Anna Leszczynska-Koenen

Die Kloaken des März

Dramatische Kunde vom polnischen 1968

 

 

Aufbruch, Jugendrevolte, gesellschaftlicher Wandel – das gab es unter der Chiffre 1968 auch im Osten Europas. Aber Aufbruch und Protest verliefen in Polen doch ganz anders. Die kommunistischen Herrscher entfesselten einen schwelenden Antisemitismus gegen die Impulse zum Wandel. Noch vierzig Jahre später teilt sich einem der Schrecken mit, den 1968 – in Polen eine Chiffre für eine weitere Vertreibung – verbreitet hat.

Für sein Buch Wir haben sie so geliebt, die Revolution, das Daniel Cohn-Bendit zum 20. Jahrestag von »1968« herausgebracht hat, wollte er auch die Ereignisse jenseits des damaligen »Eisernen Vorhangs« berücksichtigen. Aus diesem Grund führte er ein langes Interview mit Adam Michnik, heute Chefredakteur von Gazeta Wyborcza, der auflagenstärksten Tageszeitung in Polen, schon damals bekannter Dissident sowie Exponent der polnischen Studentenbewegung von 1968. Dany bat mich, bei dem Interview zu dolmetschen, ein Angebot, das ich mit Begeisterung annahm, gab es mir doch Gelegenheit, den Mann kennen zu lernen, den ich 1968 als am Rande der Ereignisse stehende Abiturientin unendlich bewundert hatte.

Warschau im Jahr 1987 war eine düstere, irgendwie im Verfall befindliche Stadt, die nichts von den Umbrüchen ahnen ließ, die in nur zwei Jahren stattfinden sollten. Das Alltagsleben war schwer, die Besorgung von Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs begleitet von dem entnervenden Refrain »nie ma« – »hamwanich«. Das Schreckenswort war »Awaria« (Havarie) – ständig fiel irgendwo das Wasser aus, und man sah überall Menschen, die mit Wassereimern vor Hydranten Schlange standen.

Michnik war gerade aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er zum wiederholten Mal seit Einführung des Kriegsrechts im Dezember 1981 eingesessen hatte. Er empfing uns mit offenen Armen, überglücklich, dass Dany ihm einen Platz einräumte in einer gemeinsamen Generationsgeschichte, mit der er sich gerne identifizierte. So verlief das Interview unter Lachen und Scherzen. Inspiriert von dieser Atmosphäre schien sich die Transformation von einer Sprache in die andere wie von selbst in mir zu vollziehen, so dass die Kommunikation zwischen den beiden ungehindert fließen konnte. Doch je mehr wir uns dem magischen Jahr 1968 näherten, diesem Datum, das doch unsere gemeinsame Generationserfahrung begründen sollte, umso zäher wurde mein Sprachfluss, etwas in meinem Kopf verdüsterte sich und geriet ins Stocken, mir war, als würden die Welten, zwischen denen ich zu vermitteln hatte, so weit auseinander driften, dass ich sie nicht mehr zusammenhalten konnte.

Da war Dany mit seiner Geschichte vom Strand unter dem Pflaster von Paris, von Kinderläden, Wohngemeinschaften und Frankfurter Spontis. Und da war Adam Michnik, der 1968 nicht nur von der Uni relegiert und verhaftet, sondern aufgrund seiner jüdischen Herkunft von den Stasi-Agenten so verhöhnt und drangsaliert wurde, dass er sich vorkam wie in einem faschistischen Staat. Bei dem die insgesamt sechs Jahre Gefängnis, die ungezählten Verhaftungen, Durchsuchungen und Verhöre sich nicht nur in den schlechten Zähnen, sondern in seinem gesamten nervösen, Wodka trinkenden Habitus niedergeschlagen haben.

Sicher hatten wir viele Gemeinsamkeiten – wir hörten die gleiche Musik, die Röcke der Mädchen wurden auch in Polen immer kürzer und die Haare der Jungen immer länger in jenen Jahren. Anders als in der DDR hielten sich die Mächtigen mit diesen Petitessen nicht auf und ließen uns gewähren. Auch wenn die Platten mit der neuesten Musik nicht im Laden zu kaufen waren, sondern von Radio Luxemburg überspielt werden mussten, konnten wir uns fast so frei fühlen wie im Westen, bis uns 1968 auf den Boden der geografischen und geopolitischen Tatsachen zurückholte.

Wobei das polnische 1968 in gewisser Weise auch wie das deutsche im Juni 1967 begann. Infolge der Niederlage ihrer arabischen Verbündeten im Sechstagekrieg mit Israel avancierten Israel und der »Zionismus« im sowjetischen Block zur größten Bedrohung des »Weltfriedens« und zu einem Hauptobjekt aller fortschrittlichen Kämpfe gegen »Imperialismus« und »Aggression«. Die Vorgaben kamen aus Moskau, doch in der Ausgestaltung der Kampagnen waren die Bruderländer frei, und die polnischen Genossen erwiesen sich als besonders engagiert. In einer Rede am 19. Juni 1967 vor den Delegierten des Gewerkschaftskongresses beschuldigte der erste Parteisekretär Gomulka die jüdischen Bürger Polens, sie hätten mit Freudenfesten auf die Aggression und den Sieg Israels reagiert. Er sprach davon, dass die Juden eine »fünfte Kolonne« im sozialistischen Polen bilden, und erklärte, »... wir haben die polnischen Staatsbürger jüdischer Nationalität nie daran gehindert, nach Israel zu übersiedeln, wenn sie das wünschten. Wir sind der Meinung, dass jeder polnische Staatsbürger nur eine Heimat haben kann – die Volksrepublik Polen.«

Ganz so falsch lag Gomulka mit seinen Beschuldigungen nicht – die wenigen Juden, die nach den vorhergegangenen Auswanderungswellen von 1946–1948 und 1956–1958 in Polen verblieben waren, so an die 30000, hatten sich zwar sehr bemüht, »nur eine Heimat« zu haben. Viele von ihnen waren Kommunisten und hatten auf dem Weg der »roten Assimilation« gehofft, den »reaktionären Überbleibseln« des Antisemitismus zu entkommen. Viele hatten die deutsche Besatzung mit »arischen« Papieren überlebt, behielten nach dem Krieg ihre polnischen Namen bei und versuchten, mit dem Namen auch eine polnische Identität anzunehmen. Trotzdem waren sie immer auf der Hut, verfolgten minutiös alle Anzeichen staatlich gelenkten wie volkstümlich verankerten Antisemitismus und beurteilten die Verhältnisse vor allem nach dem Kriterium »gut für die Juden/schlecht für die Juden«. Sie wussten, wie schlecht es für die Juden gewesen wäre, wenn die arabischen Verbündeten der Sowjetunion Israel überrannt hätten, und reagierten auf den Sieg Israels mit Erleichterung und Freude, was nur deutlich machte, wie oberflächlich und brüchig ihre angenommenen Identitätskonstruktionen gewesen waren. Jetzt kam es zu Tage – angesichts der Bedrohung fühlten sie sich in erster Linie als Juden, und Gomulka hatte sie dabei erwischt! So konnte es nichts werden mit der »einen Heimat« und die Ausladung war überdeutlich ausgefallen. Sie wurde von Mieczyslaw Moczar, Innenminister und Anführer der so genannten Partisanengruppe, einer besonders nationalistischen und antisemitischen Fraktion in der Partei, in die Tat umgesetzt. Unter seiner Federführung begannen »antizionistische« Säuberungen in der Armee und im Staatsapparat. Und Juden, die sich mit ihren angenommenen Namen und Identitäten gut getarnt wähnten, mussten feststellen, dass die Sicherheitskräfte über die Abstammung ihrer Bürger genau Buch geführt hatten, und zwar mit einer Präzision, die an den Nürnberger Gesetzen geschult war.

Aber noch schien sich alles nur in bestimmten Teilen des Staats- und Militärapparats abzuspielen und es gab viele Möglichkeiten, der Stigmatisierung als »Fünfte Kolonne« und der damit verbundenen Aussonderung aus dem »wahren Polentum« durch Identifikation mit der ablehnenden Haltung der polnischen Bevölkerung gegenüber dem sowjettreuen Regime zu entkommen. Die Freude über den Sieg Israels hatte sich nicht nur auf die Juden beschränkt. Die Abneigung gegen die sowjetischen »Freunde« führte in großen Teilen der polnischen Bevölkerung zu einer Sympathie mit Israel, das es den sowjetischen Verbündeten mal richtig gezeigt hatte. Der Dichter und begnadete Spötter Antoni Slonimski beantwortete Gomulkas Formulierung von der einen Heimat, die man nur haben dürfe, mit dem Bonmot: »Gut, ich verstehe, dass man nur eine Heimat haben kann, aber warum muss es Ägypten sein?«

Es gab noch ein Polen, dem man sich zugehörig fühlen konnte, das Polen des funkelnden Spotts über die Mächtigen, und für uns Jüngere auch das romantische, um Freiheit kämpfende und leidende, von der kommunistischen Partei diffamierte Polen, das der sowjetischen Diktatur widerstand.

Dieser politische Widerstand, der sich orientierte an den Aufständen gegen das zaristische Russland im 19. Jahrhundert und an dem heroischen Kampf der polnischen Untergrundarmee gegen die deutsche Besatzung, hatte bald Gelegenheit, sich mit großem Pathos zu artikulieren. Das polnische Nationaltheater brachte im November 1967 das Stück Dziady (Ahnenfeier) auf die Bühne, ein Hauptwerk von Adam Mickiewicz, dem großen Nationaldichter der Romantik. Ein komplexes Stück, dessen bekanntester Teil unter dem Eindruck des von den zaristischen Truppen niedergeschlagenen Novemberaufstands von 1830 verfasst wurde und den nationalen Freiheitskampf mit mystischer Emphase beschwor. Das Stück, an dessen patriotischer Mystik sich Generationen von Schülern abquälten, schien in der Inszenierung von 1967 eine ungeheure Aktualität zu erlangen. Alle antizaristischen Bezüge klangen von der Bühne wie antisowjetischer Protest, und die Warschauer pilgerten ins Theater, um entsprechende »Stellen« mit Ovationen zu begrüßen. Das fing schon mit der ersten Szene an, als der Hauptdarsteller auf die leere Bühne kam, um die Widmung vorzulesen, die Mickiewicz seinen nach Sibirien verbannten Freunden zugedacht hatte. Das Publikum erhob sich, um auf diese Weise aller von den Sowjets Deportierten und Ermordeten zu gedenken. »Seit einem halben Jahrhundert fast schickt man uns aus Moskau nur Schurken«, heißt es in einer anderen Szene, die im Applaus fast unterging.

Auch die »polnischen Bürger jüdischer Nationalität«, die Gelegenheit hatten an diesen obrigkeitskritischen Demonstrationen teilzunehmen, tauchten ein in ein beflügelndes Gemeinschaftsgefühl. Konnte man mehr dazugehören als in diesen Momenten? Hier war doch die »eine« Heimat – nicht da, wo die hässlichen Worte von Gomulka fielen und die Agenten von Moczar für eine judenreine polnische Armee sorgten.

Doch die Partei, die ihre Macht den sowjetischen Panzern verdankte, hatte natürlich eine andere Vorstellung von polnischem Patriotismus. Es war klar, dass dieses Stück, das mit dem romantischen Freiheitspathos des 19. Jahrhunderts die Jugend zum Aufbegehren gegen die Parteidiktatur animierte, abgesetzt werden musste. Seltsamerweise geschah das nicht schnell und diskret, sondern mit Ansage – ganz Warschau wusste, dass am 30. Januar 1968 die letzte Vorstellung stattfinden sollte. Das war, als würde in Deutschland eine Aufführung von Faust abgesetzt, weil sie den Emissären von Mephisto nicht behagt. Als nach langen Ovationen der letzte Vorhang fiel, formierte sich eine kleine Demonstration zum unweit gelegenen Denkmal des Dichters. Das Ganze wirkte in den ausgestorbenen nächtlichen Straßen Warschaus etwas surreal, kam aber den Sicherheitskräften sehr entgegen, denn sie bekamen die wichtigsten studentischen »Rädelsführer« wie auf dem Tablett serviert.

Unter der Warschauer Intelligenzija gärte es. Der Schriftstellerverband berief eine außerordentliche Sitzung ein und verabschiedete eine Resolution gegen die repressive Kulturpolitik der Partei. Die Studenten riefen für den 8. März zu einer Protestkundgebung in Solidarität mit den Kommilitonen auf, die infolge der Demonstration Repressionen ausgesetzt waren. Die Stimmung dieser Kundgebung hatte mehr zu tun mit einem »Sire, geben Sie Gedankenfreiheit« als mit den antiautoritären Aktionen der westlichen Studenten. Mit diesem Gestus wusste man sich im Einklang mit der Tradition nationaler Freiheitskämpfe und war sich auch der Unterstützung der Bevölkerung gewiss. Als wir am nächsten Tag in unserer nah an der Universität gelegenen Schule mit Stolz die Wunden vorzeigten, die wir abgekriegt hatten, als die Sicherheitskräfte und das »proletarische Aktiv« die Studenten nach der Kundgebung mit einer Prügelorgie in Empfang nahmen, erzählten wir mit besonderer Begeisterung Geschichten von der Solidarität der Bevölkerung. Von der Verkäuferin, die flüchtende Studenten in das Hinterzimmer ihres Ladens ließ und sich den Milizionären entgegenstellte, von den Busfahrern, die anhielten, um Studenten aufzunehmen und mit quietschenden Reifen den sie verfolgenden Zivilbullen davonfuhren. In Kürze breiteten sich die studentischen Unruhen auf die anderen Hochschulen Warschaus und auf andere Städte aus. »Es gibt kein Brot ohne Freiheit«, lautete eine beliebte Parole.

Es sah alles so schön nach einem Protest aus, der die romantische Tradition aussichtloser, aber erhebender nationaler Aufstände gegen fremde Besatzer und Unterdrücker fortschreiben sollte. Doch wenn man die anschwellende propagandistische Gegenoffensive in den staatlichen Medien (und nur solche gab es ja damals) verfolgte, war es, als würde die ganze erhebende Schönheit in Scheiße getunkt. Da war nicht einfach von »Rowdys« und »Provokateuren« die Rede, wie wir es gewohnt waren. Die inkriminierten Rädelsführer hatten fast nur jüdische Namen. Und da, wo ein polnischer Name erwähnt wurde, tauchte in Klammern ein bedrohliches »Alias« auf – Michnik (alias Schaechter) zum Beispiel. Das »Alias« suggerierte, dass hinter allem die Juden steckten, auch wenn sie mit einem polnischen Namen die Welt zu täuschen versuchten.

Die studentischen Proteste, die von einem Angriff auf die Freiheit der nationalen Kultur ausgelöst worden waren, wurden zu einem Werk »fremder«, »zionistischer«, mit dem historischen Feind Polens, dem »revanchistischen« Deutschland, verbündeter »Agenturen« verballhornt. Als Erfüllungsgehilfen wurden die Kinder »politischer Bankrotteure« dingfest gemacht, das heißt entmachteter jüdischer Kommunisten, die seinerzeit in »fremder (d.<|>h. sowjetischer) Uniform« nach Polen einmarschiert waren. Das Ganze noch gewürzt mit giftigen Ausfällen gegen renitente Schriftsteller, die wegen ihrer führenden Rolle bei dem Protest gegen die Kulturpolitik und wegen ihres großen Ansehens in der Bevölkerung die besondere Wut des Parteiapparats auf sich gezogen haben. Die »proletarischen Massen« wurden in Marsch gesetzt, um auf gelenkten Kundgebungen ihren Zorn gegen Studenten, Schriftsteller, Zionisten und Revanchisten kundzutun. Verteilte Transparente verurteilten die zionistischen Aufrührer und ihre studentischen Helfershelfer. Auf einer solchen Kundgebung soll – so will es die Legende – ein Transparent mit der Inschrift »Zionisten nach Siam« gesichtet worden sein.

»Die Presse lügt«, verkündeten die Transparente der Studenten. In diesen Aufschrei mischte sich zunehmend Verzweiflung, denn es gelang den Studenten nicht, den Protest aus den Hochschulen hinaus in die Bevölkerung zu tragen und hinter die verschlossenen Gesichter der Menschen auf den Massenkundgebungen zu dringen.

Eine »zionistisch-revanchistische Achse Tel-Aviv–Bonn«, die politischen Bankrotteure in fremden Uniformen – dieses scheinbar absurde Gebräu war ein Meisterstück der Propaganda, das im traditionellen antisemitischen Diskurs Polens ohne Schwierigkeiten zu dechiffrieren war: Hier spielen sich Leute auf, die polnische Kultur zu verteidigen, die mit dem Polentum nichts zu tun haben, die aufgewachsen sind als privilegierte »Bananenjugend«, und deren Eltern, die früher hohe Stellungen innehatten oder heute noch haben – entsprechend dem verbreiteten antisemitischen Stereotyp des »jüdischen Kommunismus« – im Auftrag einer fremden Macht den Kommunismus in Polen installiert haben. Diese für eine Parteidiktatur von sowjetischen Gnaden halsbrecherische Konstruktion sollte die weit verbreitete antisowjetische Haltung der Bevölkerung gegen die Protestbewegung lenken. So konnten alle Repressionsmaßnahmen, die gegen die geforderten demokratischen Freiheiten gerichtet waren und zur Festigung des sowjettreuen Parteiregimes führten, als der eigentliche patriotische Kampf gegen einen jüdischen Angriff auf die polnische Souveränität dargestellt werden.

Es war klar, dass in diesen Strömen von Jauche und Hass, die sich flächendeckend aus allen Medien ergossen, die nationalkommunistische »Partisanenfraktion« von Mieczyslaw Moczar die Feder führte. Die Deuter der Parteikabalen meinten darin einen heftigen Machtkampf zwischen den Moczar-Leuten und dem amtierenden Parteisekretär Gomulka zu erkennen. Doch bei einer Rede am 19. März vor dem »Parteiaktiv« Warschaus zeigte Gomulka, dass er die Waffen, die angeblich gegen ihn gerichtet waren, auch gut zu handhaben verstand. Nach einer geifernden Diffamierung gegen die Schriftsteller wandte er sich wieder den Bürgern jüdischer Nationalität zu, um ihnen eine weitere Lektion in Heimatliebe zu erteilen. Unter lautem Zuspruch aus dem vor Pogromlust bebenden Saal teilte er die Juden in drei Kategorien eine. Solche, deren primäre Loyalität dem Staat Israel gelte – die haben in Polen nichts verloren und können ihre Ausreise nach Israel beantragen, führte er aus, während der Saal »gleich« und »noch heute« brüllte. Dann gebe es die bedauernswerten jüdischen Bürger, die eine gespaltene Loyalität verspüren – die dürfen bleiben, sollen aber keine leitenden Stellungen innehaben. Und dann gebe es jene, deren Herz ganz für die sozialistische Heimat Polen schlage – die dürfen sich in Polen zu Hause fühlen.

Die Rede konnte man auf den Bildschirmen verfolgen, und wie versteinert sahen die Juden zu, wie dieser Aufruf zu ihrer Vertreibung dem ganzen Land kundgetan wurde. Damit sie nicht etwa auf die Idee kämen, trotzdem für die Volksrepublik Polen zu optieren, wurde kräftig nachgeholfen. In allen Betrieben wurde das Parteiaktiv mobilisiert, Entscheidungshilfe zu leisten. Juden wurden mit absurden Vorwürfen aus der Arbeit und, wo noch nötig, auch aus der Partei geworfen. Hatten sie Kinder, die studierten oder gar bei den studentischen Protesten aufgefallen waren, wurde ihnen zur Last gelegt, dass sie ihre Kinder im feindlichen Geist gegenüber der sozialistischen Heimat erzogen hätten. Das veranlasste den siebzigjährigen Antoni Slonimski zu der Bemerkung: »Bin ich froh, Vollwaise zu sein, sonst müssten meine Eltern jetzt wegen mir leiden.«

Doch diesmal gelang es nicht mehr, die Bedrängnis wegzulachen. Viele Familien standen plötzlich ohne Mittel zum Leben da, ohne Perspektiven für ihre Kinder, die von der Universität relegiert und häufig nur deshalb verhaftet wurden, weil ihr Name und ihre jüdische Herkunft zu der herrschenden Verschwörungstheorie passten. Und die nicht nachlassende antisemitische Hetze ließ noch Schlimmeres befürchten. Schließlich waren sie alle, außer den nach dem Krieg Geborenen, nur knapp dem Tod durch die Nazis entronnen, und das lag ja nur etwas mehr als zwanzig Jahre zurück. Wenn man älter ist, weiß man, dass zwanzig Jahre für die Erinnerung sich anfühlen wie gestern. Damals verstanden wir Jüngeren das vielleicht nicht ganz, aber wir spürten ein allgegenwärtiges Grauen, das weit über den Schrecken hinausging, den wir aktuell erlebten. Die Haushälterin meiner Eltern bot an, uns zu verstecken, wenn es »wieder so weit ist«. Es schien nicht mehr abwegig zu denken, dass es wieder so weit kommen könnte, und darauf wollten es die meisten nicht ankommen lassen.

Der Exodus begann. Das Regime hatte sich ein genaues Prozedere ausgedacht. Es mussten Papiere für die Ausreise nach Israel beantragt werden. Um diese zu erhalten, musste der Antragsteller die polnische Staatsbürgerschaft aufgeben und erhielt dann ein Reisedokument, auf dem stand: »Der Inhaber dieses Dokuments ist nicht polnischer Staatsbürger. Gültig nur für die Ausreise nach Israel.« Das selbst erschaffene antisemitische Konstrukt von den Juden, die keine Polen sind, weil sie Israel als ihre Heimat betrachten, wurde mit diesem Dokument beglaubigt, das unter den Ausreisenden als »Dokument einer negativen Staatsbürgerschaft« bezeichnet wurde. Für jede Ausreisegenehmigung musste eine erhebliche Summe Geld entrichtet werden. Für eine mehrköpfige Familie konnten auf diese Weise sehr hohe Kosten entstehen. Im Auftrag jüdischer Hilfsorganisationen wurden diese von der holländischen Botschaft übernommen, die seit dem Abbruch diplomatischer Beziehungen die Interessen Israels in Polen vertrat. Mitnehmen durfte man nur gebrauchtes Mobiliar, das vorher einer genauen Zollprüfung unterzogen werden musste. Dann wurden die ärmlichen Habseligkeiten, die einen Neuanfang in der Fremde abpolstern sollten, von einer Spedition übernommen und bei Ankunft im endgültigen Zielland ausgeliefert.

Die Reise ging zuerst nach Wien, wohin der »Chopin-Express« vom Danziger Bahnhof in Warschau die Vertriebenen brachte. Dort wurden sie von jüdischen Hilfsorganisationen in Empfang genommen, und diejenigen, die sich für eine Auswanderung nach Israel entschlossen hatten, gleich weitergeschickt. Wer in die Vereinigten Staaten wollte, musste zunächst nach Rom, wo sich das dortige amerikanische Konsulat um die Klärung des Einwanderungsbegehrens kümmerte. Von den europäischen Ländern machten Dänemark und Schweden ein sehr großzügiges Angebot, die Flüchtenden aufzunehmen und sie bei Spracherwerb, Arbeitssuche und Studium zu unterstützen. So entschlossen sich viele, dorthin weiterzureisen, obwohl sie zu diesen Ländern keinerlei Bezug hatten. Andere europäische Länder hatten solche Hilfsprogramme zwar nicht, stellten sich aber einer Aufnahme auch nicht in den Weg, so dass sich diese jüdischen Flüchtlinge von Europa und der Welt nicht so allein gelassen fühlen mussten wie ihre Vorgänger in der Nazizeit. Eine Großzügigkeit, die angesichts der relativ geringen Zahl der Flüchtenden – etwa 15- bis 20000 – und ihrem meist sehr hohen Bildungsstand nicht viel kostete.

Während die Juden packten und von Amt zu Amt rannten, sorgten die Sicherheitskräfte für eine nachhaltige Befriedung der Unruheherde an den Universitäten. Tausende von Studenten wurden im ganzen Land von den Universitäten relegiert und teilweise in Strafkompanien der Armee eingezogen. Einige Fakultäten – die Soziologie, Philosophie und Ökonomie – wurden zeitweise geschlossen. Bedeutende Professoren, die man als geistige Anstifter der Unruhen brandmarkte, wurden samt ihren Assistenten entlassen – so die Philosophen Leszek Kolakowski und Bronislaw Baczko, die Soziologen Zygmunt Baumann und Maria Bielinska, der Ökonom Wlodzimierz Brus. Die Tristesse, die nach diesem Kahlschlag im intellektuellen Leben Polens ausbreitete, ließ nicht ahnen, dass die Studentengeneration von 1968, die im Zuge der Niederschlagung ihrer Proteste die letzten Illusionen über den »Sozialismus« verloren hatte, den Kern der künftigen demokratischen Opposition bilden und entscheidend zur Entstehung von Solidarnosc und der Wende von 1989 beitragen wird.

Doch das alles war nicht mehr die Welt der Juden, die sich auf die Auswanderung vorbereiteten. Sie lebten bereits im Niemandsland der gepackten Koffer und sich auflösenden Haushalte. Mit ganzer Kraft mussten sie sich wappnen gegen die Angst vor der völligen Ungewissheit und dem Verlust von allem, was ihnen vertraut war. Mit Sprüchen wie: »Ich kann’s nicht erwarten, von der anderen Seite der Grenze rüberzuspucken«, machte man sich Mut.

Jahre mussten vergehen, bis diese Verbitterung sich löste. Als im August 1980 die Streiks auf der Danziger Werft begannen, passierte etwas Merkwürdiges – ich fühlte mich plötzlich zunehmend fremd in dem Land, in dem ich lebte und in dem ich doch gut integriert war, mein Herz schlug nur noch dort, wo ich hatte rüberspucken wollen, und ich fieberte jeder Nachrichtensendung entgegen. Dann der Anruf: Wir haben das Abkommen unterzeichnet! Dieses verloren geglaubte »Wir« schien die Verhärtungen aufzuweichen und öffnete die vorher gut abgedichteten Schleusen der Trauer.

In dem Dokumentarfilm Danziger Bahnhof, den die polnische Journalistin Teresa Toranska 2005 über die emigrierten Juden von 1968 gedreht hatte, weinen sie auf jeden Fall alle. Die eine, weil so viele Kommilitonen sie zum Bahnhof begleitet hatten, die andere, weil ihre Freundinnen Angst hatten, sie zu begleiten. Der eine, weil ein Kollege sagte, »ich hoffe, ihr könnt zurückkommen«, der andere, weil ein Kommilitone sich plötzlich als Antisemit entpuppte. Aber vor allem weinen sie über die verloren gegangene Zugehörigkeit. Denn wo immer sie auch gelandet sind – in Israel, den USA, in Schweden, Dänemark, Deutschland oder Holland – mit dem »Wir« hat es nicht mehr so gut geklappt.

Der Westen, der im Vergleich mit dem tristen »sozialistischen« Alltag vor Wohlstand glitzerte, war ihnen vollkommen fremd. Sie hatten ja nie Gelegenheit gehabt zu reisen und sich ein Bild von dieser Welt zu machen, in der sie jetzt übergangslos gelandet waren. Dass die westlichen Gesellschaften sich in einem Umbruch befanden, bei dem die Studenten alles in Frage stellten, machte die Orientierung auch nicht einfacher. Denn für die aus Polen vertriebenen jüdischen Neuankömmlinge war es schwer zu begreifen, was diese Studenten eigentlich wollten. Aus ihrer Perspektive hatten sie doch alles – Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Freiheit der Lehre und einen Alltag, der nicht angefüllt war mit Schlangestehen nach unentbehrlichen Gütern des täglichen Bedarfs. Gut, es gab den Vietnamkrieg, da waren die polnischen 68er zum Teil auch dagegen. Aber dass sich die protestierenden Studenten den Sozialismus auf die Fahnen geschrieben hatten, trug zur Generationengemeinsamkeit nicht so recht bei. Sie behaupteten zwar, nicht den sowjetischen zu meinen, doch mit ihren Porträts von Mao weckten sie den Verdacht, einen noch schlimmeren Sozialismus im Schilde zu führen als den, dem man gerade entronnen war.

Die Fremdheit war aber nicht nur im Umfeld der von linker Proteststimmung erfassten Studenten spürbar. Für die Tschechen, die sich den sowjetischen Panzern entgegengestellt hatten, gab es verbreitete Sympathien, ihr Leiden war klar und nachvollziehbar. Doch mit diesen polnischen Juden und ihrer antisemitischen Verfolgungsgeschichte, die aus einer anderen Epoche zu stammen schien, konnte im Westen kaum jemand etwas anfangen. Und wie sollten sie sich auch erklären, was sie erlebt hatten: Da wurde ein Stück abgesetzt, es gab Demonstrationen, Verhaftungen und dann wurde behauptet, dass die Zionisten mit den deutschen Revanchisten und den Schriftstellern und den Bankrotteuren in fremder Uniform, die doch eigentlich, obwohl … Man bekam doch selbst einen Knoten im Kopf, wenn man versuchte, etwas von diesem Irrsinn zu vermitteln. Und kam sich vor wie ein neurotischer Jude aus einem Film von Woody Allen, der mit seinen unerfreulichen Geschichten zur Spaßbremse auf jeder Party wird.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 2/2008