Bernd Rheinberg

Gesellschaftsfeinde

»Feinde« und »Feindschaft« sind doch nicht ausgestorben – das zu verkennen, ist gefährlich

 

 

Mike B. sorgte für Irritation in unserer Runde. Mike, vor 38 Jahren in einem Dorf in der Pfalz geboren, lebt seit bald zehn Jahren in Berlin. Er ist Programmierer in einem mittelständischen Maschinenbaubetrieb, verheiratet, hat eine Tochter. Von Zeit zu Zeit kommen wir zusammen, fünf Männer, spielen Poker, in der altmodischen Art, mit fünf Karten auf den Händen, nicht wie im Fernsehen. Heute sorgte Mike für eine Irritation. Und er brauchte dafür nur ein Wort, dass das Spiel und das entspannte Hin und Her unserer Worte stockte.

Jemand hatte vorgeschlagen, mal einen Ausflug ins Umland zu machen, nach Brandenburg. Wir, vier Männer, waren dafür. Nur Mike nicht. Er erklärte, fast beiläufig, dass er nicht ins Umland fahre. Generell nicht?, fragte einer. Generell nicht, antwortete Mike. Ich habe schon meine Erfahrungen mit Glatzen gemacht, sagte er. Wir schwiegen. Wie sollte man angemessen darauf reagieren? Mit Bedauern, mit Empörung, mit Anteilnahme? Mike ist dunkelhäutig. Mit den Nazis oder Skins, mit denen er seine »Erfahrungen« gemacht hatte, von denen wir bislang nichts wussten, hatten wir nichts gemein, außer der Hautfarbe, außer der Nationalität. Aber auch Mike ist Deutscher. Bleibt nur ein kleiner Unterschied. Aber der reichte immerhin für eine kurze Beklemmung, die sich in ein paar Flüchen gegen die Nazis, die Unbelehrbaren, die Mistkerle Luft machte und unsere Ratlosigkeit verdeckte. Für Mike ist Berlin immer noch eine Insel, für ihn ist es erheblich riskanter, in bestimmte Gegenden Brandenburgs zu fahren als für uns. Konnten wir deshalb als liberale, aufgeklärte und zivilisierte Menschen ein schlechtes Gewissen haben? Sicher nicht. Und doch war etwas Trennendes im Raum, für das wir keinen Namen hatten. Es ist gut möglich, dass Mike das bemerkte und deshalb wieder das Wort ergriff. Aber dass er uns damit ein Angebot machte, die Trennung zu überwinden, das verstanden wir erst sehr viel später. Mike sagte – und zwar nicht mehr beiläufig oder abgeklärt, sondern fest und voller Gewissheit –, er sagte: Diese Leute, das sind meine Feinde. Damit war es ausgesprochen, das Wort, das für Irritation sorgte. Einer hob die Augenbrauen, unschlüssig, was er von dieser Bezeichnung halten sollte, ein anderer wiegte den Kopf hin und her, der Dritte fragte, was wir dachten: Kann man das so sagen?

Muss man es nicht sogar? Es ist eine sonderbare Sache mit diesem Wort: Feind. Vielen scheint es vergiftet, weil missbraucht, gefährlich gar, gefährlicher als die Situation und der Gegner, als wäre es ein Wort mit Reißzähnen oder die eigentliche Bedrohung, die die Hirne vernebelt. Vielleicht war uns die Entschiedenheit, mit der Mike das Wort aussprach, schon ein Beleg dafür, dass hier etwas außer Kontrolle geraten könnte. Denn ist eine erklärte Feindschaft nicht implizit eine Kriegserklärung? Mikes Verhalten ist allerdings als äußerst defensiv einzustufen, schließlich geht er einer Gefahr durch Selbstbeschränkung aus dem Weg, die für ihn ein nicht unerhebliches Opfer ist: Er muss, um sein Leben zu schützen, seine Mobilität, seine Freiheit einschränken. Und das muss er tun ohne die erklärte Feindschaft einer einzelnen, bestimmten Person, die ihn genau kennt mit Namen: als Nachbar, Kollege oder Konkurrent.

Die deutsche Sprache macht keinen Unterschied zwischen einem privaten und einem öffentlichen, also politischen Feind. Da Mike nicht als Mike B., 38 Jahre alt, wohnhaft in Berlin, der etwas Bestimmtes getan hat, bedroht wird, sondern bloß als Mensch mit dunkler Hautfarbe, ist die Feindschaft, die ihm entgegengebracht wird, eine politische. Die lateinische Sprache kennt diese Unterscheidung zwischen hostis, dem öffentlichen, und inimicus, dem privaten Feind. Für Mike macht das in der Bedrohungslage vielleicht keinen großen Unterschied, aber mit Sicherheit für uns. Denn was sollte uns davon abhalten, Mikes öffentlichen Feind auch für unseren Feind zu halten?

Es ist Carl Schmitt, der in seiner Schrift Der Begriff des Politischen auf die Unterscheidung zwischen privatem und politischem Feind hingewiesen hat. Mit der Nennung des Namens Carl Schmitt ist zugleich einer der Gründe genannt, warum der politische Begriff Feind nicht mehr benutzt werden soll. Schmitt, der »Kronjurist« des Dritten Reiches, fungiert nicht erst seit gestern quasi als Kronzeuge gegen das Verderbliche, das im Begriff Feind stecke. In seinem Tagebuch findet sich im Jahr 1947 der Eintrag: »Immer wieder bin ich erschrocken über die Feindschaft, die das bloße Aussprechen des Wortes … ›Feind‹ gegen mich entfesselt hat.« Aber das war zu einer Zeit, die den Missbrauch dieses Begriffs noch in guter Erinnerung hatte, einen Missbrauch, der allerdings nicht erst mit den Nationalsozialisten und ihrem hemmungslosen propagandistischen Gebrauch von Feindbildern seinen Anfang nahm, denn die Erz- oder Todfeindschaft, die Deutschland zum Beispiel mit Frankreich pflegte, ist sehr viel älter. Sie hatte vor allem den konstitutiven Zweck, Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Nationalgefühl und schließlich den Freiheitsdrang der Deutschen zu beleben. Keiner hat dies mit solcher Entschiedenheit und Radikalität betrieben wie Ernst Moritz Arndt, der unverhohlen den Völkerhass predigte: »Hass gegen die Fremden, Hass gegen die Franzosen, ... brennender Hass gegen alles, was nur von ihnen kommt, das muss alles Deutsche fest und brüderlich vereinen«, heißt es in einer seiner Flugschriften.

Schmitts Erörterungen sind frei von diesem Hass, frei von Dämonisierungen und Aufwallungen jeglicher Art. Wenn Schmitt, einmal abgesehen von seiner zweifelhaften Rolle während der Nazizeit, verstört und Ablehnung auf sich zieht, dann durch seinen sachlichen, jederzeit juristisch-kühlen Stil der Zwischenkriegszeit und eben durch die Betonung des Trennenden, das sich in Freund- und Feindschaft erschließt. Dies sei die Voraussetzung für einen Staat, um handlungsfähig und mithin politisch zu bleiben, alles andere sei Fiktion. Das ist für unsere Zeit, die geradezu inbrünstig das Verbindende betont und darauf tragfähige politische Gebäude errichten will, natürlich starker Tobak. Und wird uns nicht seit bald zwanzig Jahren immer wieder eingetrichtert, wir seien nun auf Dauer nicht mehr von Feinden umgeben?

Tatsächlich war der »Erzfeind« mit 1945 erledigt und mit der Einigung Europas nur noch ein Kuriosum. In der Europäischen Union sind wir in der glücklichen Lage, das eigene Gehäuse durch das Gemeinsame an Werten und Interessen zu konstruieren, wenn es denn nicht sogar eine diplomatische Freundschaft ist, die aber, wie man im Falle Polens gesehen hat, von Wahl zu Wahl schwanken kann. Feindschaft jedenfalls stört und wird auch nicht gebraucht. Europa hat nach Jahrhunderten erbitterter Kriege nun Interessenausgleich und Dialog, Meinungsaustausch und rechtliche Verfahren – das ganze Arsenal moderner, ziviler, weltlicher Rationalität. Es kann sich etwas darauf einbilden.

Aber wenn Europa die Feindschaft als konstitutive Kraft schon länger nicht mehr braucht, so ist sie doch nicht aus der Welt und wird mit Putins Russland, Ahmadinedschads Iran und Chavez’ Venezuela wieder deutlich sichtbar. Und auch in der gelegentlich von den USA praktizierten Aufteilung der Welt in Gut und Böse wird man noch die alten erkennungsdienstlichen Muster der Feindmarkierung identifizieren können – allerdings ohne einen großen politischen Mehrwert.

Doch es bleibt dabei: Wenn man auch selbst niemandem mehr feind ist oder zu sein glaubt, wenn man sich aller imperialistischer oder imperialer Regungen entwöhnt hat oder zwangsgedrungen entledigen musste und zivilen Verfahren bei der Interessenwahrnehmung Vorrang einräumt, so kann man immer noch einen Feind haben, der, wie Schmitt es ausdrückt, »die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wird, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren«.

So ist es für die Staatenwelt besprochen und trotz Völkerrecht weiterhin gültig. Doch längst hat sich das Problem für uns vorrangig auf eine andere Ebene verlagert, und es scheint bisweilen so, als wären wir für diese so akute wie ernste Herausforderung nicht gewappnet. Diese Herausforderung lautet: Gesellschaften, offene – wie Karl Popper sie nannte –, moderne, vielfältige, säkulare, unübersichtliche, profane, freizügige, zivile Gesellschaften haben Feinde. Aber sie werden nicht nur nicht so genannt, sie werden auch noch übersehen, kleingeredet oder gar geleugnet.

Dies ist umso überraschender, weil wir nach den Lehren unserer Geschichte doch fast alle auf der Seite von Mike B. sein sollten oder sogar wollen. Wenn wir das sind, was sind dann die Neonazis, die Mikes Leben bedrohen? Nur Gegner oder Andersdenkende? Vielleicht Staatsfeinde? Wohl kaum. Das war die Rote Armee Fraktion, die Repräsentanten von Staat und Wirtschaft zur Zielscheibe erklärte. Verfassungsfeinde? Das gewiss zu einem guten Teil, denn schließlich sichert unsere freiheitliche Verfassung jedem einzelnen Bürger die Rechte und somit die Möglichkeiten zur freien Entfaltung, und diese Grundlagen wollen Rechtsradikale mit Sicherheit aufheben. Aber das, was Menschen wie Mike tagtäglich erleben müssen, nämlich Einschüchterung, Zwang und Gewalt, das hat die Form unmittelbarer Feindschaft.

Mike hat diese Feindschaft angenommen – nicht dadurch, dass er seinen Feinden den Krieg erklärt, dazu verhält er sich ja viel zu passiv, sondern dadurch, dass er seine hostes als das bezeichnet, was sie sind, nämlich Feinde – und das ist in unserer Gesellschaft beileibe kein selbstverständlicher Akt. Und ich bezweifle, dass es Mike leicht gefallen ist. Denn wer möchte schon einen Feind haben? Aber irgendwann wird Mike genau zu dieser Erkenntnis gekommen sein: Diese Menschen, die sein Leben bedrohen und seine Freiheit einschränken, sind nichts anderes als seine öffentlichen Feinde.

 

Es ist der 11. Dezember 2007. Der junge Mann, dem der Fernsehreporter ein Mikrophon entgegenhält, ringt mit seiner Fassung. Mitten in Algier ist ein mit Sprengstoff voll beladener Lastwagen neben einem Bus mit Studenten detoniert. Die Studenten waren auf dem Weg zu ihrer Fakultät, als der Selbstmordattentäter seine Höllenmaschine neben ihrem Bus zum Explodieren brachte und fast alle tötete. Zur gleichen Zeit verübte ein weiterer Selbstmordattentäter nach gleichem Muster ein Attentat auf das Gebäude des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge. Auch dort sterben etliche Menschen. Der junge Mann, der erst nicht weiß, wie er Verzweiflung und Wut zum Ausdruck bringen soll, findet schließlich seine Worte in Form einer Frage: Er verstehe nicht, wieso Studenten zum Ziel des Anschlags wurden, sie symbolisierten doch die Zukunft des Landes und nicht den Staat. Später erklärt die EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner in einer Pressemitteilung ihre Erschütterung über »diese ruchlosen Anschläge auf Zivilisten«. Bernard Kouchner, französischer Außenminister, spricht von blinder Gewalt gegen die Bevölkerung.

Der Urheber der Attentate, »al-Qaida im islamischen Maghreb«, lässt in einer Internetbotschaft keinen Zweifel daran, dass Zivilisten das Ziel der Anschläge sein sollten – und zwar nicht zufällig, nicht blind, sondern mit Bedacht Zivilisten. Auf der Insel Djerba waren es, Jahre zuvor, Touristen gewesen, Vergnügungshungrige in einer Diskothek auf Bali, Kirchgänger in verschiedenen Orten Pakistans, Käufer auf Märkten in Bagdad, Restaurantgäste in Casablanca, Pendler in Madrid und London. Das sind nicht alle Attentate der vergangenen Jahre. Die Liste ist lang und hätte, wären etliche Anschläge nicht vereitelt worden, noch länger sein können.

Osama bin Laden hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass jeder Amerikaner mit seiner Feindschaft rechnen muss, egal ob »er direkt gegen uns kämpft oder bloß seine Steuern bezahlt«.

In dem Film Hamburger Lektionen von Romuald Karmakar sind die Worte des Hasspredigers Mohammed Fazazi aus der Hamburger Al-Quds-Moschee ebenso unmissverständlich: Die Demokratie sei die Religion des Westens, und ihr Gott das Volk.

Der Militärchef der Taliban, Mansur Dadullah, stellt klar: »Unser Kampf ist global, und ich habe Allah versprochen, dass ich bis an mein Lebensende den Kampf in die Welt tragen werde.« Als Ziele bezeichnet er alle, »die sich gegen den heiligen Koran und den Islam zur Wehr setzen«.

Vor diesem Hintergrund wird das Muster der islamistischen Anschläge der letzten Jahre in ihrem Zusammenhang begreifbar. Diese Feinde haben kaum eine Chance, sich den Staat anzueignen, aber sehr wohl das Klima, die Kultur, das Verhalten einer Gesellschaft zu bestimmen. Anschläge zur Wahlbeeinflussung wie 2003 in Madrid sollen den Souverän, das Volk, treffen, und es ist sehr wahrscheinlich, dass die Anschläge in Madrid die Wahl im Sinne der Attentäter beeinflussten und Nachahmung provozieren werden. Hassanschläge von in ihrer archaischen Ehre getroffenen Männern und Islamisten richten sich gegen Individuen wegen ihrer freizügigen Lebensweise. Anschläge gegen den zivilen Aufbau zerstörter Länder sollen jeden Erfolg demokratischer Gesellschaften verhindern. Anschläge gegen »Ungläubige«, Amerikaner, Juden und Christen, werden gegen diese verübt, weil sie »Ungläubige«, Amerikaner, Juden und Christen sind – nichts weiter.

So viel offene und blutrünstige Feindschaft braucht zuvor eine Menge an Feindseligkeit. Ian Buruma und Avishai Margalit sprechen in ihrem Buch Okzidentalismus von einer »Kette der Feindseligkeit«: gegenüber »der Stadt, die als wurzelloser, arroganter, gieriger, dekadenter und frivoler Kosmopolitismus erscheint; gegenüber dem Geist des Westens, wie er in Wissenschaft und Vernunft zum Ausdruck kommt; gegenüber dem gesetzten Bürgertum, dessen Existenz die Antithese zum sich selbst opfernden Helden darstellt; und schließlich gegenüber dem Gottlosen, der vernichtet werden muss, um den Weg frei zu machen für eine Welt des reinen Glaubens«.

Was hindert so viele daran, dies zu erkennen und als das anzunehmen, was es ist? Natürlich hat die Feindschaft der Islamisten und Djihadisten mit ihren Selbstmordattentaten, Halsdurchschneidereien und laut hinausposaunten Auslöschungsfantasien einen solch starken mittelalterlichen wie apokalyptischen Geruch, dass man sich tatsächlich wünschte, nicht nur den Schrecken, der einem in die Glieder fährt, und die Tatsachen, die Internet, Zeitung und Fernsehen tagtäglich für jeden, der sehen, lesen und verstehen will, in sein Bewusstsein speisen, ab einem gewissen Punkt verdrängen zu können, um überhaupt sein normales Leben unbeschwert weiterzuführen. Für viele in der westlichen Welt ist dieser Punkt aber schon sehr früh gekommen, nein, sie kennen eigentlich gar keinen anderen Zeitpunkt, als von Anfang an jede Bedrohung und jede Feindschaft und jede Kriegserklärung zu verharmlosen, zu leugnen oder zu einer »Reaktion« auf Fehlverhalten von Regierungen, Konzernen oder einfach einer unspezifischen Politik des »Westens« umzudichten. Damit wird der manifesten Drohung aber nicht nur eine fragwürdige Legitimation verliehen, sondern einem selbst eine Distanz, ja, eine moralische Metaposition plus physische Unantastbarkeit herbeihalluziniert, die im Zweifelsfalle nichts nützt und die dem für sich bestrittenen und nicht angenommenen Feind nur ein weiteres Zeichen von Dekadenz ist, die es von der Erde zu tilgen gilt.

Auch aus den scheinbar unvermeidlichen Affekten, die Antiamerikanismus, Antisemitismus und Antikapitalismus produzieren, erwächst wie schon zur Zeit des linken Terrorismus der Siebziger- und Achtzigerjahre eine klammheimliche Sympathie für den Djihadismus, wenn er nur gegen Amerikaner und Juden praktiziert wird. Dies wissen Islamisten und Djihadisten für sich sehr produktiv zu nutzen, indem sie hier und da ein auf den ersten Blick lauteres Ziel zur Begründung ihrer Mordlust heranziehen. So erhalten sie von eigentlich Angefeindeten immer irgendeine Sympathie für irgendein Ziel – ein Paradox, das die Gesellschaft natürlich nur aushalten kann, wenn man diese Feindschaft übersieht. Hinter diesen Sympathien liegt nicht selten auch eine Geringschätzung der eigenen Lebensweise, die auf Werten basiert, deren Vorzüge wir zwar gerne goutieren, die wir aber nicht selbstbewusst verteidigen, weil sie nicht immer unseren moralischen Idealen und unseren Vorstellungen von einer perfekten Welt entsprechen.

Die Feinde der Freiheit sind geschickt darin, die Freiheit zu ihren eigenen Vorteilen und schließlich gegen die Freiheit zu wenden. Daher besteht permanent die Gefahr, dass es diesen Feinden gelingt, die Toleranz, die ihnen entgegengebracht wird, gegen die Toleranten zu missbrauchen. Diese Gefahr ist umso größer, je weiter die Toleranz in eine moralische und politische Wurstigkeit umschlägt. Diese Gleichgültigkeit ist ein Einfallstor für alle antiliberalen Kräfte, gleich welcher Couleur. Aber während unsere Gesellschaft für die Gefahren, die von Rechtsradikalen ausgehen, noch ein einigermaßen funktionstüchtiges Sensorium besitzt, fehlt ihr dies weitgehend für die Bedrohungen und Zumutungen durch islamistische Fanatiker. Schon der Hinweis auf die Bedrohungen durch den Islamismus wird in manchen Kreisen gleich mit dem christlichen Fundamentalismus in den USA gekontert, als könnte damit die Gefahr des Islamismus in irgendeiner Weise relativiert werden.

Es ist kein Zeichen von Schwäche und bis zu einem gewissen Grad sogar eine Stärke unserer westlichen Zivilisation, wenn sie sich Einflüssen anderer Kulturen öffnet. Sie hat das von Anbeginn getan, und wenn das in früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden neben Händlern vor allem Schriftkundigen von Homer und Herodot bis zu Goethe und Schopenhauer vorbehalten und ihrer Neugier geschuldet war, so hat sich das spätestens seit den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts durch die Popkultur, durch globale Verkehrsnetze und die Massenkommunikation so weit geändert, dass man von einer ständigen kulturellen Osmose sprechen kann, die fast alle offenen Gesellschaften prägt. Schließlich ist das Entdecken und Verstehen des Anderen tief in der Neugier und der Sehnsucht des Menschen verankert, und es bedarf nur der Freiheit und der entsprechenden Möglichkeiten – und es lässt sich verwirklichen.

Das Verstehen treibt aber auch sonderbare Blüten, wie das Beispiel des Krieges zur Befreiung Kuwaits im Jahre 1991 besonders anschaulich zeigt. Nie konnte man mehr als im Vorfeld dieses Krieges über die Errungenschaften erfahren, die die Welt dem arabischen Raum zu verdanken hat: die Zahlen und die Astronomie zum Beispiel. Wenn dies den Respekt vor diesen Leistungen gesteigert hat, so kann man sich darüber freuen. Doch die Absicht, die hinter dieser vermeintlichen Aufklärungsarbeit steckte, lag darin, Empörung oder gar Widerstand gegen jene Koalition aus einigen arabischen Ländern und den USA zu mobilisieren, die der Aggression des Diktators Saddam Hussein die Stirn bot und mit militärischen Mitteln Kuwait vom irakischen Usurpator befreite.

Seitdem ist das Postulat von der Anerkennung des Anderen tief in weite Bereiche der Sozial- und Kulturwissenschaften vorgedrungen. Diese Anerkennung ist notwendig für das Funktionieren moderner, offener Gesellschaften. Man sollte darüber diskutieren, wie weit sie gehen kann und ob sie forciert werden muss. Sie geht ganz sicher zu weit, wenn aus dieser Anerkennung wie bei Judith Butler eine moralische Verpflichtung werden soll, die das Eigene radikal hintanstellt, um einem »moralischen Narzissmus« zu entgehen. So wird bei Butler in den Adorno-Vorlesungen aus dem »Mechanismus der Lebenserhaltung« nur ein »Schauplatz der Gewalt«. Menschlich, so konzediert sie, werde man nur, »indem man am Schwanken zwischen dem Rechtsanspruch auf Unversehrtheit und der Abweisung dieses Anspruches festhält«. Und »Anerkennung«, um das Zauberwort der akademischen Linken noch einmal anzuführen, »verpflichtet uns in der Tat manchmal, Urteile auszusetzen, um den Anderen erst einmal überhaupt zu erfassen«. Dass Vorurteile nicht die Grundlage und der Maßstab für ethisches Handeln sein können – wer wollte das bestreiten? Die »Anerkennungsszene« hat aber in den vergangenen Jahren einen folgenschweren Schritt von der Ablehnung rigoroser Selbstbehauptung zu einer Apologie der Selbstaufgabe getan.

Auf dieser Spur ist dann auch »Verstehen« unversehens in »Verständnis« abgerutscht. Die Zahl der Erklärungen für das Verhalten von Terroristen oder gar die Motive von Selbstmordattentätern ist groß: Hass, sexuelle Frustration, mangelnde Bildung, Zukunftslosigkeit, soziale Desorientierung, fehlende Anerkennung, Sinnkrise, Rache, Entfremdung und einiges mehr. Ihnen wird viel Aufmerksamkeit geschenkt, sind sie doch irgendwie aus dem Reich des Seins, aus dem sich für alles eine Erklärung ziehen lässt. Und hat nicht außerdem jeder schon einmal wenigstens einen klitzekleinen Entfremdungszustand erlebt? Doch – so hat es die Terrorismusforscherin Louise Richardson in ihrem Buch Was Terroristen wollen noch einmal einleuchtend nahe gelegt – neben der individuellen Entfremdung und einer gutheißenden Gemeinschaft bedarf es vor allem einer legitimierenden und sinngebenden Ideologie, dann ist der tödliche Cocktail gemixt. Es sollten alle Zutaten unsere Aufmerksamkeit erhalten, erst dann verstehen wir das Geschehen wirklich. Man muss schon einen gewaltigen blinden Fleck haben, um die eingesetzten Mittel und die wirklichen Ziele von Islamisten und Djihadisten ignorieren oder übersehen zu können. Und ihre Forderungen und Absichten, die Errichtung einer Theokratie mit einer homogenen Gemeinschaft in einem Kalifat unter Gottesgesetzen, sind solch grundsätzlicher Natur, sind eine solche totale »seinsmäßige Negierung« unseres Seins, unseres Lebens in einer Demokratie mit einer heterogenen Gesellschaft in einer friedlichen Staatenwelt unter menschengemachten Gesetzen, dass mit einer friedlichen Überwindung des Trennenden nicht gerechnet werden kann.

Aber den Graben zwischen Staat und Gesellschaft könnten sie für uns gefährlich vertiefen.

 

Das hatte es zuvor nicht gegeben: Etwa 440 v. Chr. gab Perikles dem Bildhauer Phidias den Auftrag, den Tempel der Athene auf der Akropolis mit einem umlaufenden Figurenfries zu versehen. Dieser Parthenon-Fries zeigt auf einer Länge von rund 160 Metern den alle vier Jahre stattfindenden Panathenäen-Zug mit Göttern und Heroen, vor allem aber mit einer sehr großen Anzahl Menschen in Festesfreude, feierlich und ausgelassen, friedlich und würdevoll. Es ist das erste plastische Selbstzeugnis einer freien Bürgerschaft, voller Selbstbewusstsein und mit großer Anmut. Und es ist der Ausdruck eines Stolzes, den die perikleische Demokratie aus ihren ersten Erfolgen zog.

Machen wir für einen Moment ein Gedankenexperiment: Wie sähe solch ein Fries für unsere heutige Zeit und unsere moderne Gesellschaft aus?

Zunächst sähen wir statt der antiken Zweispänner schwere Geländewagen und Motorräder; andere Personen würden sich auf Fahrrädern und Inline-Skatern fortbewegen. Statt Pferden, Schafen und Rindern liefe vereinzelt ein Hund mit, der eine herausgeputzt, der andere verwildert. Die Menschen unterschieden sich stärker in der Kleidung: Die einen trügen dunkle Business-Anzüge, andere Freizeitkleidung aus Ballonseide, wieder andere Jacken und Hosen mit Tarnflecken, weitere ihre weißen Kittel oder – wegen des Anlasses! – ihren Sonntagsstaat, andere trügen fast gar nichts auf der Haut oder nur schwarzes Leder oder rätselhafte Arabesken, die sie einer bestimmten Gruppe zuordneten oder die einer ganz individuellen Erklärung bedürften. Es sähe bunter aus, auch weil die Hautfarben sich zahlreicher unterschieden. Kein Dionysos ginge mit seinem Thyrsosstab vorneweg, aber seine neuen Satyrn und Mänaden, die keinem Gott folgen, nur ihrem Bedürfnis, sich zu vergnügen oder zu posieren, paradierten straffen Rückens und mit geblähter Brust, ein Getränk oder ein Telefon in der Hand, ohne Scham vorneweg. Manche blieben stehen, nähmen gar Platz, ohne Rücksicht auf die Folgenden oder Interesse für das Geschehen. Andere benutzten ihre Stimmen oder, wenn ihnen das nicht zu genügen schiene, Trillerpfeifen, um für ihr Anliegen Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erhalten. Sie hielten Plakate in die Höhe, Transparente, und am Ende trügen einige auch einen Baldachin, darunter ein Geistlicher mit einer Monstranz, wenige würden ihm folgen, sie sängen voller Hingabe, doch wir verstünden sie ja nicht. Wir sähen nur, dass alles nebeneinander und gleichzeitig existierte: Anmut und Frivolität, Schönheit und Hässlichkeit, Ernst und Ausgelassenheit, Enthusiasmus und Benommenheit, Anstand und Zügellosigkeit. Es ist, als dürften und mochten sich die Regungen der Seele ohne großes Bedacht oder in einer selbst gewählten Form entäußern. Damit erwerben diese Menschen keine Verdienste, daraus ziehen diese Menschen keinen Stolz, und doch ist ihnen allen ein gewisses Selbstbewusstsein anzumerken, ein Selbstbewusstsein, das aus der Möglichkeit kommt, sich frei zu bewegen, sich frei zu äußern, sich frei zu verhalten.

Auf der soziologischen Ebene würden nicht wenige darin ein bloßes Abbild der vorherrschenden Individualisierung der Gesellschaft, der Atomisierung gar oder des sozialen Partikularismus sehen. Und wenn diese kritischen Beschreibungsmuster auch zu bestimmten Entwicklungen passen, so ändern sie doch nichts an diesem Selbstbewusstsein freier Bürgerschaften oder Zivilgesellschaften, die, in zunehmender Selbstorganisation, auf der politischen Ebene dem Staat und seinen Institutionen Konkurrenz machen. Das Politikmonopol des Staates existiert nicht mehr, er hat Konkurrenten bekommen: gesellschaftliche Akteure mit Prominenz, Kapital und Ideen, multistaatliche Gemeinschaften, global tätige Unternehmen, internationale Organisationen mit Privatrecht, um nur einige zu nennen.

Die zunehmende Souveränität der Zivilgesellschaft zeigt sich unter anderem auch in der wachsenden Zahl der Nichtregierungsorganisationen. Auf der Klimakonferenz in Bali sollen es rund 10000 gewesen sein. Ebenso rasant steigt die Zahl der Philanthropen und sozialen Unternehmer, die eigene Wohltätigkeitsorganisationen oder politisch aktive Stiftungen gründen. Sie alle eint der Drang, auf unterschiedlichen Feldern Gutes zu tun, wo der Staat versagt, nicht agieren will oder gar nicht soll. Sie alle schreiben ein weiteres Kapitel in der Geschichte des modernen Staates, der, von seinen Anfängen im 17. Jahrhundert an, mit der Paradoxie leben muss, mit jedem Erfolg seinen Verfall zu beschleunigen. Denn die Inkraftsetzung der staatlichen Zwangsgewalt zur Beendigung des »Naturzustands« und der Bürgerkriege um Heilserwartungen (und mithin die Säkularisierung des Staates) war eine zentrale Bedingung für die politischen Freiheiten, die die Bürgergesellschaften erst ermöglichten. Mit der Ausdehnung und dem selbstbewussten Gebrauch dieser Freiheiten verlor der Staat aber immer mehr seine ordnende und regulierende Kraft, mit dem er »ein Meer zügellosen und bornierten Egoismus und rohester Instinkte« (Schmitt) eindämmen und unschädlich machen konnte. Selbst als Gefäß eines eigenen Rechtssystems taugt der Staat nur noch teilweise, längst ist er vielfach von internationalen Rechtsvorgaben gebunden; dieses Schicksal teilt er allerdings mit seinen Bürgern, die aber in den allermeisten Fällen davon profitieren. Selbst Sicherheit, eigentlich der letzte große Kampfplatz des Staates, kann er nur noch eingeschränkt bieten und verliert – eine weltweit heikle Entwicklung – Kompetenz an private Sicherheitsfirmen.

Dass der Staat in Sachen Sicherheit schwächelt, liegt zum einen daran, dass selbstbewusste und freie Bürger nach den Erfahrungen mit dem autoritären Staat jede Einschränkung ihrer Freiheit – und sei es zugunsten der persönlichen Sicherheit – nur widerstrebend oder gar nicht gutheißen; das liegt zum anderen daran, dass eine offene und vielfältig interagierende Welt viele Angriffspunkte für ihre Feinde bietet. So kommt es zu der kuriosen Situation, dass vom Hobbes’schen Leviathan zwar weiterhin die Durchsetzung des Gewaltmonopols zugunsten der politischen Freiheiten und der persönlichen Sicherheit erwartet wird, die Bürger aber, Fesseln in der Hand, dazu neigen, sogleich in seine Fänge zu greifen, wenn er über ein größeres Maß an Kompetenzen sinniert.

Natürlich tut jede Gesellschaft immer gut daran, Misstrauen zu hegen gegen staatliche Ambitionen, die die bürgerlichen Freiheitsrechte einschränken wollen. Ohne diese Instinkte wäre die Gesellschaft nicht politikfähig. Aber damit der Staat in seiner Doppelrolle als Bewahrer der Sicherheit wie der Freiheit nicht für jenes in einer patriarchalen Anwandlung über die Stränge schlägt, sind zudem durch Gewaltenteilung und Verfassungsrecht nicht unerhebliche Vorkehrungen getroffen worden, um das existenzielle Gleichgewicht von Sicherheit und Freiheit zu erhalten. Herausgefordert wird es allerdings vor allem durch die immensen und konstanten Bedrohungen des Djihadismus, der in die Lage kommen könnte, Ausnahmesituationen herbeizuführen, die nach Ausnahmezuständen rufen. Es ist das Bundesverfassungsgericht gewesen, das auch für diesen Fall – hier bei der Frage nach der Legitimität und Legalität des Abschusses eines gekaperten Passagierflugzeuges – die Grenze, die in unseren Grundrechten liegt, aufzeigte.

Trotzdem ist es sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, eine exakte und auch an den Entwicklungen der Überwachungstechniken geschulte Vorab-Entscheidung zu treffen, wann das Gleichgewicht von Sicherheit und Freiheit in Gefahr ist. Die Diskussion hierzu unterliegt in der Gesellschaft allerdings bislang einigen gravierenden Irrtümern.

Der erste Irrtum liegt eben darin, die Herausforderungen durch den Djihadismus, seine Entschlossenheit und seine Aggressivität zu unterschätzen. Dieser treibt schon heute eine Kluft zwischen Staat und Gesellschaft, indem er durch Terror und dessen Androhung Einschüchterung und schließlich Wohlverhalten produziert, die langfristig unsere Freiheit untergraben und dem zu mehr Sicherheitsanstrengungen herausgeforderten Staat das Vertrauen der Gesellschaft entziehen.

Der andere – nicht zu unterschätzende – Irrtum liegt in der Verwechslung sowie Gleichstellung präsidialer und parlamentarischer Demokratien. Das Präsidialsystem der USA erlaubt es dem Präsidenten, seine ohnehin große Exekutivgewalt durch vom Kongress übertragene Entscheidungsbefugnisse leicht auszubauen, um »Schaden vom amerikanischen Volk abzuwenden«. George W. Bush hat diese Möglichkeit, Macht und Mission zu vereinen, weidlich genutzt. Er hat die Entrechtung der Gefangenen in Guantánamo zu verantworten, seine unakzeptable Spielart des Feindstrafrechts. Er hat Freiheit abgebaut, allerdings nicht in einem Ausnahmezustand, sondern als Schutz vor einem solchen. Diese Ausdehnung einer Notstandsordnung wird zu Recht kritisiert. Sie läuft auf einen Präventionsstaat hinaus, der, noch über Carl Schmitts Plädoyer für ein Präsidialsystem hinaus, mit dem der Staat im Ausnahmefall das Recht zur Suspendierung des Rechts kraft seiner Selbsterhaltung und als Wahrer der Ordnung erhält, der Möglichkeit die Herrschaft gibt über das Recht, das die Freiheit schützt. Und doch taugt Bushs Coup nicht als hysterische Warnung vor einem Machtmissbrauch oder einer »Unbestimmtheit zwischen Demokratie und Absolutismus« (Agamben) in einem parlamentarischen System wie dem der Bundesrepublik Deutschland, wo es ein solch starkes, mit Prärogativen und Aura versehenes Amt nicht gibt und die Gewaltenteilung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit, Parlament, Regierung und der so genannten »vierten Gewalt«, der Öffentlichkeit, eine umfassendere ist. Wie eingeschränkt die Verfügungsgewalt der Exekutive sein kann, zeigt jedes Mal aufs Neue die Diskussion über Militäreinsätze im Ausland, jüngst der in Afghanistan.

Der dritte Irrtum liegt darin, dass die Gesellschaft glaubt, der forcierte Verzicht auf Privatheit und Intimsphäre hätte keinen Einfluss auf die Freiheit, er sei vielmehr einfach nur Ausdruck selbiger, eine erleichternde Flucht aus dem Gefängnis bürgerlicher, unmoderner Konventionen. Um dies zu glauben, muss man allerdings die Augen fest verschließen vor der gierigen und fürsorglichen Belagerung durch Konsumgüterindustrie, Medien, Gesundheitssystem und staatliche Institutionen.

Der vierte Irrtum liegt schließlich in der Überzeugung der Gesellschaft, sie bedürfe, angesichts der Herausforderungen, keiner Selbstbindung. Im modernen Staat ist die Exekutive an ein ganzes Bündel von Rechten und Bestimmungen gebunden wie Odysseus am Mast. Der andere Teilzeitsouverän, die Gesellschaft, bewegt sich hingegen, trotz aller Risiken, auf dem Meer der Möglichkeiten teilweise arglos und mit naiver Gutwilligkeit. Mal sind es Touristen, die nicht glauben können, dass sie, in unruhiger Gegend, Opfer politischer Entführung werden können. Mal sind es NGOs – wie die koreanische christliche Hilfsorganisation »Saemmul Community« in Afghanistan vergangenes Jahr –, die in Ausübung ihrer Tätigkeit blauäugig in Fallen tappen und mit dem Leben ihrer Mitarbeiter bezahlen. Sie alle erwarten dann vom Heimatstaat, dass er sie, in Gebieten ohne staatliches Gewaltmonopol, herausboxt.

Es gibt sehr viele NGOs, die im Bewusstsein ihrer Risiken und tatsächlichen Möglichkeiten wohltätige und hilfreiche Arbeit in Krisengebieten verrichten, oft in enger Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen ihres Herkunfts- wie ihres Einsatzlandes und ebenso oft mit Partnerorganisationen eben dort. Aber darüber wird gerne vergessen, dass, gleich ob es sich um eine verantwortungsvolle oder eine arglose NGO handelt, diese Einsatzgebiete oft rechtsfreie Räume sind, bar jeder Art staatlichen Gewaltmonopols oder westlicher Rechtsauffassung. Darüber hinaus darf man annehmen, dass nicht nur dem »Kolonialismus« von Coca-Cola und McDonald’s, sondern, wie zum Beispiel in Afghanistan, dem Universalismus westlicher Werte und Philanthropie Misstrauen, Gegenwehr, wenn nicht offene Feindschaft entgegengebracht wird. Freiheit ist attraktiv, verführerisch und herausfordernd. Vermutlich fürchten die Taliban und ihre Unterstützer daher letztendlich weniger die B52-Bomber, Black Hawks und Cruise Missiles denn funktionierende Schulen für Jungen und Mädchen oder eine weltliche Gerichtsbarkeit. Für sie sind das wirksame Waffen ihrer Feinde. Dieser Sachverhalt wurde bei der letzten parlamentarischen wie öffentlichen Diskussion über die Mandatserweiterung für deutsche Aufklärungsjets in Afghanistan übersehen, als der zivile Aufbau gegen den militärischen Einsatz ausgespielt wurde. Als wenn ein Seminar über Gender-Fragen in der afghanischen Stammesgesellschaft nicht als Attacke auf die eigenen Ehr- und Lebensvorstellungen verstanden würde!

Jede NGO ist weitgehend eine winzige Exklave westlicher Werte, ausgestattet mit universalistischen Moralvorstellungen, mit den Rechtsnormen ihrer Herkunftsländer als Rüstzeug im Gepäck. Das ist sie, wenn sie die Welt verändern, ja, verbessern will; da kann sie sich noch so kritisch gegen die eigene Herkunft stellen. In den rechtsfreien Räumen zerrütteter Staaten sind sie mit enthegten Kriegen, mit Ausnahmezuständen ohne Souverän konfrontiert. Bewegt durch fremdes Leid, beseelt von ihrem philanthropischen Eifer, bestärkt durch den Erfolg ihrer freien und offenen Gesellschaften und benommen durch die Verharmlosung des Anderen agieren sie wie Souveräne, ohne Souveränität zu besitzen. Im Fall der koreanischen Missionsgemeinschaft musste der koreanische Staat, der keine Souveränität in Afghanistan hatte, am afghanischen Staat vorbei, dem auch jede Souveränität am betreffenden Ort abhanden gekommen war, mit einer Kriegerbande, die totale Souveränität über Leib und Seelen der Einheimischen anstrebt, verhandeln. Er verlor. Er gab sein Mandat in Afghanistan auf, unterminierte Autorität wie Souveränität des afghanischen Staates und stärkte die Taliban. Dies waren die Konsequenzen, weil die NGO kein Bewusstsein vom Gehalt ihres Tuns und ihrer Feinde hatte. In weiterer Konsequenz plant der koreanische Staat die Aktivitäten, und damit den Spielraum anderer NGOs zum Schutz seiner Bürger einzuschränken. Ist dies vielleicht doch ein Menetekel für die gesamte westliche Welt?

Was ist also zu tun? Ein wichtiger Anfang wäre gemacht, wenn die Gesellschaft lernte, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Sie müsste sich einen Begriff von ihren Freunden und vor allem von ihren Feinden machen. Damit begänne ihre Politik- und Überlebensfähigkeit in einem neuen Zeitalter der Konflikte. Aber wer könnte das, und wer wäre der Repräsentant, der dieses Urteil ausspräche? Es müsste aus der Gesellschaft selbst kommen, durch die Öffentlichkeit und die gesellschaftlichen Institutionen. Sie müssten entschlossen Stellung beziehen.

Es läuft quasi darauf hinaus, angesichts der Feinde, die freie und offene Gesellschaften haben, mit der Schmitt’schen Fähigkeit, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden, dem Schmitt der Rechtfertigung von Notstandsregimes entgegenzutreten. Da könnte es am Anfang helfen festzustellen, dass freie und offene Gesellschaften Feinde haben – Gesellschaftsfeinde.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 2/2008