Herbert Hönigsberger

EU-Minimalismus und Reformkälte

Europäische Präsidentschaft, deutsche Agenda und Republikanismus

Eigentlich wollte die Kanzlerin ihr Ansehen durch Auftritte auf europäischer Bühne mehren. Doch versackt ihre Ratspräsidentschaft bislang nicht nur in der einlullenden Durchschnittlichkeit, die auch die Kanzlerschaft prägt, sondern auch in innenpolitischen Turbulenzen. Die soziale Spaltung nimmt zu und der Republikanismus liegt weiter darnieder.

Die »Lissabon-Strategie« soll Europa zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum auf dem Globus machen. Weil aber viele Europäer ihren Kontinent nicht als sozialen Schutzraum gegen die Zumutungen der globalen kapitalistischen Ökonomie wahrnehmen können, wachsen die Legitimationsdefizite der EU. Kommissionspräsident Barroso hat also nicht ohne Grund und gestützt auf eine umfangreiche Datensammlung eine öffentliche Konsultation über die soziale Wirklichkeit der europäischen Gesellschaften begonnen. Deutschland stellt die EU-Analyse allenfalls ein durchschnittliches Zeugnis aus, in einigen Bereichen – Beschäftigung, Lohnentwicklung, Bildung, Armut, Ungleichheit – sogar ein schlechtes. Was Wunder, dass die Kanzlerin die Befunde ignoriert. Sie ist in die deutsche Präsidentschaft mit strammer Parteinahme für den deutschen Groß- und Schwerautomobilismus gestartet. Den Vorschlag des tapferen griechischen Umweltkommissars zu festen Grenzwerten für alle PKW kanzelte sie ab, bevor ihr zuständiger Minister zu Wort und das Kabinett zum Beschließen kam. Kollegiale Führung war das nicht. Dafür ganz Autokanzlerin.

Die europäische Bilanz der Kanzlerin wird man ziehen können, wenn die Resultate der Reanimation des Verfassungsprozesses auf dem Tisch liegen. Dieses Projekt wird in letzter Minute auf der Ratssitzung Ende Juni entschieden und tunlichst nach allen Regeln des diplomatischen Handwerks vorbereitet, also klandestin. Doch ist die Kanzlerin beim Verfassungsvertrag mehr im Wort als beim Klimaschutz. Die 20-Prozent-Lösungen zur CO2-Minderung und zum Anteil der erneuerbaren Energien waren von der EU-Kommission vorbereitet und durch UN-Studien unterfüttert worden. Und sie wurden durch den Auftrag an die Kommission, Details im Herbst vorzulegen, aus der deutschen Präsidentschaft ausgelagert. So geht das mit dem Verfassungsvertrag nicht. Der Erfolg der Präsidentschaft steht und fällt mit der Überwindung der Krise des Ratifizierungsverfahrens und dem Entwurf eines Fahrplans für den Abschluss der europäischen Verfassungsgebung. Bis zu den Europawahlen 2009 müssen die Bürger wissen, woran sie sind. Das praktische wie symbolische Minimum könnte sein, die institutionellen Reformen und die Grundrechtscharta auszulagern und gesondert zu beschließen.

Über die Rede der Kanzlerin vor dem Europäischen Parlament zur Eröffnung der deutschen Präsidentschaft musste sich die Öffentlichkeit nicht heiß reden. Auch der zweite Auftritt ist vergessen. Immerhin war die Ratsvorsitzende klug genug, um zu wissen, dass man aus Deutschland nicht nach Europa fährt und dann die Predigt von der Wertegemeinschaft hält. Europa kann weder noch will es eine Wertegemeinschaft sein. Es ist ein Rechtsraum. Der ist allerdings trotz Wertepluralismus und Wertediffusion weit mehr durch gemeinsame Grundwerte fundiert, als die Kanzlerin merkwürdig minimalistisch anklingen ließ. Europas Seele nur durch die Freiheit zur Widersprüchlichkeit zu definieren, die dann durch Toleranz aufgehoben wird, ist etwas dürftig. Denn Toleranz entbindet nicht von der Aufgabe, die Substanz des europäischen Republikanismus zu definieren. Schon gar nicht taugt Toleranz als Synonym für Indifferenz. Der Verfassungsvertrag dagegen kommt in der Charta der Grundrechte (Kapitel II) mit Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und Solidarität doch erheblich französischer daher als der merkelsche Minimalismus von Verschiedenheit und Toleranz. Erkennbar verzichtet die die Kanzlerin um des Fortschritts beim Verfassungsprozess willen auf alles, was als zu forscher deutscher Vorstoß für eine europäische Leitkultur missdeutet werden könnte. Dem fällt auch Gott zum Opfer. Wann immer Benedikt und die Seinen in Sicht waren, hat die Kanzlerin stets auf die religiöse Grundierung der EU-Verfassung gepocht. In Straßburg beschränkte sich die Ratsvorsitzende auf ein persönliches Bekenntnis zu den christlichen Grundlagen Europas. Dafür mussten sich die Europa-Parlamentarier die von Kohl auf sein Mädchen gekommene Formel vom deutschen Tatbeitrag zur schlimmsten Periode von Hass, Verwüstung und Vernichtung anhören: Der geschah mal wieder im Namen der Deutschen. An der Warschauer Universität immerhin erteilte sie der Preußischen Treuhand eine klare Absage.

Man könnte den Mangel an überzogenem europäischem Pathos begrüßen, das unaufgeregt Geschäftsmäßige. Nicht aber den Mangel an Fähigkeit zur europäischen Sinnstiftung. Mag sein, dass die Strategie der Unverbindlichkeit das Vorspiel zum Juni-Gipfel liefert. Ihre Moderatorinnenrolle gefährdet die Kanzlerin nur selten durch falschen Zungenschlag. Doch will es ihr auch im europäischen Kontext nicht gelingen, den Indifferenzvorhalt zu zerstreuen. Auf dem Europäischen Sozialstaatskongress des DGB ging ihr Plädoyer für ein soziales Europa zwar um einiges über die beiläufige Erhaltung und Entwicklung unseres europäischen Sozialstaatsmodells unter den Bedingungen der Globalisierung vor den europäischen Parlamentariern hinaus – aber eben anlassbezogen, publikumsorientiert, verdächtig opportunistisch. Nur einmal schreckten die Gewerkschafter auf: Die Soziale Marktwirtschaft hat für eine lange Zeit die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit so weit eingedämmt, dass ein großer Teil der Bevölkerung gut leben konnte. Das Ganze kommt jetzt unter zunehmenden Druck, intonierte die Kanzlerin plötzlich mittendrin. Ein Satz wie ein Hammerschlag. Aber auch nur einer.

Derweil fallen harte innenpolitische Entscheidungen, kehrt die politische Klasse weiter das kalte Herz der Reformen heraus. Die innenpolitische Agenda übertönt die europäische. Und von der geht auch kein Wärmestrom aus. Weder strahlt Deutschland nach Europa noch die Präsidentschaft zurück. Die Gesundheitsreform macht nur als Ausgangspunkt für etwas anderes Sinn. Die Konfliktpartner finden für sie kaum ein besseres Argument, als dass sich Elemente eigener Programmatik in dieser Reform wieder fänden, auf die man aufbauen könne, wenn man nur die Gelegenheit bekäme, es so zu machen, wie man wolle. Bei der Rente ab 67 fehlt es nicht an Einsicht, dass bei weniger Rentenzahlern und mehr Rentnern auch ältere Menschen – vor allem die, die können und wollen – länger arbeiten sollten. Doch fehlt der Glaube, dass die Politik für die Beschäftigung Älterer sorgen könne. Die Unternehmenssteuerreform wird gewissermaßen durch die Mehreinnahmen bei den Massensteuern finanziert. Das ist womöglich die zwingende nationalstaatliche Logik in der Ära der Globalisierung. Der Staat wird mehr und mehr von den Bürgern bezahlt, durch Steuern auf Einkommen und Konsum und immer weniger von den Unternehmen. Doch entspricht dem kein Ausbau der Demokratie und der Bürgerrechte. In der pronatalistischen Debatte um die Kindertagsstätten geht es um Nachwuchs für die Sozialkassen, um Entlastung für Frauen, die in den Arbeitsprozess eingespannt sind, mitunter gar um die aussterbenden Deutschen. Nur selten geht es um das Kindeswohl. Im Bergbau zieht sich der Staat aus der Subvention einer traditionellen, symbol- und kulturträchtigen High-Tech-Industrie zurück – ohne Rücksicht auf Arbeitsplätze. Bei den Kombilöhnen dagegen gilt die Subvention eines Niedriglohnsektors depravierter Dienstleister als klug – wegen der Arbeitsplätze.

Während die öffentliche Infrastruktur weitgehend privatisiert wird, werden marktkonforme Löhne, die eine Existenz sichernde Höhe nicht erreichen, durch Steuermittel subventioniert, also die Lohnkosten sozialisiert. Auch eine Paradoxie des Kapitalismus. Dazu entdeckt die politische Klasse das klassischste aller klassischen Instrumente wieder, das Verbot: Für Raucher, Raser und berauschte Kids, für Glühbirnennutzer, begnadete Fahrzeuglenker mit der Kippe in der einen Hand und dem Handy in der anderen. Das ruft allerlei Freiheitsfreunde auf den Plan. Die melden sich so lautstark wie nie zu Wort, wenn die Überwachung und Ausspähung von öffentlichem Raum, Internet und Konsumenten vorangetrieben, das Grundrecht auf Asyl oder das Bleiberecht eingeschränkt werden. Dieser Typus hält auch das öffentliche Brunzen für ein Freiheitsrecht und hätte seinerzeit gewiss auch gegen das Verbot rebelliert, auf offener Straße zu defäkieren und Jauche auf die Gasse zu kübeln. Da wird nicht die Freiheit der Konsumenten, sondern nur die Ignoranz bewusstloser Emittenten verteidigt. Da verbandeln sich Lumpenliberalismus und Hallodrihedonismus und heraus kommt wieder die verkrüppelte deutsche Bonsaivariante von Freiheit, der es um kaum mehr geht, als um das Recht auf Sause.

Der Staat andererseits zeigt seine Instrumente vor allem dem Bürger. Dem stößt eine gewisse Verbotsscheu der gewählten Repräsentanten gegenüber starken Interessen und großen Unternehmen sauer auf. Und diese Asymmetrie scheint nicht nur der strategischen Ratio geschuldet, die notgedrungen hochmobiles Kapital hätschelt und beim immobilen Arbeitnehmer oder Mittelständler zugreift. Nicht ganz zu Unrecht entsteht der Verdacht, die politische Klasse knicke vor großen Lobbyisten ein und drangsaliere den kleinen Mann. Der revanchiert sich mit hartleibigem Eigensinn. Die eigentliche Stärke der Republik zeigt sich in der Regulierung der kapitalistischen Ökonomie und nicht des Lebensstils.

Trotz allem ist die politische Lage merkwürdig in der Schwebe. Die ausblutenden Parteien haben zusammen keine 1,5 Millionen Mitglieder mehr. Ein Warnsignal liefern auch die TED-Umfragen der Unterschichtensender. Seit die Rente mit 67 in die Tiefenschichten des Bewusstseins des glotzenden Prekariats gesickert ist, kommt die SPD nur noch auf drei bis fünf Prozent. Und mitten in den Aufschwung platzen die geplanten Entlassungen bei T-Com und die Massenproteste der europäischen Airbus-Mitarbeiter. Nach der Neuverhandlung des Kohlekompromisses im Sommer 98 stürzte Kohl. Zwei Tage belagerten Bergarbeiter die Bannmeile. Und grüne Abgeordnete spielten in der besetzten Bonner Heussallee nächtens Fußball mit dem Proletariat. Heute stolpert über den Auslauf des Bergbaus keine Regierung mehr. Aber niemand weiß, ob in den Widerstandsaktionen gegen Massenentlassungen und Sanierungskonzepte der Keim für mehr steckt, ob die Große Koalition die großen Partys gegen die Vereinzelung á la Fußball-WM und Papstbesuch plötzlich ins Politische kippen lässt, ob es zu französischen oder dänischen Aufwallungen des Jugendprotestes, zu einem deutschen Anschluss an die italienische San-Precario-Bewegung kommt oder gar zu einer neuen Bewegung gegen Raketenstationierungen, die sich mit der gegen den Irakkrieg und die Afghanistanintervention und einer Klimaschutzbewegung koppelt. Und ob es nur bei der Radikalisierung im semiöffentlichen Raum der Blogs und Foren im Internet bleibt.

Man muss aber nicht auf die Massen warten. Gunter Hofmann hat in der Zeit vom 15.03. Elemente der Grammatik für ein Projekt Rot-Grün-Plus skizziert: Theorien moderner Staatlichkeit von Stefan Leibfried und Ulrich Beck, Anthony Giddens’ Entdeckung eines erneuerten Egalitarismus, Michael Bries Selbstkritik an der Linken in den Traditionen von DDR und SED. Giacomo Corneo von der Freien Universität hat mit dem »New Deal für Deutschland« einen Strategievorschlag für einen Pakt zwischen Regierung und Gewerkschaften beigesteuert, der eine koordinierte Lohnpolitik vorsieht, die sich auf Reallohnsicherung begrenzt, dazu stärkere progressive Besteuerung sowie ein massives staatliches Investitionsprogramm. Das politische Betätigungsfeld der sozialen Spaltung wird längst nicht allein in der FES-Studie ausgemacht. Stefan Collignon von der London School of Economics propagiert seit Jahren die Europäische Republik, die politische Union plus Demokratie. Die europäische Demokratie brauche eine sozialliberale Gründungskoalition, die sich an den Grundideen Freiheit, Gleichheit und Solidarität orientiere und von den Kräften der politischen Moderne – klassischer Liberalismus, Sozialdemokratie und moderne Christdemokratie – gegen konservative Nationalisten, Souveränisten und Neoliberale vorgetragen werden könne. Stoff für die Verschränkung von europäischem und deutschem Republikanismus liegt also genug vor. Doch kommt er weniger aus der politischen Klasse als vielmehr aus einer radikal analysierenden Wissenschaft.

Aus: »Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe 2/2007