Dunja Melcic

Der alte Nationalismus

Zur diskursgeschichtlichen Genealogie des Nationsbegriffs

Nationalismus – ein Produkt der Moderne? Wieso scheiterten jedoch die modernen Nationalismustheorien etwa in den jugoslawischen Kriegen? Die Studie des Freiburger Historikers Caspar Hirschi schließt, so unsere Autorin, eine große Lücke. Nicht nur deckt sie methodische Schwächen der »Modernisten« auf. Sie verhandelt auch den Ursprung des Nationendiskurses im späten Mittelalter, zeigt die frühe Produktion von Arroganz und Abwehr, die Entwicklung von Feindbildern über die Sprache. So werden germanisch- deutsche Konstruktionen einer »Blutsgemeinschaft« ebenso in ein kritisches Licht gerückt wie der Mythos von »den« ethnisch-kulturellen Konflikten.

Als nach dem Fall der kommunistischen Diktaturen in Mittel-, Ost und Südosteuropa in der jäh veränderten geopolitischen Landschaft der Nationalismus in unterschiedlichen Gestalten die politische Bühne betrat, zeigte sich der Westen auch in theoretischer Hinsicht für diese Ereignisse, Veränderungen und neuen Gesellschaftsphänomene schlecht vorbereitet. Ebenso wenig wie die etablierten westlichen Gesellschaftstheorien boten auch die Nationalismustheorien fruchtbare Ansätze für einen aufrichtigen und erkenntnisfördernden Umgang mit diesen alt-neuen Formen von politischen Gemeinschaften in Europa an. Bei den theoretischen Entwürfen der Nachkriegssoziologie fiel auf, dass sie sich einseitig an den Phänomenen der westlichen Gesellschaften orientierten und darüber hinaus vorwiegend durch eine ideologische Gegnerschaft zur Totalitarismusforschung geprägt waren. Auch die funktionalistisch-konstruktivistischen Nationalismustheorien der Achtzigerjahre setzen trotz des universellen Anspruchs bei bestimmten Formen der Nationalideologien an und behandeln lediglich ausgewählte historische Aspekte der nationalen Bewegungen.

Die mittlerweile gewissermaßen klassisch zu nennenden angelsächsischen Nationalismustheorien von Benedict Anderson, Ernest Gellner und Eric Hobsbawm beeinflussten die Auseinandersetzungen über den Nationalismus um die Jahrhundertwende, trugen aber zum Verständnis der doch ziemlich unterschiedlichen Nationenprägungen und durch Nationalismus ausgelösten Probleme multinationaler Gesellschaften in den postkommunistischen Staaten wenig bei. Dennoch wanderten Ansichten, Begriffe und Stichworte aus diesen Theorien in historische, politologische und soziologische Forschung, im deutschsprachigen Raum besonders in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts, ein: »imagined community«, »invention of tradition«; Nation als Produkt der Moderne, als kollektive Abstraktion, als Mobilmacher im modernen Staat und andere. Die Vermehrung solcher Begrifflichkeiten in der Literatur schien ein besseres Verständnis der nationalen Probleme in Europa kaum gefördert zu haben. Aber langsam begann sich abzuzeichnen, dass man das Problem des Nationalismus besser erneut und gründlich überdenken sollte. Dieser Aufgabe widmete sich der Freiburger Historiker Caspar Hirschi in seiner umfangreichen Studie(1) zum europäischen Nationsdiskurs mit großer Verve; er erkannte, dass es an der Zeit ist, die etablierten Nationalismustheorien auf ihre erkenntnistheoretische Tragfähigkeit zu überprüfen, und dass ein differenzierter, durch die Kritik an herkömmlichen Lehrmeinungen geschärfter Begriff des Nationalismus ein echtes Desiderat der historischen und gesellschaftswissenschaftlichen Forschung geworden ist.

Das gelingt durch Verknüpfung zweier wissenschaftlicher Diskurse: Der eine Ansatzpunkt greift Ergebnisse der Mediävistik auf, die reiches Belegmaterial über den Anfang der Nationsbildung im späten Mittelalter präsentierte; den anderen bildet die kritische Auseinandersetzung mit modernen Nationalismustheorien und stellt deren methodische Schwächen bloß: »Entweder umgehen die Theorien die Ursachenfrage mit einer funktionalistischen Erörterung, warum nur die moderne Gesellschaft auf den Nationalismus angewiesen sei (Gellner), oder sie führen die Modernität der Nation auf Ursachen zurück, deren Wirkungen schon vor der Moderne einsetzen (Anderson), oder sie betonen facettenreich den Baustellencharakter der modernen Nationenbildung, ohne die Frage nach ihren Ursachen überhaupt zu stellen (Hobsbawm).« Aber in einer weiter gefassten Bedeutung knüpft Hirschi an den konstruktivistischen Ansatz der »Modernisten« – so nennt er die Theoretiker, die den Nationalismus als ein ausschließlich modernes Phänomen betrachten – an. Auf diesem Weg entsteht seine theoretische Konzeption über das diskursgeschichtliche Wesen der Nationenbegriffe sowie über die Nationsbildung als ein diskontinuierlicher Prozess von langer Dauer, der in Europa schon im Spätmittelalter eingesetzt hat. Von übergreifender Bedeutung sind dabei die eindringlich vergegenwärtigten geschichtlichen Bausteine der Konstruktion des Nationsbegriffs und -bewusstseins.(2)

Der mittelalterliche Nationsdiskurs

Nationsdiskurs ordnet die Menschen in Kollektive ein, welche er »als kulturelle und politische Einheiten mit festem Lebensraum konstruiert«. Bei der Vielfalt der europäischen Nationsdiskurse wird die seit der Antike bestehende Tradition der Abgrenzung zwischen Eigenem und Fremdem im Unterschied zu dieser nicht als bipolare Hierarchisierung – Barbaren, Heiden – imaginiert; vielmehr konstruiert der Nationsdiskurs zugleich eine Pluralität der von Eigenem Ausgegrenzten als eine Vielheit fremder Kollektive. Das bringt eine ungleich höhere Komplexität mit sich als bei anderen – bipolaren – Kollektivmodellen. Genealogisch zeigt sich diese Änderung der Unterscheidungsmatrix zwischen Eigenem und Fremdem als durch außerordentliche geschichtliche Umstände ausgelöst, die die kulturelle und politische Struktur des Mittelalters bilden: Die Nationen entstehen aus der unbeabsichtigten »Dezentralisierung der christlichen Binnenordnung« im Mittelalter. Die mittelalterlichen Diskurse grenzen die eigene Gemeinschaft multipolar und horizontal ab und konstruieren nicht nur eine, das heißt eigene, sondern gleich mehrere Nationen mit. Wenn man heute über kollektive Ideologien nachdenkt, dann fällt einem sofort auch der Islamismus ein und dass er im Unterschied zum Nationalismus eine bipolar konstruierte Ideologie ist, in der die Religion die absolute Trennlinie darstellt.

Mittelalterliche Gesellschaft konstituiert sich unter vielfältigen Hypotheken. Man könnte die mittelalterlichen Gesellschaften in Anlehnung an Bestimmungen des »abkünftigen« Wesens der mittelalterlichen Metaphysik, die Heidegger vor langer Zeit ausgearbeitet hat, abgeleitete Gesellschaften (im Unterschied zu ursprünglichen griechisch-antiken Gemeinschaften, d. h. POLEIS) nennen, die dadurch unter »außerordentlichen« Umständen bestehen. Darauf weist Hirschi treffend hin, indem er das europäische Mittelalter »als römische Sekundärzivilisation« kennzeichnet. Obwohl die spätantike Ordnung aufgelöst war, blieb nämlich die römische Provinzeinteilung in der administrativen Raumordnung der Papstkirche erhalten und die römische Kultur behielt ihren Vorbildcharakter. In den Herrschaftsräumen entfachte sich ein Spannungsverhältnis zwischen den Ansprüchen der erstarkenden Territorialherrscher sowie der abendländischen Monarchien und der kaiserlichen sowie päpstlichen Alleinherrschaftsansprüche, und dadurch setzte eine singuläre westeuropäische Entwicklung an: »Die Unvereinbarkeit von dezentral-autonomen Herrschaftsverbänden und zentralistisch-universalistischen Alleinherrschaftansprüchen setzte eine Binnenkonkurrenz frei, deren Intensität dem Abendland eine singuläre Dynamik verlieh.«(3)

Das sind diese komplexen Bedingungen und Vorbedingungen, die eine Struktur vielfältiger wetteifernder Beziehungen und einen geschichtlichen Boden schaffen, auf welchem jeder kleine Impuls große Wechselwirkungen und nachhaltige geschichtliche Dynamiken auslöst. Hirschi hilft uns zu verstehen, wie sich der europäische Nationsdiskurs aus mehreren Entwicklungssträngen – »ohne einheitlichen Ursprung« – und aus historischen Prozessen, die Jahrhunderte zurückreichen, entfaltet. Ein Begriff wird als vorbildhaft im vorherrschenden Diskurs etabliert, eine kleine Entdeckung findet statt, und man hat einen Ursprung: ein schmales Rinnsal oder eine breite Quelle, je nachdem.

Die erstaunliche Wandlungsfähigkeit der Leitbegriffe

Die frühesten Leitbegriffe der späteren Nationsdiskurse werden in natio und patria in den Quellen zurückverfolgt. Ausgangspunkt ist die Neuentdeckung des römischen Rechts im späten 11. Jahrhundert,(4) in welchem der römische Begriff des Vaterlandes, »patria«, eine Rolle spielt. Er bekommt früher als natio neue funktionale Konnotationen, die sich für »die Propaganda weltlicher Herrschaften« eignen. Dieser sprachdynamische Prozess wird durch die Politisierung des natio-Begriffs begleitet; dessen Ursprung liegt in jenen mittelalterlichen Institutionen, »die Ortsfremde nach Herkunftsgruppen, so genannte nationes, einteilen«, wobei diese zunehmend auf Sprachgruppen bezogen werden. Dabei stellt sich heraus, dass zunächst nicht die Eigenwahrnehmung kollektivbildend wirkt, sondern die Wahrnehmung von Anderssprachigen, welche wegen ähnlichen Sprachklangs eine Gruppe als Mitglieder einer »Sprachnation« erfassen, obwohl diese sich unter sich in ihren verschiedenen regionalen Mundarten gar nicht verständigen können. Ein interessantes Beispiel für diese Wahrnehmung von Anderssprachigen enthält übrigens der slawische Name für die Deutschen, der sie – grob gesprochen – als Gruppe von »Stummen« wahrnimmt.(5)

Hier können nur die markantesten Stationen der komplexen und an Wandlungen reichen Geschichte der Begriffe und Diskurse erwähnt werden. Der Begriff der patria regelt im Justinianischen Zivilrecht (Digesten) die Loyalität der römischen Bürger und insbesondere Soldaten, und zwar in der gängigen appellativen Formel: Es sei eine Ehre, für das Vaterland zu sterben. Unter Vaterland verstand man das gemeinsame römische Reich (patria communis); das jeweilige eigentliche Herkunftsland (patria propria) der Bürger und Soldaten war vollkommen belanglos. Diese »patria communis« verlagerten bereits die christlichen Theologen der Spätantike in den himmlischen Gottesstaat, in patria immortalis. Im feudalen Mittelalter kommt es zum neuen Bedeutungsamalgam: Mit Hilfe der antiken Vaterlandsdoktrin des römischen Rechts wird die himmlische patria gewissermaßen »wieder auf die Erde geholt und den europäischen Monarchien einverleibt.« Doch wird sie dadurch nicht ganz irdisch. Aus welchem »Ehrgefühl« ist man bereit, für patria zu sterben? Zunächst motivierte diese »Ehre« zur Opferbereitschaft für Glauben und Kirche; so bildete sie – als Ideal des Märtyrertodes – den ideologischen Hintergrund der Kreuzzüge. Doch bald wurde die Patria-Rhetorik auch als Mittel der Disziplinierung, Legitimierung und Mobilisierung der Loyalität von Untertanen für die jeweiligen Herrschaftsansprüche politisch genutzt. Sie wurde auch ausgedehnt, um einzelnen Königen zugleich die imperialen Vorrechte zu sichern. Dadurch entstand eine gesteigerte Konkurrenz unter den Königshäusern um den Vorrang in der Christenheit. Mit der Zeit flossen die Elemente aus dem Patria-Konnotationsfeld in den sich seit dem 14. Jahrhundert herausbildenden natio-Nations-Diskurs hinein. Dabei durchlief das Wort natio erstaunliche Bedeutungswandlungen – von der römischen Bezeichnung für fremde Völker, über die für die geografische Herkunft bestimmter Gruppen (Händlerkolonien, Handwerkeransiedlungen, Studenten usw.) und abstrakte Kollektivbezeichnung für die Repräsentanten eines Kirchenvolkes bis zum mächtigen rhetorischen Mittel in dynastischen Kämpfen um den Kaisertitel sowie jener durch die Humanisten geprägten der eigenen Gemeinschaft als »kollektiver Ehrbegriff«.

Sowohl die nationes an den Universitäten (Bologna, Paris und seit 1348 Prag) als auch die Konzilsnationen waren ethnisch und muttersprachlich heterogen. Zur böhmischen natio zählten auch Ungarn, zur polnischen deutschsprachige Schlesier. Auf dem Konstanzer Konzil war die deutsche Konzilsnation die heterogenste im Reich und umfasste »Skandinavien, Polen, Litauen, Kroatien und Böhmen«.(6) Diese nationes principales existierten als politische Verbände der Christenheit nur auf den Konzilien. Die nationes particulares meinten Abstammungs- und Sprachgemeinschaften sowie Herrschaftsgebiete, deren Vertreter aber agierten geleitet von eigenen weltlich-politischen Interessen, die sie dem kirchlichen Diskurs unterordneten. Das war besonders ausgeprägt während des langen Konstanzer Konzils (1414–1418), als es Hirschi zufolge zur Vermengung »von sprachlichen und kirchlichen Raumordnungen« und weltlich-politischen Zielsetzungen kam,(7) was eine Konsolidierung der nationes aufschob; statt dessen formierte sich »ein agonal aufgeladener Diskurs mit spannungsreichen Mehrdeutigkeiten«, dessen Struktur nachhaltig den späteren Nationsdiskurs beeinflusste.

Sprache als Politik

Einer der spannendsten Momente dieser Begriffsgeschichte liegt darin, dass sich zunächst alles in der Sprache abspielt, Rhetorik ist; sie ist das Medium, in welchem sich der Wettkampf um die Ehre der »eigenen« Nation entfaltet, welche dann mit intellektuellen und ideologischen Mitteln immer weiter ausgeschmückt wird, um zu zeigen, dass die eigene Nation besser als die andere oder die anderen dasteht. Sprache als Kampfmittel entlädt sich in nicht enden wollenden Schimpfkanonaden über das konkurrierende Volk und seine Repräsentanten, die vor keinem Ausdruck scheuen. Eine besondere Radikalisierung erlebt die Nationsrhetorik durch Maximilian I. (1493–1519) im Dienste der habsburgischen Reichspolitik und im Zuge der territorialen Auseinandersetzungen mit Frankreich, das »unser aller Erbfeind« genannt wird.(8) Die Übertragung der Erbfeindrhetorik auf ein christliches Königreich »sakralisierte die nationale Feindschaft« gegen Frankreich und »säkularisierte« durch den Vergleich oder gar eine Gleichsetzung mit den Türken »den Kampf gegen die Heiden«. Trotz der aggressiven diskursiven Innovation verließ dieses Nationskonzept nicht das rhetorische Gefilde: Weder bestimmte es Maximilians politisches Handeln noch verdrängte es traditionsreichere Gemeinschaftsvorstellungen wie das »Heilige Reich« und die »Christenheit«. Diese strategische Unverbindlichkeit des frühen Nationsdiskurses ermöglichte zusammen mit seiner bis in die Neuzeit andauernden Mehrdeutigkeit seine fortdauernde rhetorische Radikalisierung.(9)

Das heißt natürlich nicht, dass es im Einzelnen keine realgeschichtlichen, materiellen Hintergründe sowie bestimmte Wahrnehmungen gab, die jeweils einen Diskurs motivierten. Hirschi zeigt das eindrucksvoll an Gravaminadiskursen, die von den üblichen kirchlichen Beschwerden über die päpstliche Politik den Weg zur nationalen Romfeindschaft fanden. Wenn man diese Zusammenhänge sowohl soziopolitisch geschichtlich als auch sprachlich geschichtlich betrachtet, kann man die funktionale Differenz dieser Diskurse und Sprachpraktiken im Mittelalter gegenüber dem heute üblichen Verständnis erkennen.

Eine Begebenheit demonstriert das eindrucksvoll: Zwischen 1457/58 fand der im 15. Jahrhundert allgegenwärtige italienische Humanist Enea Silvio Piccolomini (1405–1464) und spätere Papst Pius II. in einem deutschen Kloster ein unbekanntes Manuskript, das sich als eine Schrift des römischen Historikers Tacitus entpuppte und bald darauf den Titel »Germania« erhielt. Diese Schrift löste bei den deutschen Humanisten eine Begeisterungswelle aus, obwohl sie die Germanen als ein barbarisches Volk beschrieb. Aus den Beschreibungen Tacitus’, eines hochgebildeten Römers aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, schöpften sie bis dato ungeahnte Gewissheiten über die Ehre und den Ruhm der Deutschen. Höchst bedeutsam erschien, »dass alle Deutschen von einem gemeinsamen Urahn abstammen und … eine Blutsgemeinschaft bilden«, denn es passte zur Konstruktion des idealisierten Selbstbildes und man konnte sich obendrein dafür auf hohe antike Autorität berufen. Das Lesen war freilich auch ein Erfinden und Selektieren; wo das nicht half, taten es Verdrehungen und regelrechte Fälschungen. Aber die Belegstellen aus Tacitus täuschten eine Objektivität der Konstruktion vor; die deutschen Humanisten konstruierten dabei nichts weniger als »ein neues Altertum, indem sie Deutsche und Germanen genealogisch gleichschalteten«. Diese Methode des Lesens und Konstruierens, die sich nach Selbstidealisierungen und Wünschen orientierte, wurde von allen Humanisten gleichsam mittelalterlich universell angewandt oder auch einfach kopiert. Die Affinität, ein deutsches Gegenaltertum zu konstruieren, entstand zunächst nach dem französischen Vorbild, das den Untergang Roms als nationale Eigenleistung im 14. Jahrhundert besang, schon vor der Rezeption des Tacitus. Der taciteische Ursprungsmythos blieb die nachhaltigste Quelle des deutschen Nationalismus; die deutschen Humanisten verknüpften ihn mit dem Motiv des reinen Adels, des unvermischten Blutes. Er stellte aber später im modernen Nationalismus einen ganz anderen Baustein dar, sowohl inhaltlich, aus dem Rassegedanken heraus, als auch in seiner Funktion als wichtigste Komponente der nationalistischen Biopolitik, die unter den Nazis völlig zur Ausrottungspolitik entartete.(10)

Die Vergötterung der »eloquentia« in der italienischen Renaissance

Die spätmittelalterliche, humanistische Verabsolutierung der Sprache in Italien, das heißt des Lateinischen und der eloquentia scheint ein einmaliges Phänomen in der Geschichte gewesen zu sein. Die Humanisten der italienischen Renaissance strebten als Ideal eine möglichst treue Imitation der Antike an, entwarfen aber ein »Orientierungssystem, das sie von ihren antiken Vorbildern entfernte« beziehungsweise das auf einem Missverständnis beruhte. Die Grundlage des alten Roms war die politische Macht, und sie sollte seine kulturelle Rückständigkeit gegenüber Griechenland wettmachen. »Im Italien der Renaissance war es umgekehrt … Die Humanisten bauten kulturelle Wälle gegen Norden, da militärische Wälle fehlten.« Als prominenteste Protagonisten der mittelalterlichen Sekundärzivilisation leiteten sie das italienische Prestige aus der kulturellen Abgrenzung von den Barbaren ab und verdeckten dadurch das Fehlen des Politischen, das heißt jener Kraft, auf der die Macht des alten Roms beruhte. Um die Schwächen dieser bloß abstrakten Abgrenzung zu verschleiern, verschärften die italienischen Humanisten ihre Barbarenrhetorik gegenüber Franzosen und Deutschen bis ins Extreme; Petrarca (1304–1374) machte »ganz Frankreich zum Brachland der Geschichte … zur gesichtslosen Barbarei«. Seine »Rhetorik der Eigentlichkeit« hob die formalen Kriterien der römischen Stil- und Gattungslehre in den Rang einer Bedingung von Wahrheit. Die Invektiven strukturierten eine kommunikative Situation, in der jeder mögliche Wettstreit zwischen Italien und dem Rest der Welt ausgeschlossen wurde. Diese absolute, wenn auch nur rhetorische Barriere heizte den Konkurrenzkampf aber gerade an.

Der Verfasser der erfolgreichsten humanistischen Schriften des 15. Jahrhunderts, Lorenzo Valla (1407–1457), liefert dafür ein einprägsames Beispiel. Für ihn lag die Überlegenheit Roms vor allen anderen antiken Reichen in der lateinischen Sprache, deren ununterbrochener Kontinuität er politische Bedeutung zuschrieb. Darin lebe das Imperium fort und nicht in der translatio imperii, das heißt dem politischen Anspruch auf das Kaisertum. Valla schreibt: »Zwar haben wir Rom verloren, haben das Reich und Herrschaft verloren … doch herrschen wir immer noch aufgrund dieser glanzvolleren Herrschaft der Sprache in einem großen Teil der Welt. Uns gehören Italien, Gallien, Spanien, Germanien, Pannonien, Dalmatien, Illyrien … denn überall dort ist das Römische Reich, wo die römische Sprache herrscht.«(11) Man kann es heute kaum fassen, dass solche Diskurse, die die eigene Überlegenheit in der überragenden Beherrschung der lateinischen Sprache angeben, den imperialen Anspruch durch vollendete Ästhetik begründen und sich zur Kennzeichnung der Barbaren der allseits bekannten Klischees aus der antiken Literatur bedienen, ihr Ziel nicht verfehlten.(12) Die Gültigkeit dieser Stereotypen lag über und vor aller empirischen Beobachtung.

Die »Antiromanitas« der deutschen Humanisten

Als Gemeinplatz gilt, dass die Entdeckung der Empirie die Geburtsstunde der neuzeitlichen Naturwissenschaften ist; zuvor verknüpfte man etwa die Medizin mit dem Wissen aus alten Büchern – eine Deutung von Krankheiten, die unabhängig von der Beobachtung des Körpers war. Aus den Texten und Quellen, die Hirschi in seiner Studie anbietet, geht einem ein Licht auf, wie sehr dies auch für das Gebiet der Geistes- und Sprachwissenschaften der Fall war: Was in alten Büchern geschrieben war, galt als absolute Wahrheit, und sie bestimmte die Kommunikation zwischen den Eliten in der Realität unabhängig von jeder möglicher Erfahrung.

Aus Hirschis Analyse der Geschichte des humanistischen Nationalismus in Deutschland lernen wir, dass die ersten deutschen Humanisten »das italienische Barbarenverdikt« über sich akzeptierten und sich »im Bewusstsein ihrer Unterlegenheit« der imitatio ihrer Vorbilder hingaben. Mit der typografischen Revolution änderte sich das, wie so vieles in der europäischen Gelehrtenwelt, und gegen Ende des 15. Jahrhunderts etablierte sich der Humanismus auch im Reich definitiv. Die »so genannte zweite Generation« der Humanisten wollte das Barbarenverdikt nicht mehr hinnehmen, und die Gelehrten werteten es zunehmend als absichtliche Ehrverletzung der Deutschen. Diese Neudeutung entfesselte »einen Abwehr- und Emanzipationsdiskurs«, dessen Leitmotive »die ›defensio patriae‹ und der ›honor nationis‹« waren. Damit wird die a priori geltende Hierarchie unter Nationen aufgekündigt; nunmehr soll die Rangordnung in einem Wettkampf der Nationen ermittelt werden. Unter so verwandelten intellektuellen Bedingungen entfalten die Diskurse eine Eigendynamik, die diverse Bedeutungsverschiebungen der alten Kernbegriffe bei der Eigen- und Fremdbezeichnung anstößt. Die Antiromanitas der deutschen Humanisten habe bereits, so Hirschi, die Metaphorik und die Kernvokabeln eines exklusiven Nationalismus entfaltet: Abschottung gegen ausländischen Einfluss, Freiheit und Ursprünglichkeit der Nation.(13) Damit wurden auch neue ideologische und politische Motive verbunden, die zusammen mit neuen »Techniken diskursiver Kollektivbildung« jene folgenreichen Innovationen schufen, die später für den modernen Nationalismus grundlegend wurden, freilich in komplett unterschiedlichem historischem Kontext.(14) Die Diskursgeschichte der Bedeutungswandlungen innerhalb der vormodernen und modernen Nationskonzepte und -ideologien liest sich wie angewandte Seinsgeschichte einer geschichtlichen Regionalontologie.

So zeigt sich, dass die Humanisten die moderne deutsche Nationskonstruktion motivationsgeschichtlich zwar beeinflusst haben, aber aus diesen (teilweisen) Kontinuitäten von Motiven und Begrifflichkeiten keineswegs kausale Zusammenhänge abgeleitet oder unterstellt werden können. Es ist so, als stünden die gleich klingenden Vokabeln und ähnliche motivische Zusammenhänge auf zwei verschiedenen Ufern des Epochenbruches zwischen Vormoderne und Moderne, umspült von der Brandung der jeweils unterschiedlichen geschichtlichen Realität. Konkret zeigt sich das daran, wie unterschiedlich die jeweiligen Funktionen des Nationsdiskurses in dem soziopolitischen Kontext ausgeübt werden: Der vorkonfessionelle humanistische Nationalismus ist eng verbunden mit der damaligen Reichspolitik, und sein Adressat sind Fürsten, an die appelliert wird, sich dem Ideal einer im überlegenen deutschen Geblüt gründenden Nationaldynastie zuzuwenden.

Das Geltendmachen der Differenz

Das Ziel der historischen Studie über Nationsdiskurse lag primär darin, zu zeigen, dass der moderne Nationalismus auf bestimmte vormoderne Topoi und Diskurstechniken zurückgreifen konnte, die bereits (teilweise) seit dem hohen Mittelalter entwickelt wurden; daher seien einerseits die Theorien überholungsbedürftig, die den Nationalismus ausschließlich als ein modernes Problem entwerfen, und andererseits seien jene Erklärungsmodelle unhaltbar, die unter Zuziehung willkürlicher Textstellen aus dem vormodernen Nationsdiskurs eine ethnisch-kulturelle Affinität für den aggressiven Nationalismus insbesondere der Deutschen, das heißt noch darüber hinaus, einen jahrhundertealten eliminatorischen Antisemitismus postulieren, weil sie die historische Differenz der Nationsdiskurse ignorieren.

Mit der kritischen Präsentation des imposanten historischen Materials bietet Hirschi die überzeugendste Widerlegung jener Ansätze, die das Phänomen des Nationalismus ausgehend von mehr oder minder ausdrücklichen ethnischen oder ethnisch-kulturellen Vorstellungen konzipieren. Es ist übrigens erwähnungswert, dass diese Topoi und die Techniken der Mythenkonstruktion trotz divergierender nationaler Entwicklungen ein europäisches Phänomen sind und man den Humanismus insgesamt eine mittelalterliche europäische »Bewegung« nennen könnte, von der zum Beispiel die kroatischen Humanisten stark erfasst wurden. Die Humanisten oder Latinisten vom ostadriatischen Festland entwickelten aus ihrer besonderen Lage einen ganz spezifischen Diskurs, mit mehr oder minder gleichen Bauteilen, dessen nähere Erforschung höchst aufschlussreich für die gesamte Diskussion über die Entstehung von europäischen (nationalen) Identitäten sein könnte und neue Gesichtspunkte bringen würde.

Durch die historische, diskursgeschichtliche Aufarbeitung des Nationsbegriffes erkennt man, dass die Varietät der Nationsdiskurse zu seinem Wesen gehört. So zeigt sich bezogen auf Abstammungs- und Geblütstheorien, die »in der Vormoderne ein universelles Mittel kollektiver Prestigebildung« waren, dass »die Vorstellung der Blutsreinheit nur in Deutschland zum Ausdruck der nationalen Einheit« wurde, in Italien hingegen, wo beinahe jede Stadt beansprucht, von den vornehmsten Römern abzustammen, und konkurrierenden Städten unterstellt, ihre Gründer seien Barbaren, treibt sie »die inneritalienische Konkurrenz an«.

Den schärfsten Unterschied zwischen Nationsvorstellungen bewirkt deren politische Funktion und Zielsetzung. Das ist bezogen auf die historischen Epochen geradezu evident – bereits an den oben angeführten Fragmenten aus dem vormodernen Nationsdenken. Doch auch die Nationskonzepte der Moderne unterscheiden sich in Abhängigkeit vom politischen Denken, in das sie eingebettet werden. Zentral ist hier der Begriff der Freiheit. Es zeigt sich, dass in der Konstruktion des Deutschseins die Freiheit eine Verbindung mit den Konstrukten der deutschen Blutsgemeinschaft, der Reinheit und Ursprünglichkeit eingeht und eine fatale Kontinuität der »deutschen Freiheit« begründet: »Deutsche dürfen nur von Deutschen beherrscht werden.« Dieser Leitgedanke wurde von den Humanisten im Rahmen der Rechtfertigung des imperialen Anspruchs formuliert; er bekommt in nachrevolutionären Zeiten und insbesondere im antinapoleonischen Widerstand einen kanonischen Wert.(15) Zu keinem Zeitpunkt aber wird der taciteische Freiheitsbegriff im Zusammenhang mit der »Darstellung der innenpolitischen Freiheit der Germanen« rezipiert – auch nach der demokratischen Revolution in Europa nicht. Er wird »zu einer metaphysischen Größe…, die über den irdischen Niederungen schwebt«, verklärt und seine Konstrukteure treiben ihm so »jeden politischen Gehalt aus«. Darin zeigen sich Elemente einer motivisch-punktuellen Kontinuität, so dass man sagen kann, dass der moderne Nationalismus sich der rudimentären Vorprägungen bedient und sie im anderen geschichtlichen Kontext und aus anderen Triebgründen belebt. »Hauptantrieb des modernen deutschen Freiheitsdiskurses« lag in der Auflehnung gegen die demokratischen Gebote der Moderne – ein Problem, mit dem der humanistische Nationsdiskurs nichts zu tun hatte. Die unpolitische Freiheit verstanden als kollektive Eigenschaft, die zur nationalen Autarkie berechtigt, versperrt den Weg zur politischen Freiheit, das heißt einem Diskurs, der die Freiheit als Ordnungsprinzip der Gesellschaft im Sinne der liberalen Demokratie und Rechtsgleichheit begründet.

Auch heute könnte man auf den Unterschied in Nationenkonzepten achten, der sich aus dem Stellenwert ergibt, den jeweilige Konstruktionen des nationalen Daseins der Freiheit und dem Politischen überhaupt einräumen. Dann hätte man nicht nach dem Fall der Mauer in westeuropäischen Zentren pauschal von neuen Nationalismen gesprochen und sie in die Nähe des Tribalismus gerückt. Das spätmittelalterliche Wetteifern der Nationen um die Ehre eröffnete nämlich eine Diskursdynamik, die aus sich selbst alle Völker erfasst und sie zur Teilnahme bei der gleichberechtigten Erfindung und Findung ihrer nationalen Identitäten innerhalb der europäischen Gemeinschaft der Völker zieht. Der Wettkampf trägt in sich das Prinzip der Gleichberechtigung, was sich erst in der Moderne offenbarte, als in Europa immer mehr ungebetene Anwärter wahrgenommen werden konnten, die sich als Nation vorstellten. Inzwischen aber war das Privileg, eine Nation zu sein, selbst zu einer Ehrensache geworden, und diejenigen Völker, die vorherrschende Diskurse entfalteten, die ihnen im produzierten selbstreferentiellen Kommunikationssystem suggerierten, gelungene Nationen zu sein, entwickelten zugleich verschiedene Strategien, anderen Völkern diese Ehre oder dieses Recht abzusprechen oder zu relativieren. Früher kam es dabei auch zur Gewaltanwendung. Heute freilich sind die Strategien intellektueller Art und konstruieren eine stillschweigende Rangordnung der Nationen. Der ideologische Überbau der imaginierten eigenen Überlegenheit, die das Prinzip der Gleichberechtigung von Nationen untergräbt, besteht in der fraglosen und selbstverständlichen Geltung der Differenz.

1

Caspar Hirschi: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen (Wallstein Verlag) 2005.

2

Das Buch ist sehr übersichtlich und geradezu didaktisch aufgebaut; es ist gegliedert in fünf große Kapitel, die alle mit einer Einleitung »Aufbau und Argumentation« zu ihrem jeweiligen Thema beginnen und den Lesern helfen, sich in der Fülle des Materials zurechtzufinden.

3

In Byzanz, dem Oströmischen Reich, verliefen manche Prozesse ähnlich, aber die Reichskontinuität, die nachhaltige zentralistische Ordnung und Jahrhunderte überdauernde Einheit der religiösen und weltlichen Macht schufen eine andere gesellschaftliche und rechtliche Realität.

4

Siehe Dunja Melcic: »Versunkene Brücken. Islam in Europa: diskursgeschichtliche Ansätze«, in: Kommune 6/2006, S. 68 ff.

5

Das Wort ist all- und urslawisch; abgeleitet von nem- (nemьcь) = sprachlos (lat. mutus) = leise; es ist also verbreitet von Russisch (нéмец) bis Kroatisch (nijemac) und kommt darüber hinaus entlehnterweise in Albanisch, Romanes, Rumänisch, Ungarisch (und sogar Türkisch, das neben alemança auch nemçeli kennt) vor. Es gibt freilich auch andere Vorschläge zur Etymologie der Bezeichnung, z. B. dass Nemьcь aus dem Namen des Keltenstammes Nemetes abgeleitet wurde, vergleichbar der frühen deutschen Bezeichnung für die Slawen als Wenden, die aus dem Namen des Keltenstammes Venetes abgeleitet wurde. Wie und ob sich eine von allen Etymologen akzeptierte Herleitung etabliert, kann den Spezialisten vorbehalten bleiben. Darüber hinaus ist aber der Bezug zum Sprechen beachtlich – sowohl in der Eigen- wie in der Fremdwahrnehmung; daher muss die Bezeichnung präzisiert werden, denn sie schreibt keinesfalls einer Gruppe die Eigenschaft von Stummen zu, sondern meint: Menschen, die die slawische Sprache nicht verstehen, noch genauer, die für diese Sprache taub sind. In Relation dazu sei erwähnt, dass die Bezeichnung Deutsch (Mhd. Tiutsch) auf das gotische þíuda zurückgeht und Volk meint, aber im Sinne von Menschen, die die Volkssprache (also eigene Sprache) sprechen. Ähnlich steht die Eigenbezeichnung der Slawen in der etymologischen Nähe zu slovo (»das Wort«) – so die vorwiegende Deutung – und bezeichnet Menschen, die solche Worte sprechen.

6

Hirschi setzt sich hier kritisch mit Thesen des Berliner Politologen Herfried Münkler auseinander, der den Ursprung des humanistischen Nationsdiskurses allein aus inneruniversitären Konflikten zu erklären versucht und die geschichtliche Differenz der Epochen vernachlässigt.

7

... wie sie in der Verurteilung und Verbrennung der tschechischen Reformatoren Johannes Hus und Hieronymus von Prag nicht dramatischer zum Ausdruck kommen konnten.

8

»Der römische Kaiser nationalisierte hier christliche Feindrhetorik. Der eigentliche und ursprüngliche ›Erbfeind‹ war der Teufel. Nicht nur sprachlich, sondern auch dogmatisch stand der ›Erbfeind‹ in nächster Nähe zur ›Erbsünde‹. Wenn die Türken in rhetorischen Abwehrschlachten als Erbfeind der Christenheit erschienen, blieb das Antlitz des Teufels sichtbar.«

9

Man fühlt sich hier an Kosellecks Analyse der vorrevolutionären Krisisrhetorik erinnert, die zeigte, wie die rhetorische Zuspitzung der Moralkritik die politischen Forderungen in einem Maß vorantrieb, das niemals erfüllt werden konnte.

10

Im letzten Kapitel arbeitet Hirschi sehr überzeugend die wesentlichen Unterschiede bezüglich der modernen nationalistischen und rassistischen Ideologie heraus und zeigt, wie unhaltbar deterministische Deutungen à la Goldhagen und ähnliche Theorien sind, die vermittelst einer »rückwärts gewandte[n] Teleologie« direkte Bezüge zwischen der nationalsozialistischen Doktrin und vormodernen Nationsdiskursen herstellen.

11

Seine höchste Aufgabe sah Valla in der Befreiung der Sprache »von barbarischem Unrat«, die er insbesondere den »Gothi« bzw. der Scholastik als »gotischer Wissenschaft« anlastete.

12

Die Franzosen waren seit Caesar verweichlichte Semibarbaren, die Deutschen hatten den Status der ganz rohen Barbarei und kollektiven Wildheit.

13

So wettert Aventin gegen »welsch sitten«, die »verderbet ganz Teutschland, das solt frei sein«, d. h. ein König, »ain guter alter Teutscher«, muss es »erledigen von den Walhen und Franzosen, die verdempften mit iren angebornen lastern die alten tugent, glaub und trauen der Teutschen«.

14

Das ist an erster Stelle »ein nationalistischer Freiheitsbegriff, der neben Politik auch Kultur und Gesellschaft einschließt und die Autarkie der Nation zur agonalen Kategorie macht«; dann eine »Feindrhetorik, die religiöse Feindbilder säkularisiert und Seuchenvokabeln metaphorisch ausbeutet« und »der Kult reiner Ursprünglichkeit«, die für das nationale Territorium beansprucht, für die exklusive genetische Ausstattung und besondere sittlich-moralische Rechtschaffenheit behauptet wird.

15

»Schon im antinapoleonischen Widerstand wird hinter dem Abwehr- und Vertreibungsaufruf ein antidemokratischer und antiegalitärer Tenor laut … Je länger, desto mehr dient die deutsche Freiheit … der Untermauerung eines nationalen Sonderwegs, der jenseits von Demokratie und Rechtsgleichheit verlaufe. Dieser motivgeschichtliche Strang führt von Fichte direkt zu den intellektuellen Fürsprechern des Nationalsozialismus.«

 

Kasten:

Vom Nutzen des methodischen Fortschritts

Hirschi eignet sich für seine Fragestellung den methodischen Ansatz des so genannten radikalen Konstruktivismus von Siegfried Schmidt an, und das erscheint in diesem Rahmen angebracht. (Ob man im engeren philosophischen Sinne die konstruktivistische Theorie Schmidts in allen Aspekten gutheißen soll, steht auf einem anderen Blatt.) Die Hauptsache aber ist, wie dieser Ansatz umgesetzt wird, also methodisch Früchte der Erkenntnis trägt. Hirschis Kritik am inkonsequent umgesetzten Konstruktivismus (der sich »rasch« in »substantialistische Untiefen« verflacht) zeigt sowohl im theoretischen Aufriss wie in der Einzelkritik an konkreten Phänomenen, dass die angelsächsischen Nationalismustheorien den konstruktivistischen Ansatz isoliert aufnehmen, also nur auf das Phänomen der Nation als ein Konstrukt anwenden. Dieser – nennen wir ihn – partikuläre Konstruktivismus birgt in sich leicht einsehbare Schwächen. Bezeichnet man das Phänomen der Nation als Konstrukt, ist damit alleine – in der resoluten Diktion des jungen Autors – »noch nichts gesagt« worden.(1) Denn eine konstruktivistische Methode wird erst fruchtbar, wenn sie etwas leistet, das heißt »die Herausbildung, Durchsetzung und Wandlung der Nation zu erklären vermag«. Erfreulicherweise gelingt Hirschi genau dieses, indem er sich der Diskursanalytik (im Sinne der sozialwissenschaftlichen Analyse von Diskursen in Anlehnung an Reiner Keller u. a.) im Umgang mit den historischen Quellen bedient, den jeweiligen politischen und sozialen Kontext berücksichtigt (in Anlehnung an soziologische Ansätze und Ergebnisse der berühmten phänomenologischen Studie von Berger und Luckmann) und die gesellschaftliche Funktion von Diskursen und Ideologien im systemtheoretischen Sinne aufklärt.

Dieses komplexe, mehrspurige, methodische Konzept bringt den eigentlichen Durchbruch, weil mit ihm der Nationalismus »sowohl als Diskurs als auch als Ideologie beschrieben« und so dessen Mehrgestaltigkeit und Wandlungsfähigkeit freigelegt wird. Nationale Ideologien sind ebenso wie Identitäten Konstruktionen, und zwar ganz gleich, ob sie als »neue«, »alte«, »große« oder »kleine« Nationen gelten oder gedacht werden. Aber das heißt nicht, dass sie aus dem Nichts erdacht und konstruiert werden. Dem Verständnis dieser Prozesse und ihrer Struktur ist die Studie Hirschis und ihre diskursgeschichtliche Methode förderlich; denn sie ermöglicht Einsicht darüber, wie sich nationale Ideologien auf konstante Leitmotive der jeweiligen Nationsdiskurse beziehen und dabei variable soziopolitische Verwendung finden. Wenn man die Nationskonzepte ausgehend vom Diskursbegriff erschließt, dann kommt »die Dynamik der fortwährenden Konstruktion, Dekonstruktion und Neukombination des Nationalen in Abhängigkeit von sozialem Wandel« zum Vorschein. Somit bringt die diskursbegriffliche Methode entscheidende Vorteile für das Verständnis des Phänomens Nation und den mit ihm eng verbundenen Sonderformen. Wenn man davon ausgeht, dass »Diskurse Wirklichkeit konstruieren« – so wie Luhmann davon ausgeht, dass Medien »Realität erzeugen« –, dann stehen die nationalen Ideologien dazu wie eine Art Überbau, eine Hypostasierung der produzierten Inhalte in einem postulierten allgemein gültigen Sinnhorizont. Die diskursiv produzierte Realität wird durch den ideologischen Überbau wirksam als eine von Natur aus gegebene Wirklichkeit interpretiert und erzeugt ein selbstreferentielles System der Kommunikation. Man könnte auch sagen, ausgehend von Hirschis Ansatz: Nationale Ideologie ist eine Selbstdefinition des Eigenen, die zugleich Welt bedeutet, den Sinnhorizont in Bezug auf die vielen Anderen mitdefiniert.

Dunja Melcic

1

Zuweilen scheint es so, als würden manche Autoren einige Nationen für konstruiert und andere für – sagen wir es unpolemisch – nicht konstruiert halten. Charakteristisch dafür scheint mir die Studie des britischen Sozialhistorikers John B. Allcock, Explaining Yugoslavia, New York 2000.

Aus: »Kommune. Forum für Politik, Ökonomie, Kultur«, Ausgabe 2/2007