Balduin Winter

Die kurdische Frage

Zwischen Türkeiinteressen und Verschwörungstheorien

 

 

Die Türkei kämpfe gegen den Terror, werden in türkischen Medien führende Militärs zitiert. Das Parlament hatte schon am 24.10.07 den Generalstab zu grenzüberschreitenden Militäraktionen befugt. Washington hatte am 28.11. grünes Licht und logistische Unterstützung gegeben, vermutlich auch den Operationsrahmen abgesteckt. Im Dezember und im Februar intervenierten dann türkische Truppen im Nordirak gegen Stellungen der PKK. Der rasche Rückzug der »zeitlich unbegrenzten Aktion« erfolgte nach Aufforderung des US-Verteidigungsministers Robert Gates (Turkish Daily News, 29.2.). Im Ergebnis hat sie, »außer einer geringfügigen Schwächung der PKK, die rasch ausgeglichen sein wird, nichts eingebracht« (FAZ, 1.3.).

Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan hatte in den letzten Jahren eine vorsichtige Öffnungspolitik gegenüber den Kurden betrieben – schon das kam nicht gut an bei den »Übervätern der Republik« (so die liberale Zeitschrift Radikal), den Militärs, die der AKP misstrauisch gegenüberstehen. Der Generalstab wollte laut FAZ »Stärke und ›nationale Gesinnung‹ demonstrieren«. Militärisch ist aber die überaus komplexe Kurdenfrage ohnehin nicht zu lösen, das wissen alle Beteiligten. »Kampf gegen den Terror« ist wohl die verkürzteste Optik in der kurdischen Frage. Denn in ihr fokussieren sich neben den konkreten Aspekten exemplarisch alle ungelösten Probleme des Mittleren Ostens: Grenzziehungen, Ethnizität, Autonomie, Staatlichkeit, Selbstbestimmungsrecht, »große Strategien« und regionale Hegemonien mit all ihren Rechtfertigungen.

Aktuell besteht diese Frage aus zwei großen Teilen. Nach wie vor kämpfen die Kurden in der Türkei um elementare Rechte. Die andere große Abteilung, die irakischen Kurden, haben durch das Desaster der USA mit dem missglückten Demokratieexport enorm an Freiheitsspielräumen gewonnen. Das hat Bewegung in die Region gebracht. Die US-Diplomatie spricht von den vielen »unbeabsichtigten Konsequenzen des Krieges«, die auch auf die türkischen Kurden zurückwirken. Wiederbelebt wurden radikale Vorstellungen von einem »Groß-Kurdistan«, das alle von Kurden bewohnten Teile in der Türkei, in Syrien, im Irak und Iran umschließen soll: »Nach der Studie des kurdischen Wissenschaftlers Abderrahman Kasmelo besteht das Gebiet Kurdistans aus 409600 km2, die wie folgt aufgeteilt sind: 194400 km2 auf dem Gebiet der Türkei, d. h. 48 % der Gesamtfläche; 124900 km2 auf dem Gebiet des Iran, d. h. 30 % der Gesamtfläche; 72000 km2 auf dem Gebiet des Irak, d. h. 18 % der Gesamtfläche; 18300 km2 auf dem Gebiet Syriens, d. h. 4 % der Gesamtfläche« (Mohammed Muoffak auf humanright.de). Cemil Bayik, Chefideologe und nach Öcalan Nummer zwei der PKK, spricht von Entgrenzung: »Wir sind hier für unser Volk. Wir sind hier nicht allein für die Kurden in der Türkei, sondern auch für die im Nordirak. Wir sind ein Volk, für das wir leben. Und so lange unser Volk uns hier haben will, gibt es keine Kraft, die uns vertreiben kann« (Deutschlandradio, 17.7.07).

Separatismus findet auf türkischer Seite jedoch kaum Anhänger. Ilnur Cevik, Herausgeber der englischsprachigen Wochenzeitung New Anatolia in Erbil (Nordirak) meint, die türkischen Kurden hätten gute Gründe für die Türkei: »Sie sehen im Nordirak eine Region, die noch weit hinter Südostanatolien herhinkt. Sie halten das Gebiet für noch rückständiger, noch feudalistischer, noch archaischer als ihre Heimat.« Nicht zuletzt sind die nordirakischen Kurden auf die Türkei als ihren größten Handelspartner angewiesen. »Die Türkei ist paranoid, wenn es um einen unabhängigen kurdischen Staat geht. Ja, die PKK ist ein Thema. Und, ja, Kirkuk ist ein Thema. Aber worum es den Türken geht, ist die Frage: Wie können wir einen unabhängigen kurdischen Staat verhindern? Warum? Weil sie denken, dass ein solcher Staat eine Quelle des Verlangens für die Kurden in der Türkei sein könnte, dass sie sich am Ende gar diesem Gebiet anschließen wollen.« Doch böte die Türkei den anatolischen Kurden die Europa-Perspektive, darin läge die Zukunft. Die Karten, die seit 2005 von irakisch-kurdischer Seite im Parlament in Bagdad zirkulieren, bauen zwar auf den großkurdischen Vorstellungen auf, beschränken sich jedoch auf den Irak. Sie forderten scharfe Kritik heraus, da sie Gebiete mit fünfprozentigen Minderheiten einschließen oder gar andere Ethnien den Kurden zuschlagen (siehe Dokumentation in Al Basrah, 10.4.06). Demnach reicht Kurdistan bis 15 Kilometer vor Bagdad.

Dieser Maximalismus ist nur verständlich aus der historischen Genese des Konflikts mit seinen unzähligen Wendungen, Grenzziehungen nach imperialen Einflusszonen, oftmaligen politischen Umgruppierungen, wechselnden Allianzen, Spaltungen und oft künstlich aufgerissenen Klüften zwischen den Ethnien. Faktum ist, dass auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches nach dessen Filetierung im Gefolge des Ersten Weltkriegs einige Kunststaaten entstanden, deren Eliten und Grenzen mehr mit den Interessen der Großmächte, als mit den regionalen Gegebenheiten zu tun hatten. »Alle Staaten sind synthetisch, aber einige sind synthetischer als andere«, sagte Winston Churchill, der einst die Entscheidung, die Kurden in den Irak einzubeziehen, als einen der schlimmsten Irrtümer bezeichnet hatte. Ein Nationalstaat nach westlichem Muster bildete sich nur in der Türkei heraus. Udo Steinbach charakterisiert in den Informationen zur politischen Bildung (277/02) den türkischen Staatsgedanken: »Im kemalistischen Nationalismuskonzept setzte sich das Modell der Staatsnation durch. Angesichts der multi-ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung war die ›türkische Nation‹ ein Konstrukt, das erst geschaffen werden musste. Das Verbindende – so die kemalistische Staatselite – sei nicht die Religion, die Konfession oder gar die Rasse, sondern das Bekenntnis zur ›türkischen Nation‹. Dabei geht der türkische Nationalgedanke von der ›unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk‹ aus. Das bedeutet, dass den Minderheiten, mit Ausnahme der im Lausanner Vertrag definierten, keine kulturellen und politischen Sonderrechte eingeräumt wurden.« Das bedeutet jedoch nicht Staatsbürgerschaft sondern Zwangsassimilierung, und darauf beruht auch der berüchtigte Artikel 301 der Verfassung, der etwa die Äußerung »Kurdisch ist meine Muttersprache« zur verfassungsfeindlichen und strafverfolgbaren Aussage macht.

Für die offizielle Türkei gibt es tatsächlich keine »Kurdenfrage«. Seit langem bringt das Center for Strategic Research beim türkischen Außenministerium eine vierteljährliche Zeitschrift (Perceptions) heraus, welche sich breit gefächert politischen und theoretischen Fragen der Welt- und der türkischen Außenpolitik widmet. Kein einziger Beitrag in den letzten zehn Jahren befasste sich mit der kurdischen Frage. Man darf gespannt sein, ob die Prognose Geert Maks, Historiker aus Amsterdam, eintreffen wird: »Die türkische Regierung will den Artikel 301 streichen, der eine offene Debatte verhindert, und es gibt viele türkische Historiker, die das Thema ernsthaft untersuchen wollen. Damit beginnt eine zweite, tiefere Modernisierung der Türkei.« (taz, 9.1.08)

Nicht zuletzt es ist auch das unverhoffte politische Momentum, das insgesamt die Lage destabilisiert hat. Die USA habe mit ihrem unüberlegten Irak-Feldzug eine Lawine losgetreten, meint Jeffrey Goldberg im Atlantic Monthly (2/08). Ein Bündel widerstrebender Interessen habe eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Konfliktherd verhindert. Mittelost-Experten der Bush-Administration wie Norman Podhoretz wussten noch nach der Mission Accomplished nicht, wer die Kurden überhaupt sind. Erst in jüngster Zeit – der Schwenk in der Türkei-Politik deutet es an – macht sich die US-Regierung ernsthafte Gedanken über das Prekäre einer Dreiteilung des Iraks und will nun dagegen steuern. Goldberg sagt, den irakischen Kurden werde die »funktionelle Unabhängigkeit« kaum mehr zu nehmen sein – die Nordprovinz ist heute nur noch lose mit Bagdad verbunden. Die USA und die Türkei haben es gerade noch geschafft, einen Aufschub in der Kirkuk-Frage – dort gibt es eine turkmenische Bevölkerungsmehrheit – zu erreichen. Die Kurden wollen sich heute ihre Dividende für das Leiden unter und ihren Kampf gegen Saddam Hussein nicht mehr wegnehmen lassen.

Zur regionalen Fragilität gesellt sich die gegenwärtige hoch ideologisierte Philosophie der auswärtigen Politik der USA, stellt Goldberg fest: »Die Realisten beben ob der Instabilität und sehen das einzige reale amerikanische Interesse am Mittleren Osten bedroht, den ununterbrochenen Fluss des arabischen Öls. Die Iranophoben sehen in der Selbstbestimmung und in der Bedrohung durch die schiitisch-sunnitische Kriegsführung die größte Ursache der Sorge. Palästina-freundliche Akademiker geben Israel und seinen Freunden in Washington die Schuld, mit seinen Handlungen das arabische Staatensystem zerstören zu wollen. Die liberalen Interventionisten beklagen die mangelhafte Ausführung des Irak-Krieges und kritisieren, dass die Bush-Administration den Demokratieexport mit mehr Feingefühl und weniger Heuchelei hätte ausführen sollen. Die Neocons, die die amerikanische Revolution als Beispiel zitieren für die ›konstruktive Flüchtigkeit‹ von Umbruchsmomenten, sehen keinen Grund, die Instabilität zu bedauern.« Destabilisiert habe schon, zitiert Goldberg den ehemaligen US-Staatssekretär Douglas Feith, Saddam Hussein die Region: »Unordnung ist schlechter als Ungerechtigkeit.« Was aber bleibt, nachdem das Ziel nicht erreicht wurde? »Es ist denkbar, wenngleich paradox, dass das tatsächliche Resultat des neuerlichen Tumults im Mittleren Osten eine neue Ära der Stabilität sein könnte, gefördert durch Realisten in der USA und in der Region selbst.« Denn Bushs Nachfolger werden sehr zögern, muslimische Länder anzugreifen. Um wieder Einfluss zu gewinnen, müssen sie sich hüten, die Region nur nach ihren eigenen Interessen organisieren zu wollen. Sie werden sich wirklich mit den realen Gegebenheiten beschäftigen müssen.

Ein neuer Gedanke sucht Eingang in die politische Arena. Omran Salman, ein liberaler schiitischer Journalist in Bahrain () schlägt einen »langsamen und gezielten Export der Demokratie« vor. Statt Militärs und CIA solle er in der Unterstützung mittelöstlicher Medien, Journalisten und Demokratieaktivisten bestehen, in der Förderung von Universitäten und Bildungseinrichtungen, insbesondere auch des Rechtswesens, um eine unabhängige Richterschaft auszubilden. »Wenn Muslime und Demokraten diese Arbeit jetzt zu moderieren beginnen, haben wir in zehn, fünfzehn Jahren ein gutes Pferd im Rennen.« Wird einmal Gewalt und Willkür im Mittleren Osten zurückgedrängt, ließe sich auch viel offener über die augenfälligen politischen Probleme der Region diskutieren, ohne dass, wenn der eine von Selbstbestimmungsrecht – oder auch nur von Föderalismus – spricht, der andere gleich Armeen aufmarschieren lässt.

Niemand hat bisher den entscheidenden strategischen Knotenpunkt gefunden. Auch in der Kurdenfrage stehen sich echte und vermeintliche Interessen gegenseitig auf den Füßen. Bisher blieb ein Akteur ausgespart: Israel. Doch den hat die arabische Seite immer fest im Blick. Der Direktor des New Yorker UN-Fernsehens, Ayman El-Amir, vermutet in der Resolution des US-Senats, die zur Aufteilung des Irak nach ethnischen und konfessionellen Linien führte, »das Werk kurdischer Lobbyisten, angestiftet von Israel« (Al-Ahram, 8.11.07). Denn »Israel hatte ein strategisches Interesse, den Irak zu brechen« wegen seines Versuchs unter Saddam Hussein, eine Atommacht zu werden. Mit Blick auf die Übernahme Kirkuks und Mosuls und deren Ölfelder »würde Israel ein politisch-militärisch-ökonomisches Bündnis mit einer halb unabhängigen kurdischen Regionalregierung schließen«. »Damit könnte Israel seine Exklusion aufbrechen. Die neue kurdische Festung würde von Israels militärischer Macht, seiner Technologie, und seiner von Washington unterstützten Politik profitieren, um andere kurdische Minoritäten im Iran, in Syrien und in der Türkei für seine entscheidende Zielsetzung, die Errichtung eines unabhängigen Staats von Kurdistan auf deren Staatsgebieten.«

Verschwörungstheorien kommen oft in weltläufigen Moden daher. Zuvor vergleicht El-Amir Kosovo und Palästina mit Kurdistan. Fehlt noch Abchasien, Transnistrien, Baskenland, Tschetschenien und so weiter. Aber in den letzten 80 Jahren, eine Phase der Staatenbildung ohnegleichen in der Geschichte, hat sich doch gezeigt, dass jede einzelne Gründung eine einmalige und einzigartige Angelegenheit war. Polemiken sind in der Geschichte schnell vergessen.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 2/2008