Thorsten Hasenritter, Herbert Hönigsberger, Andreas Kolbe, Sven Osterberg

Die Haupttendenz ist Reformismus

Die Leitpartei SPD und der sozialdemokratische »Common Sense«

 

 

Es fällt schwer, die SPD noch als Volkspartei zu betrachten. Als Leitpartei, so unsere Autoren, ist sie, trotz gegenwärtiger Turbulenzen, besser beschrieben – und prägt sie mit ihren sozialdemokratischen Werten die mentalen Realitäten der Republik. Denn das Massenbewusstsein wird nicht vom Neoliberalimus sondern von einem Reformismus geprägt, dem es um eine Domestizierung des Kapitalismus geht. Die Diskurshegemonie zu erringen, liegt durchaus in der Hand der SPD – gerade weil sich das Parteienwesen verändert. Welche Bündnis-Dimensionen tun sich da absehbar auf?

Das Konzept der Volkspartei(1) beschreibt die Wirklichkeit von Union und SPD nicht mehr zutreffend. Das Konzept der Leitpartei erfasst besser, was die beiden großen Parteien heute sind. Leitpartei ist vorerst nur ein analytischer Begriff. Ihm fehlt noch das populäre Pendant, das wie die Formel von der Volkspartei der Mitte in das politische Alltagspalaver Eingang finden könnte. Das Konzept der Leitpartei steht zwar nicht in komplettem Gegensatz zu dem der Volkspartei, wirft aber antiquierten Ballast ab und akzentuiert Ausschnitte der volksparteilichen Praxis. Die beiden wesentlichen sind Diskursfähigkeit und Regierungsfähigkeit: das Potenzial, hegemoniale Diskurse inszenieren und Regierungskoalitionen führen zu können. Beide Fähigkeiten sind miteinander verschränkt. Volksparteien verfügen über sie in besonderem Maße. Ohne diese Fähigkeiten wären sie nie Volksparteien geworden. Union und SPD konkurrieren vor allem mittels dieser Fähigkeiten. Die Konkurrenz überrunden sie dann, wenn sie in beiden Kompetenzsektoren einen Vorsprung erringen.

Leitparteien sind Promotoren einer Leitidee oder mehrerer Leitideen, die Potenziale für eine diskursive Hegemonie enthalten. Die soziale Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit sind solche Leitideen. Unterhalb der Ebene des Leitdiskurses, der über die strategische Diskurshegemonie entscheidet, ist eine Leitpartei auch imstande, in allen Diskursbereichen Themen zu setzen und Teildiskurse zu inszenieren. Sie erreicht ein gewisses Maß an Kontrolle über die Evolution von Diskursen. Sie akzentuiert Konfliktlinien oder schleift sie ab. Sie ist gleichzeitig Diskursteilnehmer und Moderator. Von ihrer Intervention hängt ab, ob Konflikte weiter aufgerissen oder Chancen zur Kooperation eröffnet werden. Aufgabe einer Leitpartei ist es zudem, eine überwölbende Programmatik bereitzustellen, die sie potenziell für eine Mehrheit aller Wähler, wenn schon nicht wählbar, so doch immerhin als Kanzlerpartei akzeptabel macht. Doch muss es ihr keineswegs jederzeit und in allen Themenbereichen gelingen, die Diskurshoheit zu gewinnen. Es genügt bereits die Diskurshoheit bei Schlüsselthemen. Im Übrigen ist eine Partei so lange Leitpartei, solange die Öffentlichkeit ihr diese Funktion zuschreibt, von ihr erwartet und ihr auch zutraut. An einer Leitpartei reiben sich die Intellektuellen, auch wenn sie sie nicht mögen. Der minimale Maßstab für eine Leitpartei ist, dass die Öffentlichkeit in allen wesentlichen Politikfeldern und zu allen aktuellen Sachfragen immer noch hören will oder wenigstens genötigt ist anzuhören, was eine Partei zu sagen hat.

Doch ist die Fähigkeit, die Diskurshoheit zu gewinnen, nur die eine Seite einer Leitpartei. Denn auch die Diskurshegemonie ist in die Dialektik der Ziel-Mittel-Relation von Politik eingeflochten. Sie dient dem Machterwerb. Und umgekehrt hilft politische Macht, die Diskurshoheit zu behaupten. Die andere Eigenschaft, die aus einer Partei eine Leitpartei macht, ist deshalb ihre Regierungsfähigkeit, die Fähigkeit zur Bildung von Koalitionen, die Koalitionsfähigkeit, und die Fähigkeit zur Führung einer Regierung. Das deutsche Parteiensystem hat mittlerweile in den Ländern fünf, im Bund sechs Parteien ausdifferenziert. Eine Leitpartei kann diese Auffächerung des Parteiensystems nüchtern zur Kenntnis nehmen, die alten volksparteilichen Einheits- und Integrationsvorstellungen beerdigen und Pläne zur Gewinnung absoluter Mehrheiten ad acta legen. Zwar sind Volksparteien in aller Regel Leitparteien. Und eine Partei hört auf, Volkspartei zu sein, wenn sie über einen längeren Zeitraum keine Leitpartei mehr ist. Doch muss eine Leitpartei keineswegs Volkspartei sein. Je mehr sie sich allerdings als Leitpartei profiliert, desto mehr wachsen ihre Chancen, stärkste Partei zu werden. Eine Leitpartei muss keineswegs alle wesentlichen Volksschichten erreichen, sondern allenfalls besonders einflussreiche und kommunikationsfähige. Eine Leitpartei muss auch keineswegs die stärkste Partei eines Parteiensystems sein. Sie muss nur hegemoniale Diskurse führen können, als Leitpartei akzeptiert werden und Regierungschefs stellen. Die dominierende Leitpartei ist die Partei, die mehr Koalitionsoptionen hat als alle anderen. Sie ist die genuine Partei, die Koalitionen führt. Sie kann alle denkbaren Koalitionen führen und sie führt die meisten. Sie steht nicht unbedingt in der alten Mitte des linear gedachten politischen Links-rechts-Kontinuums. Aber sie steht im Zentrum des Parteiensystems. Sie behauptet sich als anerkannte staatstragende Partei, als genuine Regierungspartei. Die Fähigkeit zur Führung von Regierungskoalitionen zu kultivieren, ist strategische Kernaufgabe einer Leitpartei.

Für eine traditionelle Volkspartei ist die Position der SPD zunehmend desolat. Als Leitpartei dagegen erscheint ihre strategische Situation günstiger als gemeinhin angenommen, günstiger als die der Union, vor allem günstiger als viele entmutigte und desorientierte Sozialdemokraten selber glauben. Gemessen an den zwei wesentlichen Bedingungen für eine Leitpartei – Diskursposition und allgemeine Koalitionsfähigkeit – ist die SPD in nuce gut aufgestellt.

Im Godesberger Programm hat die SPD die Ambition niedergelegt, sie wolle die Mehrheit des Volkes für ihr Ziel des demokratischen Sozialismus gewinnen. Doch bekanntlich hat die SPD bei Wahlen im Bund die 50-Prozent-Hürde nie genommen. Die Differenzierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und des Parteiensystems hat diese Option mittlerweile endgültig desavouiert. Insofern könnte das sozialdemokratische Projekt des Godesberger Programms als gescheitert deklariert werden. Doch öffnet das Konzept Leitpartei die Wahrnehmung für eine ganz andere Erzählung, nämlich die einer subkutanen politisch-kulturellen Erfolgsgeschichte.

Deutschland ist mittlerweile eine Gesellschaft, deren Massenbewusstsein in hohem Maße sozialdemokratisch durchsetzt, ja sogar wesentlich geprägt ist. Grundvorstellungen sozialstaatlicher Abfederung der negativen Folgen der kapitalistischen Marktökonomie sind in gesellschaftliche Mentalitäten eingesickert, weil sie sich als genuine Deutungen gesellschaftlicher Verhältnisse bewährt haben. Gesellschaftliche Verhältnisse und alltägliche Praxis haben weitaus mehr Menschen auf jene Denk- und Deutungsmuster gestoßen, die sich dem Wertekosmos der sozialen Demokratie zuordnen lassen, als regelmäßig SPD wählen. Die sozialdemokratischen Grundwerte der Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit haben sich immer wieder als taugliche Antworten auf lebensweltliche Erfahrungen und analytische Einsichten in einer Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise aufgedrängt. Sie sind die Basiswerte der gesellschaftlichen Übereinkunft im Rheinischen Kapitalismus. Und sie drängen sich quasi naturwüchsig und nachhaltig auch in der Ära der Globalisierung auf. Dem politischen Projekt der sozialen Demokratie geht eine Art lebensweltlicher sozialdemokratischer Common Sense voraus. Er ist mittlerweile tief in die Massenmentalität eingeschrieben. Die Mentalität der Mehrheit hat sich sozialdemokratisiert. Diese mentale Sozialdemokratie liefert eine Leitidee für Politik und einen Kompass für gesellschaftliche Praxis, um nicht zu sagen: eine Leitkultur, die gesellschaftliche Kohäsion stiftet. Der quasi natürliche Reformismus in uns allen hat eine lange Vorgeschichte. Der Alltagsreformismus der sozialdemokratisierten Massenmentalität und das politische Projekt der Sozialdemokratie sind durch zahlreiche Fäden miteinander verbunden. Die christliche Soziallehre ist ein Reflex auf die Herausforderungen von Marxismus, Sozialismus und Arbeiterbewegung. Diese Konkurrenz zwischen Original und Reflex, die ständige Kontroverse über Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit haben den sozialdemokratischen Common Sense verbreitert und vertieft. Als Konzept einer politisch geordneten und sozial moderierten Marktwirtschaft hat sich die soziale Demokratie in der Ära des Kalten Krieges als der letztlich überlegene geistige Antipode des realen Sozialismus erwiesen. Ihr ist es gelungen, der kapitalistischen Ökonomie in der Systemkonkurrenz eine Systemdividende abzuringen, die die westlichen Nationen sozial integriert und damit stabilisiert hat. Das war eine Erfolgsbedingung in der Systemkonkurrenz.

Die gesellschaftliche Grundstimmung und das sozialdemokratische politische Projekt haben im Elitendiskurs die Gegenbewegung des Neoliberalismus hervorgerufen. Der kündigte die Systemdividende der Epoche des Kalten Krieges auf. Seine Protagonisten haben ehedem die Sozialdemokratisierung der Union unter Kohl beklagt. Heute beklagen sie die Sozialdemokratisierung unter Merkel. Denn unter dem Eindruck des reanimierten sozialdemokratischen Common Sense nimmt die Union in Theorie und Praxis vom Leipziger Programm Abstand, dem Höhepunkt ihrer Annäherung an neoliberale Konzepte. Gerhard Schröder musste am Widerstand gegen seine Sozial- und Arbeitsmarktpolitik erkennen, wie tief sozialdemokratische Überzeugungen und Mentalitäten gesellschaftlich verankert sind. Die gewerkschaftsorientierte WASG hat explizit und bewusst auf Elemente einer traditionellen und vertrauten Spielart der Sozialdemokratie zurückgegriffen. Mit der gesellschaftlichen, der politisch-kulturellen Sozialdemokratisierung korrespondieren im Parteiensystem ideologisch-intellektuelle Annäherungsprozesse. Allenthalben stößt man in Parteiideologien und -programmen auf Elemente, die ideengeschichtlich ohne Mühen der sozialdemokratischen Parteifamilie zugeordnet werden können. Vor allem bei Grünen und Linkspartei finden sich Formen der analytischen Kapitalismuskritik und Kapitalismusskepsis, ein reformistischer Politikansatz, in dessen Kern die Domestizierung des Kapitalismus steht, Variationen der Grundwertekataloge von Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit, von Menschen- und Bürgerrechten, gesellschaftlicher Integration und Kohäsion, friedlichem internationalem Ausgleich et cetera. Diese Programmkomponenten sind gewiss nicht deckungsgleich mit den diversen Programmen, die sich die SPD je gegeben hat. Aber sie intonieren die Grundmelodie der europäischen Sozialdemokratie. Und sie sind summa summarum in höherem Maße untereinander anschlussfähig als die programmatischen Angebote von Liberalen und Konservativen.

SPD und Gewerkschaften haben maßgeblich dazu beigetragen, die soziale Demokratie und die politisch geordnete Marktwirtschaft zu einer Leitidee auszuformen und im gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern. SPD und Gewerkschaften sind Leitformationen des sozialdemokratischen Common Sense und der sozialdemokratisierten Massenmentalität. Als Partei einer Leitideologie der ganzen Epoche des Kalten Krieges hat die SPD eine nationale Erfolgsgeschichte geschrieben. Es ist ein Treppenwitz, dass die agierende Sozialdemokratie heute von dieser sozialdemokratischen Massenmentalität bedrängt wird und sich von ihr in die Defensive drängen lässt.

Die alternativlose Utopie, den Kapitalismus für domestizierbar zu halten und sich dieser Domestizierungsaufgabe zu stellen, markiert die historische Differenz des sozialdemokratischen Sisyphus zur kommunistischen Strömung. Das sozialdemokratische Projekt hat sich in Europa und darüber hinaus zum neuen Referenzpunkt für die politischen Nachlassverwalter des realen Sozialismus entwickelt. Die Nachfolgeorganisationen ehemaliger kommunistischer Parteien bewegen sich auf die sozialdemokratische Parteienfamilie zu. Nachdem sie das große Schisma des Sozialismus und der Arbeiterbewegung als historischer Sieger überdauert hat, fällt der Sozialdemokratie die Aufgabe zu, die verstreuten Hinterlassenschaften der überlebten kommunistischen Strömung zu sichten. Die speisen sich aus nicht wenigen, wenngleich verschütteten gemeinsamen geistigen Quellen und sozialen Kontexten, ob dies Sozialdemokraten gefällt oder nicht. Diese Quellen und Kontexte treten nach dem Ende des Kalten Krieges, des realen Sozialismus und im Transformationsprozess ehedem kommunistischer Parteien wieder deutlicher hervor. Diese Parteien und ihre Verwandten können sich in der Parteienkonkurrenz westlicher Demokratien nur behaupten, wenn sie sich Kernelemente des sozialdemokratischen Diskurses zu eigen machen. Die historische Differenz zwischen der sozialdemokratisch-sozialistischen und der kommunistischen Strömung, die achtzig Jahre lang sogar in einer Konkurrenz von Gesellschaftssystemen und Militärblöcken aufging, entschärft sich nun zu einer demokratischen Parteienkonkurrenz auf sozialdemokratischem ideologischem Terrain. Die bemühte Unterscheidung zwischen reformistischen und antikapitalistischen linken Parteien liefert kaum noch einen Grund für fundamentale politische Gegnerschaft, da in der Praxis die Differenz nur noch auf mehr oder weniger radikalen Reformismus hinausläuft. Die europäische Sozialdemokratie – die SPD als Frontpartei des Kalten Krieges zumal – kann sich zu den Siegern der Geschichte zählen.

Den Ideen der europäischen Sozialdemokratie und dem sozialdemokratischen Diskurs wachsen aber noch eine weitere internationale Dimension und globale Bedeutung zu. Der Westen und sein Wertesystem haben seit dem Zweiten Weltkrieg global an Strahlkraft verloren. Grund dafür ist nicht zuletzt die Transformation der amerikanischen Politik. Deren antitotalitäre, demokratische, freiheitliche und antikoloniale Impulse wurden nach 1945 zunehmend durch nackte geostrategische Kalküle und aggressive ökonomische Interessen übertönt. Die Rezepturen des Neoliberalismus haben weltweit zahlreiche nationale Ökonomien in Turbulenzen versetzt. Mehr noch als der alte Imperialismus und Kolonialismus haben sie gewachsene Gesellschaften zerstört. Das erzeugt Widerstand permanent und in vielfältigen Formen. Ökonomische Effektivität und Effizienz allein überzeugen die Gesellschaften der Welt nicht mehr. Sie befriedigen deren Bedarf an nationaler Würde und deren Vorstellung eines ihnen gemäßen gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht. Der Westen ist wirtschaftlich und militärisch stark. Aber er hat der Welt nichts mehr zu sagen. Asiatische und islamische Staaten adaptieren ökonomische Strukturen, die dem abendländischen Kapitalismus entstammen. Und sie passen sich diesen Strukturen auf den Weltmärkten an. Doch behalten sich diese Staaten eigenständige Entwicklungspfade umso mehr vor, je mehr sie ökonomische und politische Unabhängigkeit gewinnen. Sie fahnden nach ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungspfaden, die ihnen ein höheres Maß an nationaler Souveränität versprechen. Dabei generieren sie je nach ihren historischen und kulturellen Gegebenheiten eigene Varianten des politischen Systems, zahlreiche Varianten von Demokratie ebenso wie despotische und diktatorische Regime. Doch ist diesen nationalen Entwicklungspfaden ein Grundzug gemeinsam: nationale Selbstbehauptung in der globalen Ökonomie, Behauptung der Souveränität über ihre nationalen Ökonomien.

Dieses Streben nach nationaler Unabhängigkeit hat in Lateinamerika, Asien und Afrika eine lange Tradition. Diese Tradition wird heute durch das neoliberale Oktroi reanimiert, denn es schneidet nationale Entwicklungspfade ab. Die globale Attacke des Neoliberalismus – vorgetragen durch liberale und konservative westliche Regierungen und internationale Institutionen, die von ihnen beherrscht werden – steht an der Wiege von Experimenten wie in Venezuela. Der sozial destruktive Neoliberalismus beflügelt die KP Chinas in ihren autokratischen Bestrebungen, die heimische Ökonomie zu kontrollieren, die globale zu infiltrieren und ein neues Reich der Mitte als Weltmacht zu etablieren. Ebenso beflügelt er die fundamentalistischen Taliban, Hisbollah, Hamas und andere Spielarten des extremistischen Islamismus. Die Grundstrukturen funktionierender, weil kontrollierter Marktökonomien haben sich als global adaptionsfähig erwiesen, weil Märkte und ihre Ordnung ein nahezu universelles Element der globalen Ökonomiegeschichte sind. Sie haben sich grundsätzlich als effektiver und effizienter erwiesen als das verschwundene realsozialistische Gegenmodell. Aber der Neoliberalismus, dieses plumpe Derivat differenzierter kapitalistischer Praxis, der platte, interessengetriebene ideologische Überbau einer komplexen ökonomischen Basis, hat den Westen mehr delegitimiert, als es realsozialistische Propaganda je vermocht hat.

Domestizierung der kapitalistischen Ökonomie ist ein Grundzug der europäischen Sozialdemokratie seit jeher und bis heute. Sie ist die klassische, mit der Aufklärung verbundene Variante des Versuchs, die zerstörerischen Momente der kapitalistischen Produktionsweise so weit zu kontrollieren, dass ihre produktiven Momente für gesellschaftliche Zwecke, für Massenwohlstand und individuelle Entfaltung genutzt werden können. Der sozialdemokratische Diskurs ist eine zentrale Spielart westlicher Selbstreflexion und Selbstkritik. Er ist das westliche, das europäische Pendant zu den Bemühungen von Staaten und Gesellschaften in Asien, Lateinamerika und Afrika, an der Weltökonomie teilzunehmen und den Zusammenhalt ihrer Gesellschaften trotzdem nach eigenem Bild und Willen zu gestalten. Er ist im so genannten Kampf der Kulturen das letzte und einzige global diskursfähige Angebot des Westens an die Gesellschaften der Welt. Allein der sozialdemokratische Diskurs hält noch ein global attraktives Gesellschaftsmodell und eine universalisierbare Leitidee bereit. Dessen Kernelemente – Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit, eine mit Hilfe von Demokratie, individuellen und kollektiven Menschen- und Bürgerrechten, sozialen und Freiheitsrechten politisch geordnete und kulturell eingehegte kapitalistische Ökonomie, eine integrierte Gesellschaft mit aushaltbaren Spaltungen – erscheinen universalisierbar. Europas globale Strahlkraft beruht auf diesen Kernelementen der sozialen Demokratie: geordnete Ökonomie, sozialer Ausgleich, Demokratie, Rechtsstaat. Der sozialdemokratische Diskurs hat die Chance, auch nach dem Ende der Systemkonkurrenz in der Epoche der Globalisierung die westliche Leitideologie zu liefern. Die SPD ist Leitpartei, weil sie Promotor einer universalisierbaren Leitidee ist. Diese Idee enthält alle Ingredienzien für einen hegemonialen Diskurs.(2) Der Neoliberalismus ist die konkurrierende westliche Leitideologie und der entscheidende globale Kontrahent um die Diskurshoheit. Aber er liefert kein global adaptionsfähiges Modell gesellschaftlicher Organisation.

Ob die SPD die Diskurshegemonie erringt, darüber entscheidet vor allem, ob sie sich an zentralen Diskursfronten gegen den Neoliberalismus durchsetzt. An der Hauptfront geht es um die Frage gesellschaftlicher Steuerung und gesellschaftlicher Integration. Umkämpft sind die Deutung und Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Markt, Politik und Ökonomie, Demokratie und Kapitalismus, der Primat der Politik oder der Ökonomie, der Wert gesellschaftlichen Zusammenhalts und das hinnehmbare Maß gesellschaftlicher Spaltungen. Schließlich dreht sich die zentrale Kontroverse um die zeitgenössische Deutung und Verschränkung von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, jener Werte also, die seit der französischen Revolution die westlichen Gesellschaften prägen. Behaupten muss der sozialdemokratische Diskurs auch eine Grundsubstanz, nämlich den Anspruch, gesellschaftliche Verhältnisse und die Dynamik der kapitalistischen Ökonomie reflektiert zu gestalten. Der Anspruch ist hoch, liefert er doch gleichzeitig eine Erklärung dafür, warum das neoliberale Stakkato zeitweilig erfolgreich in Anschlag gebracht werden konnte. Sein Kern ist blinde Anpassung an die kapitalistische Dynamik. Anpassung ist programmatisch einfach. Reflektierte Intervention muss sich der Lage immer wieder vergewissern.

National steht der SPD nur die Union als konkurrierende Leitpartei gegenüber. Doch verfügt die SPD im Gegensatz zur Union originär über eine universalisierbare Leitidee. Ideologie und Programmatik der Union kreisen dagegen um eine Art adaptierten und modifizierten Sozialdemokratismus, den sie mit sozialer Marktwirtschaft umschreibt. Dieses Konstrukt ist seit jeher – man erinnere die Frühgeschichte der Union nach 1945 – ein Reflex, eine abgeleitete Variante, eine eklektische Adaption, eine opportunistische Modifikation. Der neueste Versuch lässt sich an der Praxis der Kanzlerin und zu weiten Teilen am Grundsatzprogramm der Union nachzeichnen. Stark ist die Union, wenn es ihr gelingt, die schrillen Töne jener Reizthemen wie innere Sicherheit und Einwanderung, die ihr nahe stehenden Milieus gerne hören, mit einem christlich-sozialdemokratischen Generalbass zu überdröhnen. Schwach ist die Union, wenn sie sich auf eine nationale Leitkultur zurückzieht. Diese taugt zum Leitbild nicht, weil ihr die universalisierbare Dimension abgeht und sie sich zu weit vom gesellschaftlichen Grundton und Basisrhythmus des sozialdemokratischen Common Sense entfernt. Als genuine Leitpartei der sozialdemokratisierten Massenmentalität war und ist die SPD schon seit jeher Partei der Mitte, Partei jener gesellschaftlichen Mentalität und jenes gesellschaftlichen Bewusstseins, auf das sich alle Parteiideologien beziehen, das alle Parteiprogramme umkreisen müssen, um das sich alles dreht. Wenn die Union die Mitte für sich reklamiert, rekurriert sie vor allem auf diese sozialdemokratische Substanz.

Seit 1998 ist das Ergebnis bei allen Bundestagswahlen eine numerische Mehrheit diesseits der Union (Willy Brandt), mehr noch: eine Mehrheit gegen Schwarz-Gelb. Diese Mehrheit wird seit Jahren bei seriösen Umfragen ebenso bestätigt wie bei den fragwürdigen, aber bezeichnenden TED-Umfragen bei SAT1, RTL, Pro 7 und Kabel. Vor allem steht die kritische Bildungselite im Lager diesseits der Union und oszilliert zwischen SPD, Grünen und Linken. Union und FDP erreichen in diesem Gesellschaftssegment keine 20 Prozent der Wähler mehr.(3) Die Bundestagswahl 2005 hat dem neoliberalen Projekt einen Dämpfer versetzt, wenn nicht gar eine Trendwende eingeleitet. Auch die Landtagswahlen seither haben grosso modo die Mehrheit diesseits der Union bestätigt. Die elektoralen und demoskopischen Indikatoren zeugen von der hartnäckigen Resistenz breiter Schichten und sozialer Milieus gegenüber dem neoliberalen Elitediskurs und dem Anti-SPD-Kurs vieler Medien. Die Wählermehrheit diesseits der Union ist kein Ausrutscher im soziopolitischen Mikroklima. Sie ist stabil, weil die gesellschaftliche Dynamik unaufhörlich die Anlässe liefert, an dem sich der sozialdemokratische Common Sense reiben muss und schärfen kann. Das neoliberale Trommelfeuer schlägt gegenüber der soziokulturell tief verankerten lebensweltlichen Sozialdemokratie nicht durch. Umfragen bestätigen diese zähe Überlebensfähigkeit sozialdemokratischer Werte.(4) Die Gesellschaft ist nicht nach links gerückt, sondern sie artikuliert ihre Grundstimmung immer dann lauter und deutlicher, wenn die Ökonomie und in ihrem Gefolge die Politik am gesellschaftlichen Grundkonsens rütteln.

Die SPD ist die intellektuell-ideologische Leitpartei der sozialdemokratisch grundierten Mehrheit diesseits der Union. Aber sie verliert an Stimmen. Und es fällt ihr zunehmend schwer, mit Zwei-Parteien-Koalitionen zu regieren. Die soziokulturelle Mehrheit spiegelt sich außer in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern in keiner Parteienkoalition wider. Die SPD ist aber zumindest potenziell in der Lage, diese Mehrheit zu führen und ihr ein koalitionspolitisches Gesicht zu verleihen. Sie ist die einzige Partei, die bereits mit allen Parteien zumindest auf Landesebene koaliert hat oder derzeit koaliert. Auf Bundesebene hat die SPD mehr Koalitionserfahrung als die Union. Ihre größere Koalitionsfähigkeit macht sie zur potenziellen Mehrheitsführerin. Die SPD ist die geborene und natürliche Leitpartei der Mehrheit diesseits der Union. Der Versuch des SPD-Vorsitzenden, die rot-rote Option vollends freizulegen, ist deshalb konsequent.

Die Union dagegen hat weniger Koalitionsoptionen und sie hat keinen wirklich tragfähigen eigenen Leitdiskurs. All das, was mit dem »C« umschrieben ist, reicht zu einem Leitdiskurs nicht. Programmatisch hängt die Union mal mehr, mal weniger am Tropf des Neoliberalismus oder des sozialdemokratischen Diskurses. Sie kann nur mehr oder weniger konsistente und plausible Konglomerate produzieren. Dazu hat die Union den Kontakt zu den maßgeblichen Kommunikatoren verloren, die Deutungen lancieren und Trends setzen. Und doch dominieren CDU und CSU die Umfragen und die meisten Wahlen, erhält die Kanzlerin in Umfragen weitaus mehr Zuspruch als die potenziellen Gegenkandidaten der SPD. Die Wähler bewerten bei ihren Entscheidungen offenkundig nicht vorrangig die strategische Lage und Funktion einer Partei, sondern ob der politische Output den gefühlten eigenen Interessen und die Performance einer Partei den ideologischen Überzeugungen entspricht. Politischer Output und Erscheinungsbild können auch einer Leitpartei schlechte Umfrageergebnisse und serienweise Wahlniederlagen bescheren. Zu viel blasses Personal und wenig überzeugende Diskurse kann sich auch eine Leitpartei auf Dauer nicht leisten. Der strategischen Position entspricht zudem in weiten Teilen der SPD keine analoge Souveränität der Selbstwahrnehmung, in der öffentlichen Präsentation, geschweige denn im taktischen Verhalten. Die SPD ist Leitpartei, aber sie verhält sich längst nicht immer so.

Die Wahl in Hamburg markiert womöglich einen epochalen Einschnitt in der Historie des deutschen Parteienwesens. Das Fünf-Parteien-System etabliert sich. Die Linkspartei bleibt auf absehbare Zeit stabil, weil sie im Westen wie im Osten hinlänglich in politischen und sozialen Milieus verankert ist, um allfällige Formierungskrisen und Wahlniederlagen zu überstehen. Als ostdeutsche Regionalattraktion und als gesamtdeutsche Prekariatspartei ist sie dabei, einen festen Platz im Parteiensystem einzunehmen. Intellektuell und ideologisch sind ihre Frontleute im Stande, genügend Segmente der sozialdemokratischen Mehrheitsstimmung sowohl bei gebildeten als auch bei depravierten Schichten zu mobilisieren. Als populistische Formation scheint sie sogar prädestiniert, Wähler aus dem Nichtwählerlager zu erschließen. Die Linkspartei ist Indiz und Beleg, dass sich der sozialdemokratische Common Sense immer neue Ausdrucksformen sucht. Das Fünf-Parteien-System schreibt dem Koalitionsgebaren neue Usancen vor. Nach den Erfahrungen in Hessen wird keine Partei mehr je die Torheit begehen, vorab Koalitionen auszuschließen. Allenfalls wird von den Traumkonstellationen die Rede sein. Wer mit wem koaliert, wird von den Ergebnissen abhängig gemacht, die der Wähler den Parteien hinterlässt. Und davon, welche Koalition in Verhandlungen gezimmert werden kann. Alle Akteure stehen vor neuartigen Verhandlungskonstellationen. Lockangebote der Großen und Brautpreise der Kleinen kreieren komplexere Spielsituationen als bisher, mit neuen Varianten von Über- und Unterbietungskonkurrenz. Die Regierungsbildung wird variantenreicher, mehr noch als bisher regieren alle Parteien immer irgendwo. Die politische Klasse ist insgesamt an der politischen Macht beteiligt.

Die SPD muss in der Mitte konkurrenzfähig mit der Union bleiben und sich zugleich offen nach links, nach grün und liberal halten. Gleichzeitig muss sie die Neigungen eindämmen, die Partei nach links zu verschieben und damit die Mitte und eine mögliche Mehrheit gegenüber der Union preiszugeben. Sie muss gleichzeitig Rot-Grün und die Regierungsarbeit der Großen Koalition verteidigen und sowohl den alten wie den aktuellen Partner attackieren. Und sie muss ihre Haltung zu ihrem ideologischen Ableger und Alter Ego klären. Mit dem eigenen Spiegelbild respektive der parteipolitischen Verdoppelung des sozialdemokratischen Grundimpulses so kritisch distanziert wie pragmatisch umzugehen und je nach Umständen nüchtern und gelassen zu kooperieren oder Konflikte auszutragen, stellt die sozialdemokratische Psyche auf eine harte Probe. Der Umgang mit der neuen Konstellation zwingt die Sozialdemokratie zur strategischen Selbstvergewisserung als Leitpartei. In diesem Prozess wird sie nicht umhin können, sich zu eigen zu machen, was die Union seit jeher auszeichnet: im eigenen Selbstverständnis die genuine Führungsmacht zu sein. Die Union in dieser Rolle beerben und eine Umkehrung der politischen Hegemoniekonstellation nach skandinavischem Muster einleiten zu wollen, gehört zu den Essentials des sozialdemokratischen Psycho- und Ideenhaushalts.

Noch nie habe es eine Konstellation gegeben, die so sehr auf eine sozialdemokratische Antwort zuläuft wie die gegenwärtige, konstatierte der Soziologe Ulrich Beck. Die Gerechtigkeitsfrage ist zurück auf der politischen Agenda und damit die Chance für die Reformulierung von Reformpolitik. Mit dem Thema gesetzlicher Mindestlohn verfügt die SPD über ein wahlkampftaugliches Projekt par excellence, mit dem die Forderungen nach einer Bürger- und einer Erwerbstätigenversicherung sowie nach der gerechten Verteilung der Ergebnisse des Wirtschaftswachstums verknüpft werden können. Das Paket symbolisiert das Generalthema der Globalisierung, den Ruf nach der Basissicherung, die die Angst vor ihren Folgen nimmt. Mit einer Politik gegen den Klimawandel, die am Atomausstieg festhält, hat die SPD einen Konfliktgegenstand, der das Mitte-links-Lager mobilisiert. Mit einem intelligenten Gleichheitsdiskurs kann die SPD auf die wachsende Ungleichheit reagieren und den verkürzten Freiheits- und Gerechtigkeitsdiskurs der Union konterkarieren. Ein Gleichheitsdiskurs, der von gleichen Menschenrechten, gleichen staatsbürgerlichen Rechten, der Gleichheit der Citoyens ausgeht, ohne individuelle Verschiedenheit gleichmacherisch zu negieren, könnte der SPD den ideologischen Überbau liefern, der ihre Policy-Diskurse integriert.

Parteien messen jede Koalition am machtpolitischen Zweck, an den Reformprojekten, die sie in Angriff nehmen kann, und welcher Imagegewinn sich daraus ziehen lässt. Andererseits leben erfolgreiche Koalitionen immer auch von einer soziokulturellen und politisch-kulturellen Unterfütterung, die sie historisch legitimieren und in den Tiefenschichten politischer Mentalitäten verankern. Der aktuellen Debatte um die rot-rote Koalitionsoption der SPD geht diese Dimension völlig ab. Rot-Grün wäre ohne jahrelange Debatten über Ökologie und Ökonomie, Umwelt und Arbeit kaum zustande gekommen. Derartige Koalitionsphilosophien zu präsentieren und Koalitionen einen Spirit einzuhauchen, der über Machtpolitik und Maßnahmen hinausgreift, gehört zu den genuinen Kommunikationsaufgaben einer Leitpartei. Die Konkurrenz der Leitparteien um diskursive Hegemonie erstreckt sich auch auf die Sinnstiftung für politische Projekte. Die Union hat mit der Idee vom »bürgerlichen Lager« aus CDU und FDP eine ansatzweise konsistente Philosophie parat. Sie ist jedoch gegenüber dem sozialdemokratischen Common Sense kaum noch mehrheitsfähig. Für Schwarz-Grün steht ein tragfähiges Konstrukt noch aus. Die widersprüchliche Kombination von Konservatismus, Wirtschaftsliberalismus und christlicher Soziallehre in der Union erscheint mit dem ökologischen Sozialliberalismus der Grünen nur oberflächlich integrierbar. Die fragile parteipolitische Zweckgemeinschaft von alter, angeblich neuer und jeder Menge Scheinbürgerlichkeit bricht sich zudem an der Mehrheitsstimmung. Machtpolitisch ist das Hamburger Experiment für beide Parteien unverzichtbar. Soziokulturell und politisch-kulturell fehlt ihm der anregende, der anrührende ideologische Überbau.

Die Sozialdemokratie kann für ihre Koalitionsprojekte auf die ausgearbeiteten Legitimationsmuster für Rot-Grün sowie auf die historische Dimension des Bündnisses von Sozialdemokratie und Liberalismus und die Gedankenwelt des Sozialliberalismus zurückgreifen. Eine Koalition aus SPD, den Grünen und FDP könnte als zeitgenössische Neuauflage und Erweiterung dieses legendären Modernisierungsbündnisses von 1969 bis 1982 begründet werden, die die Mehrheitsstimmung aufnimmt. Dagegen steht der SPD noch bevor, Rot-Rot oder Rot-Rot-Grün politisch, historisch und sozial zu grundieren. Zwar drängt sich dafür der Rekurs auf den sozialdemokratischen Common Sense auf. Auch kann die europäische Normalität dieser Konfiguration ins Feld geführt werden. Aber die Geschichte von Arbeiterbewegung und Nachkriegsdeutschland liefert Anlässe für intellektuelle Vorbehalte en masse. Die Berliner rot-rote Zusammenarbeit immerhin ist ein Symbol für die deutsche Einheit und die Inklusion der Wähler aus dem Ostteil der Stadt. Sie steht für die Möglichkeit, überholte historische Spaltungen zu den Akten zu legen. Die Große Koalition schließlich kann als eine Art historischer Kompromiss in komplexen Zeiten nach dem Ende der Blockkonfrontation und in einer sich beschleunigenden Globalisierung gedeutet werden. Schwierige Zeiten erfordern eine Formierung der politischen Klasse zum durchsetzungsfähigen Gegenspieler der Ökonomie. Die Große Koalition kommt dem am nächsten.

Darüber hinaus steht die SPD vor grundsätzlichen machtpolitischen Erwägungen, denen sie in ihren Koalitionsphilosophien Rechnung tragen muss. Ein rot-rot-grünes Bündnis auf Bundesebene, das sich auf die soziokulturelle Mehrheit stützt, erscheint selbst dann machtpolitisch fragil, wenn sich alle Beteiligten als regierungswillig und -fähig erweisen. Die Exklusion beider wirtschaftsnaher Parteien von der Macht auf Bundesebene während der rot-grünen Ära wurde von Teilen der ökonomischen Eliten als Standortproblem, nicht selten sogar als Angriff auf das System der Ökonomie gedeutet. Das erklärt die Vehemenz der neoliberalen Gegenbewegung in dieser Zeit. Die Grundkonstellation des globalisierten Kapitalismus, die Konfrontation von Politik und Ökonomie, verlangt starke und stabile Regierungen und verlässliche Koalitionen. Tolerierung, wechselnde Mehrheiten und Minderheitenregierungen lassen sich zwar demokratietheoretisch legitimieren. Doch sind diese Varianten im Traditionsfundus der parlamentarischen Praxis in Deutschland nicht nur kaum verankert. Sie erscheinen gegenüber dem Handlungsbedarf, den die Konfiguration von Politik und Ökonomie generiert, auch unangemessen. Die politische Agenda legt historische Kompromisse zwischen Sozialdemokratie und Liberalismus respektive Konservatismus nahe. Koalitionen, die diese Kompromisse repräsentieren, sind mehr als andere geeignet, jene Übereinkünfte zwischen Politik und Ökonomie zu erzielen, die den Zusammenhalt von Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise gewährleisten. Auf Bundesebene jedenfalls sind auf absehbare Zeit sozialliberale und Große Koalitionen, die den sozialdemokratischen Common Sense der Gesellschaft in Rechnung stellen, machtpolitisch rationaler als andere Konstellationen.

1

Eine Langversion des Textes (www.nautilus-politikberatung.de/main/page.php?300) enthält ein ausführliches einleitendes Kapitel, das den Begriff der Volkspartei zu den Akten legt.

2

Andrea Ypsilanti hat in der Zeit vom 6.3.08 ein neues Projekt der »sozialen Moderne« als sozialdemokratisches Projekt vorgestellt. Es würde schon reichen, die »soziale Demokratie« als das Projekt der Sozialdemokratie durchzubuchstabieren.

3

Vgl. Franz Walter: »Wozu noch CDU?« (www.faz.net/s/RubEA30294A29CF46D0B1B242376754BC09/...)

4

Beispielsweise die Emnid-Umfrage für die Zeit, vgl. Ausgabe vom 9.8.07.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 2/2008