Balduin Winter

Afghanistan – State-Building und Militär

 

 

Als Allah die Welt geschaffen hatte, sah Er, dass eine ganze Menge Schutt übrig geblieben war; Bruchstücke, die nirgendwohin passten. Er sammelte sie ein und schleuderte sie einfach auf die Erde. Das war dann Afghanistan‹, erzählte der alte Mujahid.« (Ahmed Rashid, Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad, München 2001) – Dieser »Schutt« ist ein wichtiger Stein im komplizierten Bauwerk des Nahen und Mittleren Ostens, der »größte Testfall in der Geschichte der Nato«, so die SZ (8.2.).

Demnächst wird von Zbigniew Brzezinski ein Buch zur Außenpolitik der Vereinigten Staaten nach 1989 erscheinen. Es wird eine Abrechnung werden. Der ehemalige Sicherheitsberater von Präsident Carter sieht heute die USA »unabsichtlich« in der Position »einer verspäteten Kolonialmacht« – in einer Region, in der die Erinnerung an den Kolonialismus noch sehr lebendig ist. Die Invasion im Irak bezeichnet er als »das größte außenpolitische Desaster in der amerikanischen Geschichte« (Zeit, 11.1.). Anfang Februar präzisierte er vor dem außenpolitischen Ausschuss des US-Senats: »Von manichäischen Prinzipien und imperialer Hybris getrieben, verstärkt der Krieg die regionale Instabilität.« Als »vereinfachend und demagogisch« bezeichnete er die Auffassungen der Bush-Administration vom »entscheidenden ideologischen Kampf« gegen den fundamentalistischen Islam. »Die Argumentation, dass Amerika sich in der Region schon im Krieg gegen eine umfassende islamische Gefahr befindet, deren Epizentrum der Iran darstellt, ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.« Massiv warnte er davor, Vorwände für einen weiteren Krieg zu suchen: »... dann als Höhepunkt eine ›defensive‹ Militäraktion der USA gegen den Iran, der das isolierte Amerika in einen riesigen, tiefen Schlamassel zieht, der schließlich vom Irak über den Iran und Afghanistan bis nach Pakistan reichen könnte.« (New York Times, 2.2.)

Nicht an irgendeinem taktischen Schritt – 20000 Soldaten mehr oder weniger im Irak, militärische Fehler in Afghanistan – läge es, dass die USA heute einen globalen Ansehensverlust hinnehmen müssen. Es gab mehrere »grundlegende Fehleinschätzungen«, eine Reduktion des Politischen »auf richtig und falsch, gut und böse«, die schädlich sind: »Wir einigen unsere Feinde und spalten unsere Freunde, was uns isoliert und die Zahl derer erhöht, die uns als Feinde sehen.«

In seinem Opus magnum The Middle East in International Relations (New York 2005) schreibt Fred Halliday, im Nahen und Mittleren Osten haben sich seit 1979 weitgehend unabhängig vom Kalten Krieg bilaterale und innergesellschaftliche Spannungen aufgebaut (in Afghanistan, in Saudi Arabien, im Irak), die sich nun entluden. In dieser Phase gab (und gibt) es unterschiedliche »Weltzeiten« in der arabisch-iranischen Welt, in der westlichen und in der Sowjetunion; diese Taktierung fand 1989/91 keine friedliche Auflösung in der Region, im Gegenteil. Halliday spricht von »differential integration«, angesichts der wachsenden Globalisierungslücke zwischen dem Westen und den islamischen Ländern, und von einer »Greater West Asia Crisis«. Darunter versteht er die »zunehmende Verflechtung regionaler Krisen« im Libanon, im Iran, im Irak und in Afghanistan sowie die Nuklearwaffenversuche Indiens und Pakistans in Südasien 1998. Ein inneres Merkmal dieser komplexen Krisen sei eine politisch zunehmend militantere Einstellung der Bevölkerungen, die von Antiamerikanismus geprägt sei und sich bei einer Minderheit als Jihadismus verselbständigt habe.

Afghanistan hat seit den Siebzigerjahren mehrere Bürgerkriegswellen mit beispielloser Gewalt erlebt. Seit 1973 rangen die Stämme mit den Kommunisten um die Macht. 1979 erfolgte die Invasion der Sowjetunion, doch 100000 Sowjet-Soldaten gelang es nicht, das Land zu kontrollieren. 40000 Mujaheddins fielen, die Zivilbevölkerung hatte über 1,5 Millionen Opfer (Ahmed Rashid) zu beklagen. Nach dem Abzug der Sowjets 1989 gewannen die afghanischen Mujaheddins die Oberhand. 1996 errichteten die Taliban ihr reaktionäres Regime. Das Land selbst ist seit Jahrzehnten Schauplatz blutiger Massaker schlimmster Menschenrechtsverletzungen und Ausgangspunkt islamistischen Terrors, der in den Attentaten in Nairobi, New York/Washington, Bali, Madrid und London gipfelte. Nach dem 11. September wurde seitens der USA mit der »Operation Enduring Freedom« die militärische Lösung gegen Afghanistan versucht. Zwar wurde die Taliban-Regierung verjagt, wurden Wahlen durchgeführt, ein Parlament und ein Präsident gewählt. Einen Sieg im klassischen Sinn gab es jedoch nicht. Weder konnte al-Qaida, die im nahezu unkontrollierbaren Grenzgebiet – eine Art autonome Zone auf beiden Seiten der Grenze – zwischen Afghanistan und Pakistan agiert, zerschlagen werden. Noch wurden die Taliban völlig besiegt, sie haben inzwischen neue Kräfte rekrutiert, die auf 10000 Mann geschätzt werden.

Als ich 2002 durch den Süden und Osten Afghanistans reiste, stieß ich auf starke Unterstützung für die westlichen Truppen, von denen die Einheimischen glaubten, sie seien gekommen, um ihnen zu helfen. Ende 2003 begann sich in der kleinen Stadt südlich von Kandahar, wo sich neun Jahre zuvor die Taliban gründeten, die Bevölkerung von der Regierung abzuwenden. Jedoch der Westen ließ den Süden Afghanistans in Stich. 2004, drei Jahre nach dem Eingreifen einer Koalition der reichsten Staaten der Welt, gab es im Krankenhaus von Kandahar unterernährte Kinder. Abgesehen von der moralischen Schande des Misserfolgs war es kriminell nachlässig, nicht zu bleiben und die famosen ›Herzen und Köpfe‹ zu gewinnen, worüber heute so viel gesprochen wird.« (Jason Burke in New Statesman, 26.2.)

Der Observer-Chefreporter Jason Burke ist wohl einer der profiliertesten Kenner Afghanistans. Er hat jahrelang das Land bereist, kennt Leute, Mentalitäten, politische Führer. Auch jetzt hält er sich in Kajaki auf, im Süden, wo die so genannte Frühjahrsoffensive der Nato stattfindet. Solange mit illusionären Erwartungen herangegangen wird, meint Burke, wird Afghanistan ein Misserfolg. Die großen Aufgaben wie Frauenbefreiung, Aufklärung der ultrakonservativen ländlichen Bevölkerung, Ausmerzen des Heroins, Stabilisierung des Südens dauern mindestens eine Generation lang. Jetzt sind Zwischenschritte gefragt. Sehr viel Respekt, Achtung der Stammesstrukturen, beträchtliche Mittel für langsame Fortschritte. In seinem »Reisebuch« Reise nach Kandahar, Düsseldorf 2007, verbindet Burke konkrete Beobachtungen mit analytischen Aperus wie etwa jene Skizze der Stadt Kandahar:

»Ich konnte nachvollziehen, warum die Taliban den von Dürre heimgesuchten, sonnenverbrannten und bitterarmen Wüstendörfern im Südosten Afghanistan entstammten. Diese Welt entsprach ihnen und ihrem puritanischen, von Furcht und Schrecken erfüllten Denken. Das grelle Mittagslicht auf den Straßen; der scharfe Kontrast zwischen dem blendenden Sonnenlicht und den Schatten auf den Schwellen der Häuser mit ihren fensterlosen Mauern; die Dörfer förmlich in sich zurückgezogen, die hohen Wälle um die einzelnen Häuser, die gemeinsam einen lückenlosen Schutz gegen die Außenwelt bildeten. Kandahar, so kam es mir vor, war nicht nur ein geographischer Ort, sondern auch eine Geisteshaltung.«

In der bundesrepublikanischen Debatte herrschen gewisse Grauzonen vor, vom häufigen Gebrauch des Begriffs »Strategie« überdeckt. Die Bundesregierung gibt Bündnistreue vor, beschränkt jedoch den Einsatz sowohl militärisch als auch zivil auf den kleinstmöglichen Nenner. Acht Tornados sind eine Lappalie, ebenso die bisherige Aufbauhilfe – bedenkt man die strategische Bedeutung, die der Nahe und der Mittlere Osten für die geopolitische Konfliktlage besitzen. Dieser sollte europäischen Regierungen und global players bedeutend wichtiger sein und sich in materiellen Gegenwerten ausdrücken.

Zumindest das scheint die Bush-Regierung besser zu verstehen. Ihr wird oft vorgehalten, einseitig auf die militärische Lösung zu setzen. Doch sprechen einige Zahlen und Leistungen eine etwas andere Sprache. Zu Beginn des »bonn-Prozesses« hatte die US-Regierung tatsächlich ihre Leistungen für den zivilen Aufbau drastisch zurückgefahren. Oder es wurden Gelder für Militärtitel als Zivilausgaben verrechnet. Das hat sich spätestens seit 2003 geändert. »Die USA haben ... seit 2001 rund 14,2 Milliarden Dollar für Afghanistan bereitgestellt. Davon waren 9 Milliarden für Armee und Polizei und 5,2 Milliarden für Wiederaufbau und humanitäre Hilfe.« (Spiegel, 27.1.) Dagegen hat die EU bisher aus ihrem Gemeinschaftshaushalt insgesamt eine Milliarde ausgegeben, dazu kamen 2,8 Milliarden aus den nationalen EU-Staatshaushalten, bei sinkender Tendenz – also auch an ziviler Hilfe deutlich weniger als die USA. Zwar geben die Europäer im Verhältnis mehr für zivilen Aufbau als für Militär aus, doch die Summen sind erbärmlich gering. »Was man im Kosovo an Geld und Mitteln investiert hat, steht im Verhältnis zu Afghanistan 16:1«, sagte der afghanische Außenminister Rangin Spanta bei einem Vortrag (30.1.) in der Heinrich-Böll-Stiftung Berlin, bei dem er die Intensivierung der zivilen und der militärischen Unterstützung forderte.

Immerhin haben die USA einiges in die Gesundheitsversorgung gesteckt, in den Straßenbau, ins Schulwesen. Der Vorwurf an sie, sie würden nur Geld zur militärischen Sicherung investieren, ist sachlich falsch. Ebenso falsch ist die Annahme, die EU-Staaten würden ein politisches Gegengewicht darstellen – die Zahlen sprechen Bände. Die Amerikaner sind über ihre Verbündeten verärgert – denn diese halten sich bei der Hilfe und bei den Einsätzen zurück. »Wir haben an der Aktion teilgenommen, während einige unserer Nato-Verbündeten in Kabul ihre Fingernägel poliert haben«, empörte sich ein kanadischer Offizier in der Los Angeles Times (30.1.).

Man bedenke nur die Möglichkeit, die Vereinigten Staaten hätten nach dem 11. September die Nato-Verbündeten, die sich dazu angeboten haben, auf Basis des Artikels 5 in die Pflicht genommen– nicht zuletzt die rot-grüne Regierung. Deutschland wäre ganz anders in diesen Konflikt verwickelt, es müsste nicht um die Lächerlichkeit von acht Tornados gestritten werden. Es bestünde vielleicht auch mehr Klarheit über Strategiefragen.

Unter »Strategiewechsel« fällt auch Claudia Roths Einwurf in der Tornadodebatte, es ginge nicht um das Was, sondern um das Wie. Das ist blauäugig. Um das Was kann man sich schon ein paar Gedanken machen. Oder reibt sie sich nicht mehr an der neokonservativen Globalstrategie mit »Kampf der Kulturen« und »War on Terror«? Reduziert sich der Afghanistan-Konflikt auf ein paar Tornados? Da ist Zbigniew Brzezinski ihr meilenweit voraus. Da sind ihr auch US-Militärberater wie Ralph Peters weit voraus. Peters denkt in der US-Armeezeitschrift Armed Forces Journal (Novemver 2006) darüber nach, wie man auf militärisch-zivilem Wege zu einem freien, demokratischen Staat kommen kann. »Fünf Jahre mit dem Konzept des ›War on Terror‹ ... ist dieses zu einem der größten Hindernisse für Fortschritte in Afghanistan geworden. Auch spiele die verabsolutierende und ausschließende Sprache den Aufständischen in die Hände,« kritisiert Peters die US-Regierung und fordert den »Kampf um Herzen und Köpfe« ein. Natürlich gibt es ein militärisches Problem. Die Taliban repräsentieren einen steinzeitlichen und brutalen Totalitarismus, im Land existieren derzeit rund 1800 illegale bewaffnete Gruppen. Aber nicht jeder, der eine Kalaschnikow trägt, ist ein Taliban, rund 80 Prozent könnten in verschiedene Dienste für lokale Sicherheitsfunktionen eingebunden werden. 360 Gruppen geben zu Sorge Anlass, 30 sind der harte Kern im Drogengeschäft, zugleich das materielle Rückgrat der Taliban und al-Qaida. Unsinn sei aber das chemische Zerstören der Mohnfelder. Die Armee aber solle lieber mehr Sprachen lernen und die zivilen Berufe ihrer Mitglieder ausnutzen für die Entwicklung des Landes. Peters empfiehlt dem Pentagon und der Nato eine »Tintenklecks-Strategie« als Lehre aus Vietnam; von den Basen der Provincial Reconstruction Teams (PRTs) sollen sich die Tintenflecke des Aufbaus langsam ausbreiten.

Insgesamt scheint es sogar in der US-Army Kräfte zu geben, die jene konventionellen Strategiemuster durchbrechen, die von der obersten Führung trotz der neuen nationalen Verteidigungsstrategie und der darin analysierten asymmetrischen Kriege in Afghanistan immer noch angewandt werden (z. B. in der Provinz Helmand im Kampf um Musa Qala). Hier verschränkt sich die Kritik ums große Ganze mit jener am konkreten Tagesgeschäft.

Aus: »Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe 2/2007