Hamid Ongha

Glaube in Gefahr

Die Politisierung des Islam und die Zeichen der Ratlosigkeit

Auf dem Hintergrund der Entwicklung der iranischen Revolution zieht unser Autor eine Linie des Missbrauchs des Islam zu politischen Zwecken bis in unsere Gegenwart. Nun »den Koran« oder »den Islam« als Ursache für einen totalitären Terrorismus zu erklären, hält er für eine äußerst gefährliche Argumentation. Die Tendenz zu einem kulturellen Bürgerkrieg würde damit befördert.

Allein die Tatsache, dass der Islam durch die Ereignisse der letzten Jahre und Jahrzehnte zum weltpolitischen Thema geworden ist, hat diese Religion bereits aus ihrem fest gefügten Rahmen herausgelöst und sie verändert. Die Problematisierung der koranischen Vorschriften, der Stellung der Frau im Islam, der Anwendung der Scharia, des islamischen religiösen Rechts allgemein, im Kontext extrem radikaler und beispiellos gewalttätiger Ereignisse, erschütterte ein sakrosanktes Gebilde, das über Jahrhunderte unantastbar erschien.

Ironischerweise haben jedoch nicht irgendwelche westöstlichen Islamfeinde damit begonnen, an den fest gefügten religiösen Überzeugungen zu rütteln und diese Debatte zu initiieren, sondern unter anderem auch islamische Geistliche und Intellektuelle während und vor der iranischen Revolution, denen im Kampf gegen das Schahregime quietistisches Glauben als reaktionär erschien und die das gesamte egalitäre Potential des Koran für ihren politischen Kampf auszunutzen und umzuinterpretieren verstanden.

Als Ayatollah Khomeini in den Iran kam, ließ er bei einem seiner Auftritte eine Bemerkung fallen, die meiner Ansicht nach zum Kern des politischen Islam oder des Islamismus gehört. Er sagte: »Ich folge dem Islam des Hossein!« Die Botschaft war klar. Die revolutionären Islamisten der ersten Stunde waren, wie der Enkel des Propheten, Kämpfer für die Gerechtigkeit und für die politische Macht, sprich für den Khalifen-Thron und keine Zauderer, wie dessen älterer Bruder Hassan, der schließlich ebenfalls von den Omayyaden ermordet wurde. Der Hosseini-Islam war seine Schule und nicht der Hassani-Islam. Das ist oder war zumindest eine in diesem Lager gebräuchliche Formulierung, um sich von Zauderern und »Nur-Religiösen« abzusetzen.

Viele spätere politisch-religiöse Bewegungen, wie die der afghanischen Mujaheddin, die grüne Revolution Ghaddafis in Libyen, die FIS in Algerien, die neu erstarkten Muslimbrüder in Ägypten und Palästina, legitimierten, so unterschiedlich ihre politischen Ansätze auch waren, ihren Kampf ebenfalls mit dem Koran und den religiösen Überlieferungen. Der islamistische Terrorismus des letzten Jahrzehnts hat – allerdings in einer stark simplifizierten Weise – diesen Legitimationsweg adaptiert und ist ebenfalls der Bandbreite des politischen Islam zuzuordnen, wenn auch an deren extremem Rand.

Zumindest eine Ursache für die Karikierung und Verballhornung des Islam ist also im Aufkommen des Islamismus zu suchen. Die Verzerrung und Zurechtbiegung des Koran für konkrete politische Ziele ist die direkte Folge einer Schändung im klassischen Sinne, nämlich, um ein Bild zu geben, der Verlegung der heiligen Schrift vom Tempel in das Waffenarsenal.

Die radikale Politisierung des Islam durch die islamische Revolution im Iran wurde, bevor er das westliche Bild über diese Religion stigmatisierte, als Erstes zu einem religiösen Existenzproblem für die iranischen Moslems selbst. Alles Heilige, das bis dato aus der fernsten Vergangenheit zu ihnen gesprochen hatte, die religiösen Legenden um das Märtyrersterben für die Gerechtigkeit, die Zwölf Imame, die an der legitimen Nachfolge Mohammads blutig gehindert worden waren, alle diese Figuren und Heiligengeschichten, die über die Jahrhunderte zum Kanon und zum Inhalt des Gebets und des Rituals geworden waren, schienen nun leibhaftig und lebendig geworden zu sein. Den Märtyrertod starben jetzt auch Tausende bei der Verteidigung der Revolution oder im Krieg und hinter der Front. Die Getreuen des Imam Hossein waren nicht mehr Legende, sondern pure Wirklichkeit. Es entstanden die Armeen Allahs, die Partei Gottes, das Blut Gottes, die Schwestern des Zeinab et cetera. Die Feinde wiederum, die Krieg und Konterrevolution anzettelten, erhielten ebenfalls religiöse Beinamen, wie der große Satan und der kleine Satan.

Männer, vorzugsweise Kommandeure der Revolutionsgarden der islamischen Revolution, ließen sich dunkle Vollbärte wachsen und ähnelten so, schwere Waffen in der Hand, den idealisierten Standbildern von Imam Ali mit seidigem Haar und sanften Augen und dem Schwert der Gerechtigkeit im Schoß.

Hier war die iranische Volksseele unter der radikalen Führung auf eine Glaubens-Ader gestoßen, deren Gehalt aus einer explosiven Mischung religiöser und politischer Heilserwartung bestand. Das unaufhaltsame Vordringen des Religiösen in das öffentliche Leben, die Metamorphose der neuen islamistischen Bewegung, ließ sich buchstäblich auch an den Titeln ablesen, die Khomeini von seinen Anhängern erhielt.

Zunächst einfach Ayatollah Khomeini, wurde er in typisch persischer höfischer Tradition in der Machtergreifungs- und Konsolidierungsphase mit immer gigantischeren majestätischen Titeln überhäuft. Um aber nicht ganz in die Nähe der großköniglichen Despoten und Sultane zu kommen, wurde er dann wieder ohne Titel Imam Khomeini und am Ende nur noch Imam genannt. Vordergründig islamisch bescheiden, in Wirklichkeit aber unvergleichlich höher eingestuft als alles andere. Für einen vorrevolutionären Schiiten undenkbar, eine lebende Person mit einem Titel zu versehen, der nur den Zwölf Imamen vorbehalten ist. Khomeini ließ diese Anmaßung zu, gewiss nicht aus Eitelkeit, mehr aus der inneren Überzeugung und Gewissheit, dass im Moment die Geschichte des Islam aktiv weitergeschrieben würde.

Die islamische Revolution war entscheidend für diesen weltweiten Bewusstseinswandel unter den Moslems, insbesondere für die arabische muslimische Welt, deren politische und private Kultur viel enger und direkter mit dem Islam verwoben ist und in der der Koran und die arabische Sprache bei der nationalen Identitätsfindung der Völker im mittleren Osten, in Nord und Nordostafrika die größte und entscheidende Rolle spielte, unabhängig der Volks- und Stammeszugehörigkeit. Sie alle waren von einfachen Gläubigen und ausgebeuteten Opfern plötzlich zu Akteuren eines weltgeschichtlichen Ereignisses geworden. Geschichte, bei der zunächst einmal weder die früher stets präsenten Franzosen und Engländer noch Amerikaner und Russen eine Rolle spielten.

Je mehr die siegreiche Revolution Machtperspektiven und Möglichkeiten eröffnete, desto kühner und direkter wurde die religiöse Überlieferung in den politischen und öffentlichen Alltag hineintransportiert. Die Distanz zum angebeteten Buch und zur angebeteten Überlieferung verschwand. Deren Inhalt, der bis dahin den privaten Tagesablauf, die Heirats-, Scheidungs-, Sterbe- und Erblassangelegenheiten geregelt hatte und auch sonst nur im Rahmen der Alltagskultur dominant war, drängte als Scharia nun auch verstärkt in den zivilen Bereich. Alles erhielt den Beinamen »islamisch«: Vom Straf- und Zivilrecht angefangen über das Banken- und Wirtschaftswesen bis in den Tourismusbereich hinein. Übrigens ist das »Pinguin«-Kopftuch, das wir bei moslemischen Frauen, auch in Europa, allenthalben beobachten, ein direktes Produkt dieser revolutionären Umbenennungs- und Umorientierungsphase jener Jahre zwischen 1978 und 1983.

Das Bewusstsein, geschichtliches Subjekt geworden zu sein, trieb vor allem die arbeits- und perspektivlosen unteren Schichten der Gesellschaft immer stärker in die ideologisierte Religion oder in die religiöse Ideologie hinein. Die moderaten und wertkonservativen Gläubigen schauten diesem merkwürdigen Treiben hilflos und mit zwiespältigem Gefühl zu. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass der eine oder der andere Gläubige bei sich dachte, dass er es mit der religiösen Utopie, wie sie sich nun leibhaftig vor ihm abspielte, doch nicht so ernst gemeint haben wollte. Diese Menschen wussten damals schon, dass ihr Glaube in Gefahr war.

Auch für die Intellektuellen unserer Generation, ob Agnostiker oder religiös, die die Revolution als junge Erwachsene miterlebt hatten, war das Bild eines Islam, der uns seit der Geburt begleitet hatte, ebenso plötzlich weg wie alle anderen gewohnten Insignien der vorrevolutionären iranischen Gesellschaft. Wir waren groß geworden in einer Religion, die zwar in vielen Lebensbereichen präsent war, sich jedoch nirgendwo penetrant aufdrängte. Nicht dass dahinter eine wie auch immer ausgeartete Direktive des vormaligen Schah-Regimes gesteckt hätte. Es war aber eine gewissermaßen im Alltag kultivierte und von einer Lebensvernunft getragene Säkularität, die dem Religiösen und Weltlichen gleichermaßen das zugestand, was erforderlich war. Ein feines Gleichgewicht, das von einem modernen iranischen Bildungsbürgertums entwickelt und getragen wurde, das seit der konstitutionellen Revolution 1906–1911 an politischem Einfluss gewonnen hatte.

Natürlich war der bei den Schiiten stark ausgeprägte Hang zu religiöser Inbrunst und frommem Fanatismus immer gegenwärtig. Er fand jedoch sein Ventil in zahlreichen religiösen Ritualen, bei denen wir als Kinder neugierig und stolz mitwirkten oder fasziniert zuschauten – bis aus diesen religiösen Spielen nach der Revolution schlagartig blutiger Ernst wurde.

Dass wir damals den Islam nicht beachteten, war keine Missachtung, sondern Zeichen der Normalität – für Religiöse und Laizisten gleichermaßen, wie man eben Alltägliches und Gewohntes nicht weiter beachtet, weil es dicht mit uns verwoben ist. Dass wir jedoch das extremistisch politische Potenzial der schiitischen Geistlichkeit, die seit Jahrhunderten in der iranischen Geschichte präsent war ignorierten oder in permanentem Euphemismus nur deren sozialrevolutionäre Seite sahen, war ein verhängnisvoller Fehler.

Zu Beginn der Revolution belächelten wir die Geburt des politischen Islam spöttisch. Wir wähnten uns mit dem Marxismus auf der sicheren Seite der Geschichte, bis sie schon in kürzester Zeit zur todsicheren Seite wurde. Der historische Materialismus, diese die Selbstgewissheit fördernde und einlullende Eschatologie der kommunistischen Idee, ließ uns die Dynamik des Überbaus namens Islam vollkommen unterschätzen. Wir hörten dabei auch nicht auf die Mahnungen der national-liberalen bürgerlichen Kreise, die uns von Anfang an vor dieser Blauäugigkeit gegenüber dem sich formierenden militanten Islam warnten.

Seit dem politischen Durchbruch des Islamismus, beginnend mit dem Sieg der iranischen Revolution, ist dieses, nennen wir es erst mal Phänomen, von der politischen Landschaft nicht mehr wegzudenken. Der kürzliche Erfolg der Hamas ist nur eine der Zwischenstationen einer dynamischen Entwicklung, die sich, um nur einige politisch bedeutende Länder zu nennen, über Algerien, Ägypten, die Türkei, Pakistan und Afghanistan durchsetzte und in einigen dieser Länder auch schon an die Macht gelangt ist (Türkei, Afghanistan, palästinensische Gebiete). Sie ist allerdings aus den euphorischen Anfängen hinausgewachsen und schon seit geraumer Zeit, insbesondere in Iran, in eine Konsolidierungsphase eingetreten, in der sie bereits vom politischen Tagesgeschäft eingeholt oder wieder auf den Boden der Tatsachen geholt worden ist. Zumindest im Iran folgt nur noch eine Minderheit den Parolen der Ideologen und auch unter den Palästinensern sowohl in Israel als auch in den Gebieten selbst ist der Islamismus der HAMAS eher eine Option unter vielen anderen.

Er ist also eine politische und komplexe Realität, mit der wir uns viel ernsthafter auseinander setzen müssen als es gegenwärtig geschieht. Er sollte in der gegenwärtigen Diskussion mindestens einen Stellenwert bekommen wie etwa die Varianten des Nationalismus, Militarismus oder des Sozialismus. Der Islam selbst sollte bei dieser politischen Diskussion – ich betone, nur hier – herausgehalten werden. Hilflose Exkurse in die Orientalistik, in Koranexegesen und Historiengemälde aus dem islamischen Mittelalter helfen wenig bei der Einschätzung der aktuellen Entwicklung in Ländern und Gemeinden mit islamischer Religion. Sie verdrängen das Problem eher in die ethnologische Ecke und verstärken nur den Trend, alles pauschal und willkürlich gemischt zu sehen: Islamismus, Islam, Terrorismus, Kopftuch, Zwangsehe, Scharia und so fort.

Es ist nicht zu leugnen, dass diese Problemfelder gemeinsame religiöse und kulturelle Wurzeln und Merkmale aufweisen, immer wieder aber Überbegriffe wie »islamisch« zu benutzen erklärt nichts und pauschalisiert viel. Mir geht es hier nicht um den politisch korrekten Begriff, sondern um den korrekten Begriff an sich. Es heißt doch immer die »Islamischen Länder«, der »Islamische Kulturkreis« et cetera.

Neben den Medien haben auch erstaunlich viele Intellektuelle aus dem linken Milieu, was den Islamismus betrifft, diese Sicht übernommen. Zu Wort kommen Wissenschaftler, die den Koran und die Sprache kennen, sich aber mit der politischen Analyse der Verhältnisse schwer tun. Die Zustände werden dann auch weniger aus den landestypischen gesellschaftlichen Verhältnissen erklärt, sondern oft stereotyp mit dem Islam in Verbindung gebracht. Dabei changiert man wahllos zwischen Krieg, sozialen Bewegungen und Spannungen und Terroranschlägen mit so genanntem islamischem Hintergrund und produziert so im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit einen homogenen Vorgang, einen gemeinsamen »Background« der Geschehnisse, der so gar nicht existiert.

Als Nebenprodukt dieser oberflächlichen und oft von Ignoranz geprägten Darstellung leistet man den Islamisten unfreiwillig ideologische Schützenhilfe, indem man ihnen für ihre totalitären Politik- und Lebensentwürfe, die sie mit simplen und theologisch kaum haltbaren Verweisen auf den Koran zu legitimieren versuchen, neue Nahrung zuführt. Übrigens wird bei den Terroristengruppierungen der al-Qaida und ähnlichen Ablegern dieser Rückgriff auf den Koran immer primitiver und abenteuerlicher. Eine bemerkenswerte Einsicht hatte in diesem Zusammenhang Jan Philip Reemtsma, der in einem Artikel über den islamistischen Terror treffend davon sprach, dass bin Laden so viel vom Islam verstünde wie einst Andreas Baader vom Marxismus.

Schon anhand der Entwicklung der Begriffsbildung werden also Zeichen gesetzt, die sich als Zeichen der Ratlosigkeit verraten. In den Achtzigerjahren sprach man vom »islamischen« Fundamentalismus, dann von islamischem Integrismus. In unseren Tagen gibt es gar kein Halten mehr. In New York, Washington, Casablanca, Madrid und London waren Islamofaschisten und Nazi-Moslems am Werk. Immer wird im Hintergrund die gesamte Religion mit transportiert und je brutaler und zügelloser die Terrorpraxis und auch die Terrorphantasie wird, desto schärfer tritt die islamische Konnotation dieser Begriffe hervor. Am Ende will man nichts von einer Äquidistanz wissen. Man schreibt zwar keine Äquidistanz zwischen westlicher Demokratie und Islamismus, meint aber, und da bin ich mir aus Lebenserfahrung sicher, keine Äquidistanz zwischen unseren Werten und deren Werten.

Hier wird nicht nur eine Weltreligion diskreditiert, sondern, und das ist viel wichtiger, die große Chance verpasst, mit den bürgerlichen Schichten in den islamischen Ländern ins Gespräch zu kommen, die überwiegend moderat gestimmt sind. Das beweisen alle neuen lokalen Umfragen in Hauptländern wie Marokko, Ägypten und sogar Pakistan. Für den Iran kann man sich eine solche Umfrage aus nahe liegenden Gründen schenken. Diese bürgerlichen und auch kleinbürgerlichen Schichten der jeweiligen Gesellschaften sind es dann auch, die am meisten unter dem Meinungsterror und dem Totalitarismus des Islamismus zu leiden haben, jedenfalls weitaus mehr als die Redakteure und Kommentatoren in den Medien, die angesichts der Gräueltaten aus dem islamischen Milieu ihren Drang zu pauschalen Urteilen und Vereinfachungen gegenüber dem Islam nicht bändigen können. Tatsächlich trifft hier Grass´ Wort vom Kampf der Unkulturen den Nagel auf den Kopf.

Die Forderung nach einer »Reform des Islam« oder gar nach einem »Europäischen Islam« wirkt, angesichts eines drohenden kulturellen Bürgerkriegs, als hilflose Geste. Ich spreche bewusst von einem Bürgerkrieg, weil ich noch einmal auf die moderaten moslemischen Schichten und Gruppen verweisen will, die in einer solchen Auseinandersetzung zwangsweise zu Feinden erklärt würden. Denn den besten Hegelianern wird es nicht gelingen, durch ein so komplexes und auch hermetisches Kulturgebilde den Weltgeist wehen zu lassen, sozusagen als Vorbote eines okzidentalen Plans, der die geschichtliche Realisierung unzweifelhaft nach sich zöge.

»Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, 2/2006