Freitagsgebet »Tod Israel« gerufen, wird die Solidarität mit den Palästinensern beschworen und auf jährlichen Konferenzen mit Geldversprechungen an radikale Gruppen untermauert, werden die Selbstmordattentäter im Fernsehen als Märtyrer gefeiert. Doch die Parteinahme für die Palästinenser und ihre Heroisierung trifft in der iranischen Bevölkerung auf wenig Widerhall. Wie antisemitisch ist nun der Iran?

1992, auf dem Höhepunkt der Massendemonstrationen gegen die USA und Israel, waren die Sorgen der Juden von Teheran nicht Verfolgung oder Diskriminierung. Ihre Sorgen waren anderer Art: Mit wem könnten sie ihre Kinder verheiraten? Wo Ehemänner und Ehefrauen für Töchter und Söhne finden? Die Auswahl werde immer kleiner, berichteten sie. 1948 zählte die jüdische Bevölkerung Irans noch rund 100000 Personen. Reza Khan Pahlevi und sein Sohn Mohammad Reza Pahlevi bemühten sich, das Land zu säkularisieren und zu modernisieren, und innerhalb einer Generation erlebten die iranischen Juden und Christen einen ungeheuren Aufschwung. Der israelische Verteidigungsminister Schaul Mofaz, der selbst aus der iranischen Stadt Yazd stammt, sagt über seine Jugend: »Ich habe eigentlich nur gute Erinnerungen. Meine Familie hatte warme Kontakte zu den Nachbarn, Juden und Nichtjuden. Es war eine sehr schöne Kindheit.« In den Jahren nach der Revolution sind viele Juden ausgewandert, weil sie in der islamischen Republik, die sich dem Westen gegenüber immer mehr verschloss, keine wirtschaftliche Zukunft sahen. Sie gingen in die USA oder nach Israel. Und so gab es unter den Juden Irans damals nur ein Gesprächsthema: gehen oder bleiben?

Heute leben in Iran noch rund 30000 Juden, andere Quellen sprechen von 11000. Die Juden, wie die assyrischen und orthodoxen Christen auch, haben je einen Abgeordneten im Parlament. Wenn es um ihre Belange geht, müssen die entsprechenden Abgeordneten gehört werden, andererseits sind diese durch Gesetz gezwungen, die iranische Außenpolitik und damit den Antizionismus Irans zu unterstützen. Verfolgung oder Bedrohungen der Juden habe es zu ihren Lebzeiten im Iran nicht gegeben, sagten 1992 die Mitglieder der jüdischen Gemeinde, trotzdem fühlten sie sich nicht mehr wohl. Die Verbindung zu den emigrierten Verwandten in Israel sei gefährdet – der Kontakt mit Israelis stünde unter Strafe, viele hätten Angst. 1999 wurden 13 Juden aus Teheran und Shiraz wegen Spionage für Israel verhaftet, fünf davon befanden sich 2003 immer noch in Haft. Und 1994 und noch einmal 1999 gab die Regierung »Die Protokolle der Weisen von Zion« heraus – das Märchen von der zionistischen Weltverschwörung.

Die Alltagsbeziehungen zwischen Juden und Muslimen im Iran sind kompliziert geworden, nicht feindselig, aber belastet: In Israel könnten vielleicht Verwandte der jüdischen Nachbarn wohnen, wie geht man mit diesem Wissen um, wenn Ahmadinejad Israel das Existenzrecht verweigert? Am Jahrestag der Revolution wurden natürlich die rituellen »Tod-Israel-Rufe wieder skandiert. Die Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus, wie sie vom Westen vorgenommen wird, empfinden viele Iraner allerdings als unzulässig. Bislang hat sich nichts Wesentliches im nachbarschaftlichen Zusammenleben verändert, wie auch die Händler an der Tschahar-Bagh-Straße berichten. Aber es handelt sich dabei um eine emotionale Grauzone, und wie in jeder Grauzone tut man gut daran, mehr auf Schattierungen zu achten denn auf Kontraste.

Wandel oder Bruch? Die Ankunftshalle des Teheraner Flughafens füllt sich, das Flugzeug aus Frankfurt hat Verspätung. Plärrende Kinder, alte Frauen im Tschador, junge Mädchen in engen Hosen, engem Manteau, mit hochhackigen Stiefeln, geschminkten Lippen und einem Kopftuch, dessen wichtigste Aufgabe es ist, unversehens zu verrutschen. Eben Nordteheran. Neben mich setzt sich eine junge Iranerin aus Karlsruhe. Zum ersten Mal seit drei Jahren sei sie wieder zu Besuch bei ihrer Familie in Teheran. Acht Wochen war sie hier und jetzt wartet sie auf die Ankunft ihres deutschen Ehemanns. Was hat sich verändert?

»Wir haben hier eine Kulturkrise«, sagt sie. »Nicht nur eine ökonomische Krise, weil niemand mehr investiert und alle abwarten, was mit der Regierung wird. Wir haben eine Kulturkrise, weil unsere Traditionen nichts mehr gelten und unser heutiges Leben keine Regeln und keine geistige Begründung mehr kennt. Die Iraner wenden sich hilflos allem zu, was modern, aktuell und angesagt scheint: Konsum, Vergnügen, Reichtum, Genuss.« Die Veränderungen in ihrer eigenen Familie sitzen ihr als Schreck in den Gliedern.

»Die Mädchen heiraten, um ihren Eltern zu entkommen, aber nicht, um Verantwortung für eine neue Familie zu übernehmen. Wie meine Schwester heiraten sie eigentlich nur, um sich endlich Seitensprünge zu leisten. Und die Älteren sehen, wie ihre Welt in Scherben fällt.«

Doch Nordteheran ist nicht Iran. Ich entdeckte es erst allmählich: Die meisten meiner näheren Bekannten in Isfahan sind fromm, nur hat sich für sie die Religion aus den Moscheen in die Privaträume und vielleicht auch in die Versammlungen der Mystiker zurückgezogen.

Waren die Stichworte des vorigen Präsidenten, des im Westen so beliebten Reformers Mohammad Chatami, »Demokratie und Zivilgesellschaft«, so sind es jetzt »Gott und Macht«. Wie viele Male werden die Stichworte noch wechseln, bis Iran seinen selbstverständlichen Platz unter den modernen Nationen gefunden hat? 1936 verfügte Reza Schah die Zwangsentschleierung der Frauen, und auf der Straße rissen seine Soldaten ihnen den Schleier vom Kopf. Noch heute erzählen alte Frauen, dass sie daraufhin jahrelang nicht mehr aus dem Haus gegangen seien. Sie hätten sich schutzlos und wie entblößt gefühlt. 1979 dekretiert Imam Chomeini erneut das Verschleierungsgebot. Nun protestierten die westlich orientierten Frauen. Das Gezerre darüber hält an und auch über das, wofür der Schleier steht: Wie viel Moderne und welche Moderne wollen die Iraner? Und welche Iraner wollen was? Dabei dominiert immer der Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit und Größe. Dafür steht der große Cyrus, er ist der Held der heutigen Jugend. Aber auch zu dem Grab von Hafez, dem berühmten Dichter aus dem 14. Jahrhundert, pilgern sie alle, die Jugendlichen, die Verliebten, die Einsamen und die Familien. »Hafez wusste, was das Volk will«, erklärte eine junge Frau ihre Vorliebe für den Dichter, der die Liebe auf eine Weise besang, dass die orthodoxen Geistlichen nie wussten, ob sie ihn als libertären Ketzer hängen, als einen von Gott berauschten Mystiker achten oder ob sie über seinen schnellen Witz lachen sollten. Ein Land, das solche Helden hat ...

»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, 2/2006