Michael Werz

Braun, Schwarz, Weiß

Die Amerikaner wählen und entdecken einen neuen Kontinent

 

 

Eigentlich wird in Wahlen entschieden, wie die Zukunft einer Gesellschaft aussehen soll, aber in den USA hat stattdessen eine intensive Auseinandersetzung über die Gegenwart begonnen – sehr zur Überraschung vieler Amerikaner. Das hängt damit zusammen, dass der demokratische Vorwahlkampf epochale Verschiebungen sichtbar gemacht hat, die bisher im Verborgenen lagen. Sie traten in dem monatelangen Wahlprozess in Form einer kulturellen Selbstverständigung zum Vorschein und sind mitverantwortlich für eine schier unvorstellbare politische Mobilisierung.

Zu Recht wird das Jahr 2008 als historisch wahrgenommen: Zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte wird nicht zwischen zwei weißen Männern gewählt. Aber noch denkwürdiger ist die Art und Weise, wie sich die rasanten Veränderungen in den demokratischen Kandidaten niedergeschlagen haben und mit welcher Selbstverständlichkeit der Wettbewerb zwischen Hillary Clinton und Barack Obama sich anlässt. Wer diesen aufregendsten aller Wahlkämpfe als empirische Untersuchung zu den Veränderungen der amerikanischen Gesellschaft liest, fühlt sich unmittelbar an die Diskussionen während des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts erinnert. Mit Blick auf die massiven Einwanderungsströme und die Selbstzerstörung Europas im Ersten Weltkrieg beobachtete der deutsch-amerikanische Philosoph Horace Kallen eine noch nie da gewesene »Kooperation kultureller Unterschiede« in den USA, wo sich die Mehrheit, anders als in Europa, nicht instinktiv gegen Minderheiten richtete.

Ein knappes Jahrhundert später lässt sich an dem Umgang der beiden historischen Kandidaten der Demokratischen Partei mit der politisch wichtigsten Minderheit im Land, den Latinos, erkennen, wie weit die pluralistische Integration fortgeschritten ist. Der Abstand zu Europa hat sich eher vergrößert als vermindert. Zwar sind die politischen Kommentatoren einhellig der Meinung, dass die Einwanderungsfrage im Wahlkampf keine große Rolle spielen wird, und die Washington Post beschrieb im Februar in einem prominent positionierten Aufmacher, wie die republikanischen Kandidaten, die das Unbehagen gegenüber illegalen Einwanderern in das Zentrum ihrer populistischen Attacken stellten, bereits in der Frühphase der Vorwahlen von gemäßigten Kandidaten abgehängt wurden. Und es sieht auf den ersten Blick wirklich so aus, als ob Konsum-, Kredit- und Terrorkrise im Auge des politischen Sturms stehen und die noch im vergangenen Jahr oft polemisch diskutierte Frage, ob nahezu zwölf Millionen Einwanderer ohne Aufenthaltspapiere nicht doch deportiert werden sollen, plötzlich vergessen ist. Doch dieser Eindruck trügt – auf faszinierende Weise. Denn in Wahrheit bilden Migrationstraditionen und veränderte Rassenbeziehungen den Kern des politischen Ausscheidungswettbewerbs, auch wenn viele Amerikaner den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.

Selbst John Kerry erging es nicht anders. Nach seiner letzten Afghanistanreise flog er vor wenigen Wochen nicht nach Washington oder Massachusetts, sondern direkt in den texanischen Ort Del Rio, um Barack Obama im Wahlkampf zu unterstützen. Del Rio ist dort, wo die USA enden, südlicher geht es kaum. Die Einwohnerzahl liegt bei etwa 36000, über achtzig Prozent sind Latinos, siebzehn Prozent weiß, und zum Rio Bravo kann man wenige Minuten zu Fuß gehen. Am anderen Ufer liegt die mexikanische Schwesterstadt Ciudad Acuña. Es verwundert nicht, dass John Kerry auf der Bühne halb im Scherz fragte, wo er denn eigentlich sei. Süd-Texas ist weiter von Boston entfernt als Kopenhagen von Sizilien, und doch befindet sich die Grenzregion im politischen Zentrum der USA.

Der Senator aus Massachusetts ist nicht der Einzige, dessen Wahrnehmung der gesellschaftlichen Entwicklung um Jahrzehnte hinterherhinkt. So hat er die Risiken solcher Borniertheit im Jahr 2004 schmerzlich erfahren, als George Bush die republikanische Basis unter den protestantischen Latinos auszubauen vermochte und vor allem dadurch seinen umstrittenen Sieg im wichtigen Bundesstaat Florida sicherte. Die Demokraten hatten damals die Latinos behandelt, als seien sie noch die entmündigte Minderheit der Siebzigerjahre. Das wurde als Paternalismus wahrgenommen und entsprechend abgestraft. Im Jahr 2008 ist noch deutlicher geworden, dass die amerikanischen Minderheiten und Einwanderer auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft sind – beziehungsweise umgekehrt. Diesem Fortschritt kann sich die amerikanische Politik nicht verschließen: John Kerry in Del Rio – das ist wie Jacques Chirac in der Banlieue: in Amerika Wirklichkeit, in Frankreich unvorstellbar.

Der Wahlkampf hat diese Entwicklungen ans Licht gebracht, weil wegen des Kopf-an-Kopf-Rennens und der frühen Wahltermine erstmals spanischsprachige Minderheiten großen Einfluss auf die Nominierung haben. Zwei Drittel der Latinos leben in Texas, Florida und Kalifornien; Staaten, die in den Achtzigerjahren keine Rolle spielten, weil die Vorwahlen dort erst stattfanden, als das Rennen schon entschieden war. Darum benötigten die demokratischen Kandidaten in diesem Jahr neue Ideen zur Einbindung der inzwischen größten Minderheit des Landes von über vierzig Millionen. Hillary Clinton, deren Kontakte in Texas bis in die Siebzigerjahre zurückreichen, hatte sich sehr früh die Unterstützung symbolisch und politisch wichtiger Aktivisten gesichert. Es war zugleich eine Taktik, um dem einzigen Latino im demokratischen Bewerberfeld, Gouverneur Bill Richardson aus New Mexico, von Beginn an alle Chancen zu nehmen. In Texas, wo sie deutlich weniger Geld für teure Fernsehwerbung zur Verfügung hatte als der sich dem Establishment gegenüber kritisch gebende Barack Obama, kam ihr diese Vorarbeit zugute, über zwei Drittel aller Latinos unterstützen sie am 4. März.

Um diese politischen Koalitionen zu erklären, ist in den von täglichen Meinungsumfragen getriebenen Massenmedien meist von »hispanischen«, »schwarzen« oder »weißen« Stimmen die Rede. Aber im neuen Amerika greifen diese vereinfachenden Kollektivkategorien nicht mehr. Der begriffliche Kurzschluss, mit dem die Wähler qua Hautfarbe vereinheitlicht werden, verdeckt, dass politische Koalitionen auf lokaler Ebene immer wieder etabliert und erneuert werden müssen und Wahlentscheidungen von ganz spezifischen regionalen Erfahrungen geleitet werden. Bei den Latinos sind die Unterschiede zwischen Wahrnehmung und Realität besonders eklatant. Den öffentlichen Eindruck bestimmen vor allem die ungelernten Arbeiter im Dienstleistungsbereich und der Bauindustrie. Aber von ihnen sind nur knapp vierzig Prozent in den USA geboren. Die Hispanics, die an den Wahlen teilnehmen, sind zu über zwei Drittel gebürtige Amerikaner und durchweg konservativer als die neueren Migranten. So erklären sich auch die Unterschiede zwischen Kalifornien und Texas, die einen vergleichbar hohen Latino-Anteil aufweisen. In Texas reicht die Siedlungsgeschichte der Latinos bis in die Zeit vor der Staatsgründung im Dezember 1845 zurück, als die Region noch zu Mexiko gehörte. Die Bemerkung, dass »nicht wir die Grenze, sondern die Grenze uns überschritten hat«, ist keineswegs bloß ein politischer Witz. Die Hispanics in Texas informieren sich vor allem über englischsprachige Massenmedien, sie sehen sich selbst im Zentrum und nicht am Rand der Gesellschaft.

Barack Obama nutzte daher unterschiedliche Strategien, um diese Gruppen anzusprechen. In Kalifornien hatte er sich im Vorfeld der Primaries am 5. Februar an seinen kenianischen Vater erinnert und bei einer Wahlkampfveranstaltung im Ostteil von Los Angeles darauf hingewiesen, dass »mein Vater nicht so aussah, als ob er mit der Mayflower (aus Europa, M. W.) nach Amerika gekommen sei«. Solche Einwanderungsrhetorik ist im Süden Kaliforniens nützlich, aber nicht in Texas, wo sich mehr als die Hälfte aller Hispanics selbst als »weiß« ansieht und aus deren Perspektive Obama vielleicht schwärzer erscheint, als er ist.

Darüber hinaus gilt im Süden der Name Clinton besonders den älteren Latinos als Synonym der Demokratischen Partei; und als Name, der zumindest mittelbar mit den Bürgerrechtskämpfen in Zusammenhang steht. Das ist in Texas wichtig, weil die Diskriminierung gegenüber Latinos bis in die Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts immens gewesen ist. Als alteingesessene Minderheit mit allen staatsbürgerlichen Rechten engagierten sich die texanischen Hispanics wie kaum eine andere Gruppe in einem eigenen Civil-Rights-Kampf und teilen die schwarzen Erfahrungen anderer Landesteile. Weil aber in der texanischen Politik der designierte Platz für die nicht-weiße Minorität von Afroamerikanern besetzt wurde, entwickelte sich eine erbitterte Konkurrenz um den Status der Minderheit par excellence, die dazu führte, dass Latinos oft gezwungen waren, ihre Interessen über Allianzen mit und durch fortschrittliche weiße Politiker und Aktivisten durchzusetzen.

Die Vorwahlen in Texas haben diese Konstellation in ganz Amerika zum Thema gemacht. Die öffentliche Diskussion über texanische Hispanics, deren politische Erfahrung schwarz, ihre politische Repräsentation aber weiß war, ist inzwischen fester Bestandteil einer breiten Debatte über den kulturellen und politischen Status quo. Diese Konversation hat im vergangenen Herbst begonnen, sie wurde durch den Wahlkampf so sehr befeuert und intensiviert, dass sich viele Millionen Amerikaner daran beteiligen. Und sie betrifft alle, Mehrheit wie Minderheit. Denn es wird immer unübersehbarer, dass die durch Bürgerrechtsbewegung, Rassismusdebatte und Affirmative Action geprägte Epoche sich ihrem Ende zuneigt, ungeachtet aller fortbestehenden Probleme. Die Wahlen und ihre Allianzen des Jahres 2008 verdeutlichen, dass sich nicht nur nennenswerte Teile der gebildeten Mittelschichten als Teil einer Gesellschaft verstehen, in der die »Color Line« nicht mehr die alles überlagernde Trennlinie bildet. So ist an den Unterstützern der beiden demokratischen Kandidaten deutlich ablesbar, dass inzwischen die eigentliche Gemarkung nicht entlang der Hautfarben verläuft, sondern vor allem durch Bildungserfahrungen bestimmt ist. Wähler mit Hochschulabschluss, materieller Sicherung und postethnischem Selbstbewusstsein fühlen sich in überwältigendem Maße von Barack Obamas Rhetorik des »Wechsels« und einer besseren Welt angesprochen. Doch unter Arbeitsmigranten aus Lateinamerika und anderen Regionen, die noch unterdurchschnittliches Bildungsniveau aufweisen, gelang es Hillary Clinton mit Brot-und-Butter-Themen, sich in Kalifornien rund zwei Drittel der Stimmen zu sichern. Auch in Texas verhalfen ihr die Latinos zu dem vielleicht wichtigsten Erfolg ihrer politischen Karriere. Dort sahen viele eingesessene Hispanics in Hillary Clinton eine engere Wahlverwandte als in dem in Hawaii aufgewachsenen und in Harvard ausgebildeten Migrantensohn Barack Obama. Allerdings gelang es ihm, die jüngeren Latinos in seinen Bann zu ziehen, die bei dem Gedanken an »Clinton« uramerikanische Müdigkeit überkommt – ein klassischer Generationskonflikt innerhalb einer Minderheit, die sich mit hoher Geschwindigkeit differenziert. Die Wahlen werfen ein Schlaglicht auf einen offenen geschichtlichen Moment in den USA; einen Moment, auf den die demokratischen Kandidaten unterschiedliche Antworten geben. Hautfarbe hin oder her: Melodie und Rhythmus von Hillary Clintons Wahlkampagne ist unverkennbar hispanisiert, während Barack Obama den gebildeten Visionär gibt.

Für ihn war diese Latino-Frage nicht einfach zu beantworten, musste er doch deren Stimmen sichern, ohne jene schwarzen Unterstützer zu verlieren, die erhebliche Vorbehalte gegen die neue Konkurrenz um den Status der größten und damit privilegierten Minderheit im Land hegen. Ob dieser Spagat gelingen wird, ist auch nach Texas nicht klar. Indes schmiedete Barack Obama eine breite schwarz-weiße Koalition, die nicht minder fasziniert und noch vor zwanzig Jahren unmöglich gewesen wäre. Wie seine Berater ihn als Schwarzen und zugleich als Repräsentanten weißer gebildeter Mittelschichten positionieren, ist eine Lehrstunde im Hautfarbenmanagement. Lange Jahre galt solch eine Strategie als undenkbar. Für den in South Carolina geborenen Baptisten Jesse Jackson, der sich 1984 als einer der demokratischen Kandidaten bewarb und damit eine wichtige Schneise schlug, war der zentrale politische Bezugspunkt die Bürgerrechtsbewegung. Barack Obama bezieht sich auf diese Zeit vor allem rhetorisch und achtet genau darauf, nie als wütender Schwarzer aufzutreten. Seine prominenteste Anleihe bei Martin Luther King ist die Rede von der »brennenden Dringlichkeit des Jetzt«. King bezog sich damit auf seine Ablehnung des Vietnamkrieges, bei Obama ist damit vor allem der eigene Ehrgeiz beschrieben. Auf die überwältigende Unterstützung der Schwarzen konnte Barack Obama sich auch in Texas verlassen, aber für einen Sieg reichte es nicht. Das hängt auch damit zusammen, dass wegen des raschen Wachstums der Hispanics der Anteil schwarzer Wähler bei den Demokraten auf unter ein Fünftel fiel.

Vor den Primaries in Texas argumentierten die Clinton-Unterstützer, dass Obama nach elf Siegen in Folge stärker aussehe, als er in Wirklichkeit sei. Und das Argument ist keineswegs aus der Luft gegriffen, weil er bis dahin keinen der bevölkerungsreichen Flächenstaaten gewonnen hatte, die im November den Ausschlag geben werden. Auch in der Rocky-Mountains-Region, in New Mexico, Arizona, Colorado und Nevada waren seine Ergebnisse schwach. All diese Staaten sind weit über den Herbst 2008 hinaus von Bedeutung. Denn nach vielen Jahren haben die Demokraten ernsthafte Chancen den Südwesten der USA mit Hilfe der Latinos zurückzuerobern.

Wie immer die Nominierung bei den Demokraten und schließlich die Präsidentschaftswahlen im November ausgehen, sie bilden den vorläufigen Endpunkt einer Entwicklung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Ausgang genommen hatte, als in den USA dank Einwanderung, Wirtschaftswachstum und europäischen Verwüstungen unausgesprochen und unbewusst die erste internationale und pluralistische Nation zu entstehen begann. Damals erkannten diesen Prozess nur eine Hand voll Intellektuelle wie Horace Kallen oder sein Zeitgenosse Randolph Bourne, der von einer »neuen geistigen Staatsangehörigkeit« sprach, aus der niemand verdrängt werden konnte. Dank des archaischen und vermeintlich unzeitgemäßen Systems von Caucus-Versammlungen und frühen Vorwahlen kleiner Bundesstaaten ist ein für eine Massendemokratie von 300 Millionen Einwohnern ebenso unerwarteter wie ungewöhnlicher Reflexionsprozess in Gang gekommen. Er hat in den vergangenen Monaten die alten Einsichten vom Beginn des 20. Jahrhunderts zum politischen Gemeingut gemacht.

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 2/2008