Xaver Brenner

Leitkultur oder Weltkultur?

Der moralischen Kriegsführung durch Absonderung und Gut-Böse-Muster widersprechen

 

 

Es ist wieder Mode geworden, vom Kulturverfall zu reden. Auf der Klaviatur unseres Unbewussten führt die Rede vom Verfall wie von selbst in die Untergangsstimmung hinein. In Deutschland war das immer gefährlich. Meist kamen die Untergangsrufe aus dem Lager derer, die unter Kultur immer nur ihre Weltanschauung oder gar nur die eine christliche Religion verstanden. Ihre Kultur, das ist für sie eine Eigentumsformel, um die eigenen Schäfchen einzugrenzen. Der gute Hirte wird so zum Gefängniswärter des Abendlandes. Schon das ist ein Armutszeugnis. Wer es nötig hat, sich einzumauern, der traut sich und den Seinen nichts zu. Kultur ist Geist, und Geist lässt sich nicht begrenzen (Schiller). Im Windschatten der Globalisierung gehen wir heute auf eine Weltgemeinschaft zu. Information, Austausch von Wissen, Begegnung und Befruchtung der unterschiedlichsten Kulturen, Weltanschauungen und Religionen sind eine weltweite Realität. Der Einsturz alter Grenzen ist nicht der Anfang vom Ende, sondern das Ende einer jammervollen Zeit, aber auch der Anfang neuer Herausforderungen und ganz gewiss auch neuer Unsicherheiten.

Eine neue Freund-Feind-Formel?

Wer auf die neuen Unsicherheiten nicht gleich mit der Formel vom »Untergang des Abendlandes« (Spengler) antwortet, der redet heute von »Leitkultur« oder »deutscher Leitkultur« (Merz), weil Deutschland oder »Europa ohne Identität« sei. Im gleichnamigen Buch prägte Bassam Tibi 1998 den Begriff einer »europäischen Leitkultur«. Ihm ging es in der Einwanderungsdebatte um kulturelle Standards der europäischen Aufklärung, die jeder, der nach Europa einwandert, zu akzeptieren habe. Der 11. September 2001 hat diese Debatte verschärft. Aus der Frage um die Integration von Menschen, die aus anderen Kulturen in eine offene Gesellschaft einwandern, wurde die Frage nach der Bedrohung durch diese Einwanderer. Wer einwanderte oder schon eingewandert war, sah sich urplötzlich dem verschärften »Kampf der Kulturen« ausgesetzt. Dabei wurde sowohl der Unterschied zwischen Zivilisation und Kultur verwischt (Huntington) als auch Kultur mit Religion gleichgesetzt.

Während Huntington mit seiner These vom »Zusammenstoß der Zivilisationen« (Clash of Civilizations)(1) nur nach einer neuen Konzeption für die amerikanische Außenpolitik suchte, hat er doch eine neue Freund-Feind-Formel erfunden. Sie baut nicht mehr auf den Gegensatz feindlicher Ideologien, sondern auf den konkurrierender Religionen. Das ist der Pferdefuß dieser Theorie. Insbesondere in den Vereinigten Staaten gehen die Neokonservativen davon aus, dass sich unsere westliche Kultur mit der christlichen Religion deckt. Entsprechend holzschnittartig wird damit der gesamte Islam als gefährliche Religion einer orientalischen Kultur zugerechnet, die den christlichen Westen bedroht.

Ist Kultur gleich Religion?

Tatsächlich ist die Kultur im Orient wie im Okzident eine alles umfassende Lebenswelt, weit über die Sphäre des Religiösen hinaus. Doch völlig unbeeindruckt von unserer Säkularisierung suchen heute wieder christliche Fundamentalisten unsere Kultur mit ihrer Religion gleichzusetzen. Europa wird umgedeutet zum »christlichen Abendland« seligen Angedenkens. Seit dem Westfälischen Frieden 1648 dachten wir, die Religionskriege hinter uns zu haben. Religion sei endlich Privatsache! Unsere Kultur begann damals den langsamen Abschied von einer Geschichte der Kreuzzüge, der Hexenverbrennungen und der religiösen Intoleranz! Wir dachten, dass die Vernunft – zumindest in den demokratischen Verfassungen – über die religiöse Abgrenzung in unseren Gesellschaften gesiegt hat. Nein! Ausgehend von den USA taucht nun urplötzlich auch im Vatikan die Idee einer »Christlichen Leitkultur« wieder auf.

Und im Orient? Dort arbeiten die islamischen Fundamentalisten an derselben Gleichsetzung. Doch auch dort gibt es einen oft sehr verdeckten Kampf um die Trennung von Religion und Gesellschaft. Wir ignorieren diesen schwierigen Prozess, weil wir unter Islam immer nur die eine religiöse Umma (Gemeinschaft) verstehen. Tatsächlich befinden sich die islamischen Gesellschaften bereits in ihrer Säkularisierung oder kurz davor. Die Trennung von Religion und Gesellschaft in der denkbar brutalsten Form eines Religionskrieges findet gerade im Schatten des Irakkriegs der USA zwischen Schiiten und Sunniten statt.

Warum dieser Rückfall?

Zunächst muss vom harten Kern des monotheistischen Dogmas (Judentum, Christentum, Islam) gesprochen werden. Er besteht im absolutistischen Anspruch zu glauben, die Wahrheit zu wissen. Zu Recht hat Hermann Lübbe in seinem Buch über Säkularisierung darauf hingewiesen, dass jede Gesellschaft mit Hilfe des Staates die Religion vor ihrem eigenen absolutistischen Anspruch schützen muss. Sie selbst kann es nicht. Nur die Säkularisierung kann die Religion entwaffnen und ihr den geschützten Raum ihrer spirituellen Betätigung zuweisen. Jeder Religiöse und Nichtreligiöse genießt dort den Schutz vor der Hybris jeder anderen Religion. Niemand darf in den privaten Bereich religiöser oder nicht-religiöser Überzeugungen mit Macht eindringen, weil umgekehrt gleichfalls niemand aus religiöser Überzeugung einen anderen Menschen zu seinem Glauben oder seiner Weltanschauung zwingen darf. Wie wir aus schrecklicher Erfahrung im Dreißigjährigen Krieg gelernt haben, sind die Religionen zu dieser Selbstbeschränkung alleine nicht fähig. Die Gesellschaft muss als Friedensstifter durch Verfassung und Staat eingreifen.

Nun stellt sich die Frage: Warum haben wir es heute mit einer Renaissance des religiösen Machtanspruchs zu tun? Warum der Rückfall in die Idee einer »europäischen Leitkultur«, die sich am »christlichen Abendland« orientiert? Warum wird trotz der segensreichen Entwaffnung der christlichen Religion auch in Europa wieder der Versuch gemacht, uns auf die Kultur des Christentums einzuschwören? So geschehen in der Debatte um eine europäische Verfassung, in deren Präambel der Hinweis auf die »christlichen Wurzeln Europas« verankert werden sollte.

»Wessen das Land, dessen (ist) die Religion

(Cuius regio, eius religio)«

Der Satz beschreibt die Feudalisierung des Glaubens in seiner Bindung an den Boden. Nach dem Grundsatz des Augsburger Religionsfriedens (1555) musste ein Protestant ein katholisches Territorium verlassen, und ein Katholik umgekehrt ein protestantisches oder sie mussten den Glauben wechseln.

Religiöse Territorien sind jedoch nicht nur ein Merkmal von Glaubenskriegen. Sie gehören zur Grundausstattung aller monotheistischen Religionen. Der Monotheismus dachte immer in der Raumkategorie: »Macht euch die Erde untertan!«(2) Die erste Moralisierung dieser These findet sich in der Geschichte Abrahams und der Vertreibung seiner Zweitfrau, der Ägypterin Hagar, mit dem erstgeborenen Sohn Ismael in die Wüste. Sara, die Herrin, darf hingegen mit Abrahams zweitgeborenem Sohn Isaak bei den Herden im guten Land bleiben.(3)

Die noch folgenschwerere Moralisierung des Verhältnisses von gutem und bösem Land erfolgt jedoch erst mit der Zwei-Reiche-Lehre des Hl. Augustinus.(4) Die Erde sei das Reich der Räuberbanden (Staaten). Hier herrsche das Böse. Der Himmel sei das Reich der Seligen. Dort herrsche Gottvater, das Gute. Die Moralisierung des Raumes folgt der Idee, dass die Erde der Ort der Bewährung sei. Auf ihr gebe es den Zugang zur Hölle, aber auch den Aufgang zu den geistigen Territorien des Paradieses und des Himmelreichs. Unschwer fällt auf, wie hier in moralische Territorien übergegangen wird. Weil aber Himmel und Hölle Territorien jenseits unserer Erfahrung sind, bleibt die Glaubensgewissheit immer unsicher. Deshalb wurde die fehlende Erfahrung des jenseitigen Raumes über die moralischen Kategorien von Gut und Böse mit unserer Kenntnis über irdische Territorien verbunden. Wer hier gut war, bekam einen guten Platz dort, und umgekehrt. Mit dieser trickreichen Gleichsetzung gewinnt ein religiöses Phantom den Rang eines wirklichen Phänomens. Insbesondere die Menschen der Feudalzeit konnten mit der Verräumlichung von Moral als Aus- und Eingrenzung des bösen oder guten Landes etwas anfangen. Das Böse wird durch die Auslöschung des bösen Körpers oder bösen Landes vernichtet.(5)

Bushs Achse des Bösen hat hier ihre Wurzeln. Sie sucht nach dem Muster des guten und bösen Landes das Andere auszugrenzen. Das gute Territorium ist dabei »God’s own country«, das Land derer, die im rechten christlichen Glauben leben. Mit diesem Konzept hat die evangelikale Rechte innerhalb der Republikanischen Partei Bush zur Präsidentschaft verholfen.(6) Und nach dem 11. September 2001 diente die religiöse Konzeption der »Abgrenzung« des guten Landes vom schlechten zur Legitimierung der Festung Amerika und des Angriffs auf den fernen Feind in Afghanistan und Irak. Isolationismus und Expansionismus ergänzen sich in diesem Konzept, weil das »Gute zu Hause« geschützt werden muss durch den »Krieg« vor dem fernen Bösen, dort in den anderen Staaten. Dass al-Qaida eine »transnationale Organisation«(7) ist, die über keinen Staat verfügt, wird biblisch gedeutet. Das Böse lebt demnach immer schon im »Wüstenland« (wasteland), ausgegrenzt von den Gerechten. Daraus ergibt sich dann der Kriegsgrund für den globalen Leviathan im hobbesschen Sinne, die USA, im Alleingang für Ordnung zu sorgen. So hat Robert Kagan den Irak-Krieg als Ergebnis des »amerikanischen Realismus« beschrieben ohne zu bemerken, dass seine Grundlagen eigentlich ganz unrealistisch auf den Ideen des Alten Testaments beruhen.(8) Die christliche Religion in ihrer alttestamentarischen Form wird ganz gegen das Liebesgebot Jesus plötzlich wieder zur Legitimierung gerechter Kriege benutzt.

Das wieder erstarkte Russland unter Putin verfährt ähnlich. Es sucht die Nähe zur russisch-orthodoxen Kirche, um den Kampf in Tschetschenien als Krieg gegen die »Wahhabitische Expansion« darzustellen. Das ist aber nur eine Seite der Politisierung der Religion in Russland zum Zwecke der Machtsicherung. Die russische Erde als heilige steht ganz im Zeichen der »Wiedergeburt des Vaterlandes«. Bei der Inauguration Putins als Präsident Russlands am 2. Mai 2000 sagte der Patriarch von Moskau, Aleksij: »Möge Gott, der Herr, unserer Heimat, dem großen Russland, Eintracht, Blüte und Wohlstand schenken.« Woraufhin Putin antwortete: »Gerade ihr (der russisch-orthodoxen Kirche) kommt nach dem langjährigen Unglauben, nach sittlichem Niedergang und Gottesfeindlichkeit eine gewaltige Aufgabe zu, die russischen Gebiete auf geistigem Wege zu vereinigen.«(9) Auch hier haben wir es mit einer Renaissance der Politisierung der Religion zu tun. Sie dient, wie die ermordete Regimekritikerin Anna Politkowskaja erklärte, zur Verklärung der Politik. »Zar Wladimir – unfehlbar und messianisch«, so lautete einer ihrer letzten Artikel.(10) Tatsächlich praktiziert Russland gerade im Kaukasus eine »ethnokratische Nationalitätenpolitik ... zur Schaffung ›ethnisch reiner Territorien‹«.(11) Ihren höheren Glanz erhält diese Politik heute durch die religiöse Begründung für das geheiligte Russland.

Wir erleben gegenwärtig den erneuten Missbrauch der Religionen zu politischen Zwecken. Unter der oberflächlichen These von der Renaissance der Religionen ist dieser Missbrauch das eigentliche Problem. In den USA, in Russland, aber auch in Persien und Israel, hat eine Politisierung der monotheistischen Religionen stattgefunden. Wir bezeichnen diese Bewegung als Fundamentalismus. Doch wir verstehen nicht, dass es sich im Kern um die erneute Beteiligung der Religionen an der Macht großer Imperien oder Staaten handelt. Als Mittel zur Durchsetzung dieser religiös-politischen Ziele dient die Bestimmung von Gut und Böse entlang dem Feindbild moralischer Territorien. Der Griff nach der Macht aber ist für die Spiritualität des Religiösen verhängnisvoll. Er unterwirft die Privatsphäre des Glaubens der politischen Sphäre der Macht.

Die Ethik kennt keine moralischen Territorien, die sich am Körper oder Land anderer Menschen nach dem religiösen Muster von Gut-Böse festmachen. Für die philosophische Ethik gilt das Gebot der Vereinigung mit dem Anderen. Die Suche nach der Gemeinsamkeit, nach der Liebe zum Geistigen, die uns alle verbindet. Mit der Vernunft (gr. nous) reicht die philosophische Ethik dem Anderen die Hand. Für sie gelten Verfassung und Friedensgebot in den Gesellschaften. Während die Staaten untereinander leider immer noch in der Absonderung leben, was einem möglichen Kriegszustand entspricht. Kant hat in der »Idee zum ewigen Frieden« die Vorstellung eines Weltbürgerrechts (Völkerrechts) entwickelt, das den Kriegszustand beseitigen soll. Ein Instrument dazu wäre eine Weltverfassung unter der Schirmherrschaft der UNO. Sie würde garantieren, dass für alle Menschen der einen Welt der Maßstab der Vereinigung gilt, wie er heute schon in den demokratischen Verfassungsstaaten oder für Europa Gültigkeit hat.

Diese Idee setzt der Territorialisierung des Geistigen in die böse Welt dort und die gute Welt hier ein Ende. Auch, ja vor allem, in der Politik einer Weltgesellschaft. Immer wieder erleben wir aber heute, dass Kriege nach Kategorien ausgetragen werden, die der moralischen Kriegsführung der mittelalterlichen Absonderung folgen (Bush). Ganz offenbar sind wir damit zur Quelle der religiösen Intoleranz vorgestoßen. Sie wurde im Monotheismus erfunden und zur moralischen Trennung des Guten und des Bösen, analog zur territorialen Trennung von Himmel und Erde. Ihre Menschenverachtung in den Religionskriegen entspringt mithin einer Rückübertragung der moralischen Territorien auf die Erde.

Weil die religiösen Fanatiker das Paradies dort wollen – von dem sie aber nicht wissen, ob es wirklich existiert –, verwandeln sie die Erde in die Hölle. Wenn heute fundamentalistische Muslime der al-Qaida in Moscheen Bomben werfen, während dort Gläubige unter dem Zeichen des Friedens (Salam) gerade zu Allah beten, dann praktizieren die Bombenwerfer das Projekt der geistigen Territorialisierung. Sie haben die Hölle geschaffen im ungewissen Glauben, als Glaubenskrieger ins Paradies zu kommen. Dies ist der brutalste Kern der religiösen Intoleranz. Die militärische Entwaffnung der Terroristen ist eine Sache. Ihre geistige »Entwaffnung« wird jedoch nur gelingen, wenn die Religionen vom Griff nach der staatlichen Gewalt lassen. Der Nutzen der Säkularisierung wird den Gläubigen einleuchten, denn sie würden dann erfahren, dass sie dadurch eine Bedrohung verlieren. Der Andere wird dann kein feindliches religiöses Territorium sein, das sie bedroht, weil er erfährt, dass Kultur kein Feld des Krieges und der Abgrenzung, sondern ein Ort der Begegnung und des Austausches ist.

Und wir, der Westen, wir Abendländer, wohin gehen wir?

Haben wir in unserer Kultur den religiösen Absolutheitsanspruch überwunden? Papst Benedikt XVI. ist gegenwärtig dabei, seiner Kirche einen Bärendienst zu erweisen, indem er die Linie des II. Vatikanischen Konzils verlässt und wieder nach der Macht der einen Kirche im Zeichen der einen Wahrheit greift, die nur die eine Institution, nämlich die seine, aussprechen kann. Benedikt glaubt, in der Dummheit der Abendländer einen wohlfeilen Verbündeten gefunden zu haben. Tatsächlich haben wir den allgemeinen Verfall der Moral, den Nietzsche als Nihilismus diagnostiziert, noch zu wenig als Aufforderung verstanden, die Lücke durch die Weiterentwicklung unserer Kultur und hier insbesondere der Philosophie zu schließen. Was die Aufklärung in der Tat zerstört hat, das war die religiöse Moral, die sich als Wahrheit darstellte und die doch immer nur mit der territorialen Fata Morgana des Himmels und der sehr realen Territorialisierung religiöser Macht gegen Andere hier auf der Erde operierte. Wir dürfen nicht in die Falle der Moral einer christlichen Leitkultur gehen, die uns trennt. Wir müssen die Ethik gewinnen, die eben diese Moral entwaffnet, uns aber über religiöse und kulturelle Grenzen hinweg zusammenführt.

Wer gegen den Werteverfall auf das Leitbild einer »christlichen Leitkultur« setzt, der geht in die Falle eines neuen christlichen Fundamentalismus. Die jüngsten Erfahrungen der USA vor Augen müssten die europäischen Christen, im Interesse ihres Glaubens, von der Versuchung lassen, nach politischer Macht zu greifen. Es ist die Aufgabe des Verfassungsstaates den Frieden zu garantieren. Und die Aufgabe denkender Menschen den Frieden zu gewinnen, den wir nur erreichen, wenn wir von unseren Absolutheitsansprüchen lassen.

Eine Welt-Kultur ist ein Bau, in dem viele Kulturen, Überzeugungen und Religionen Platz haben, wenn sie nur alle davon überzeugt sind, dass mit der Hierarchisierung in diesem Bau niemandem gedient ist. Über die Bedingungen, wie dieser Bau im Inneren organisiert wird, kann trefflich gestritten werden. Bassam Tibi hat einige wesentliche genannt: »Das Primat der Vernunft vor religiöser Offenbarung, das heißt vor der Geltung absoluter Wahrheiten; individuelle Menschenrechte (also nicht Gruppenrechte), zu denen im besonderen Maße die Glaubensfreiheit zu zählen ist; säkulare, auf der Trennung von Religion und Politik basierende Demokratie; allseitig anerkannter Pluralismus sowie ebenso gegenseitig geltende Toleranz, die bei der rationalen Bewältigung von kulturellen Unterschieden hilft.«(12)

Sein Fehler: Bei Lichte besehen sind dies Bedingungen, die nicht für eine »europäische Leitkultur« gelten. Es sind Elemente, die eine Leitkultur geradezu auflösen, weil sie universell gelten.

1

Samuel P. Huntington: Zusammenstoß der Kulturen (Clash of Civilization), München 1996.

2

Die Bibel, Buch Genesis 1, 28. Die Einheitsübersetzung der Bibel schreibt heute: »Seid fruchtbar und mehret Euch, bevölkert die Erde und unterwerft sie euch, und herrscht über ...«

3

Die Bibel, Buch Genesis 21, 9–21. Ismael, der Stammvater der Araber, wird symbolisch in die Wüste getrieben. Die versuchte Tötung des Erstgeborenen folgt dabei dem vorabrahamitischen Opferritus bei den Kanaanitern. Der Zweitgeborene darf nach diesem Ritus überleben. Die Opferung des Sohnes durch den Vater ist aber theologisch problematisch. Schon deshalb wird Ismael durch den »Engel Gottes« gerettet. »Er wuchs heran, ließ sich in der Wüste nieder und wurde ein Bogenschütze.« Im Koran wird diese Geschichte von Abraham und seinen beiden Söhnen so erzählt, dass am Ende Ismael das Opfer war, das Abraham für seinen Gott töten sollte. Die Sure 37, 99–114 ist dabei nicht eindeutig. Die Mehrzahl der muslimischen Religionsgemeinschaften sieht Ismael als das geforderte Opfer, für das Allah dann an seiner Stelle ein Schaf zum Opfer gibt. Nur die Aleviten beziehen das Opfer nicht auf Ismael, sondern auf Isaak, den Stammvater der Juden. – Siehe: Monika und Udo Tworuschka: Islam Lexikon, Opferfest (Großer Beiram), Düsseldorf 2002, S. 162.

4

Augustinus: Der Gottesstaat, Stuttgart 1947, S. 244. Insbesondere im Kap. II. 1. »Einheit der guten und Einheit der bösen Gemeinschaft in Geister- und Menschenwelt« entwickelt Augustinus die Lehre der zwei Territorien in einem. Sie müssen sich im Laufe des Lebens trennen, wie sich »die beiden Staaten« (IV. Kap.) als »höchstes Gut und größtes Übel« trennen. Daraus ergibt sich am Ende »der Begriff des wahren Staates« (V. Kap. 6.), dem die »Gottesverehrung als Grundlage des Staatswesens« (V. Kap. 7.) zugrunde liegt.

5

Foucault hat in verschiedenen Studien den Zusammenhang der Wahrheitsproduktion anhand von Beichte und Bestrafung durch die Inquisition am Körper nachgewiesen. Seit dem Laterankonzil von 1215 entwickelt die katholische Kirche eine Reihe von Techniken, die alle den sündigen Körper zum Gegenstand haben. Damit ist die Differenz von Gut und Böse im »Geständnis« nicht nur ein geistiges Phänomen, sondern hat eine räumliche Dimension am Körper gefunden. – Michael Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 1983, S. 75 ff.

6

Gerhard Spörl: »Die Leo-Konservativen (Intellektuelle)«, in: Spiegel 32/03, S. 142. Spörl beschreibt die Gruppe um den deutsch-jüdischen Philosophen Leo Strauss als einen »geheimnisvollen Zirkel von Beratern und publizistischen Helfern um den US-Präsidenten George W. Bush«. Einen guten Überblick über die Strategie und den Einfluss der christlichen Rechten und ihrer Netzwerke in den USA gibt Michael Minkenberg: »Die Christliche Rechte und die amerikanische Politik von der ersten bis zur zweiten Bush-Administration«; in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zum Parlament, 46/03, S. 23–32.

7

Hans Vorländer: »Die Wiederkehr der Politik und der Kampf der Kulturen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 52–53/2001, S. 4.

8

Kagan Robert: Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Berlin 2003, S. 68. »Die Europäer haben, befreit von den Gesetzen und der Mentalität der Machtpolitik, ihre eigene Ordnung entwickelt. Die Europäer haben die hobbessche Welt der Gesetzlosigkeit verlassen und sind in die kantische Welt des ewigen Friedens eingetreten.« Diese Gegenüberstellung unterschlägt die Frage nach dem eigenen Standpunkt. Kagan, wie seinen Kritikern, ist entgangen, dass der Strategie der USA in diesem Krieg das religiöse Prinzip des guten Territoriums zugrunde lag. Die vorbeugende Kriegsführung (preemption) unterliegt nicht dem rationalen Prinzip der »Vereinigung« (Kant) demokratischer Staaten gegen einen undemokratischen Staat. Al-Qaida ist kein Staat und verfügt über kein Territorium, regiert kein Staatsvolk. Eine Terrororganisation wurde also aufgewertet, weil die USA, ein demokratischer Staat, ihre Prinzipien abgewertet haben.

9

Elfie Siegl: »Der Kreml und die russisch-orthodoxe Kirche«, in: Le monde diplomatique, Berlin, 17.3.04.

10

Anna Politkowskaja: »Zar Wladimir – unfehlbar und messianisch«; in: SZ, 9.10.06.

11

Wladimir K. Wolkow: »Ethnokratie – ein verhängnisvolles Erbe in der postkommunistischen Welt«; in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 52–53/1991, S. 41–42.

12

Bassam Tibi: »Leitkultur als Wertekonsens«, Das Parlament 1-2/01, S. 26.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 2/2008