Balduin Winter

Editorial

 

 

Selten haben Landtagswahlen Medienreaktionen dieses Ausmaßes ausgelöst. Viel Getöse um ein boulevardeskes Charakterstück mit Heldinnen und Wortbrüchigen, Verrätern und Aufrechten. Das Publikum, das eine schwierige Wahl getroffen hatte, folgte irritiert dem Spektakel. Bei Umfragen versenkte es die SPD ins historische Vertrauenstief. Viel Lärm um nichts?

Diese Wahlen haben die bisher gültige Ordnung der politischen Lager aufgemischt. Keine der Parteien war darauf wirklich vorbereitet. Neue Koalitionen sind ab sofort nötig und werden auch möglich sein. Nach dem Theater kommen wieder die Arbeitstage. Von der Linken weiß man, dass sie eine Vergangenheit hat. Ist sie koalitionstauglich? Oder bleibt sie in ihrem ideologischen Winkel, wo immer Platz für fünf Prozent ist? Auch die hessische Verweigerungshaltung wird sich die FDP nicht länger leisten können, neoliberale Nibelungentreue ist ein Auslaufmodell. Die Grünen haben trotz ihrer Krise gute Optionen. Derweilen zittern Bayerns Christsoziale schon um ihre absolute Mehrheit, das Hamburger Schwarz-Grün-Experiment könnte eine Art Vorlauf sein. Das Getöse des Trommelfeuers auf die SPD lenkt wohl vom Erschrecken in der CDU ob ihrer geringen Bündnisfähigkeit ab. Bezeichnend für den Konservatismus ist, dass mehr Möglichkeiten erst einmal Abwehr hervorrufen. Das wird auch im Hin und Her der SPD deutlich, bei der sich altes Lagerdenken und neue Denkansätze überlappen. Immerhin wird es die Lager übergreifende Bündnisse geben. Darin deutet sich an, dass die Zeiten der Lager, und damit auch die Zeiten der Ideologen, die Elbe hinuntergehen. Das alte Links-rechts- Paradigma setzt allmählich Staub an. So lässt sich das Signal der WählerInnen verallgemeinern: Sie haben den Parteien die Möglichkeiten gegeben, über den eigenen Stall hinauszugehen und mehr nach Gemeinsamkeiten bei und mit den anderen zu suchen.

Das alles spielt sich ab vor dem Hintergrund einer guten wirtschaftlichen Konjunktur. Dennoch herrscht weitreichende Verunsicherung im Lande. Ob Krise oder Aufschwung, der Mehrheit der Bevölkerung drückt mächtig der Schuh der sozialen Gerechtigkeit. Ackermann, Siemens, Zumwinkel waren nur Wellenkämme auf dem stürmischen Meer zunehmender Verteilungsungerechtigkeit. Was aber peitscht das globale Meer mit seinem europäischen Nebenarm

so auf? »Die Wirtschaft« funktioniert heute längst nicht mehr so, auch nicht »der Markt« oder »die Wertschöpfung«. Der technologische Umbruch, in dem wir uns befinden, erfordert dauerhafte Aufklärung durch Politik und Medien. Nicht nostalgisch aufgewärmte Stamokap-Rezepte des Nationalpopulisten Lafontaine mit Sozialismus-Aufgüssen.

Wenn das Institut für Wirtschaftsforschung schreibt, schon in den Neunzigern sei die Lage eine prekäre gewesen, steckt dahinter die enorme Aufbauleistung für die ehemalige DDR. Hätte man sie, nur ein Gedankenspiel, wie jedes andere osteuropäische Land allein einer postkommunistischen Entwicklung überlassen, wäre sie heute wohl auf dem Stand von Bulgarien oder der Slowakei. So aber hat das gesamte Land bisher eine große gemeinsame Anstrengung geleistet. Angesichts dessen war das Wachstum seither durchweg niedriger als in der EU, dringend nötige Reformen wurden aufgeschoben. Die Wachstumsschwäche verfestigte sich strukturell zwischen 2000 und 2003, »die deutsche Wirtschaft stellte sich zunehmend als unfähig dar, den im Zuge der Globalisierung erforderlichen Anpassungen Rechnung zu tragen« (DIW 11/08). Dem hat Rot-Grün teilweise abgeholfen durch die unpopuläre und schlecht gemanagte Agenda 2010, der heute ausdrücklich Erfolg bescheinigt wird. Die Wirtschaft floriert, bei allen Ungewissheiten der Finanzmärkte, ganz gut. Dem Volk freilich wurden ordentliche Lasten aufgebürdet, der Schuh drückt mehr denn je.

Seit Jahren nehmen über 40 Millionen Menschen Einkommensrückgänge hin (DIW 10/08). Die politisch heiß umworbene Mitte schrumpft. Blieben zwischen 1986 und 1996 die Schichtungen – armutsgefährdete Personen, Mittelschicht, einkommensstarke Personen – nahezu unverändert, so bröckelte zwischen 1996 und 2006 die Mittelschicht von 62 auf 54 Prozent ab. Das sind fünf Millionen Menschen. Der Anteil der Armen nahm von 20,7 auf 25,4 Prozent zu. Eine Bertelsmann-Studie von Dezember 2007 fand heraus, dass nur noch 15 Prozent der BürgerInnen meinen, die Verteilung in Deutschland sei gerecht – laut Forscher »ein historischer Tiefstand«. 56 Prozent beurteilen die Einkommensverteilung in Deutschland als nicht gerecht. Als soziale Gerechtigkeit wird vor allem Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit verstanden, dann Hilfe für sozial Schwache, während Leistungsgerechtigkeit weit seltener genannt wurde. Auffallend ist, dass sich hier ein neuer gesellschaftlicher Konsens abzeichnet: Zwischen Bevölkerung und PolitikerInnen besteht breite Übereinstimmung in den Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Sie ist hoch bei den Grünen, der SPD und der Linken, beachtlich hoch bei der CDU, nicht einmal die FDP fällt nennenswert ab. Schlägt sich darin die historische Sedimentierung der Gesellschaft und der Politik nieder, die die Autoren des Themas andeuten?

In: Kommune, Forum für Politik, Ökonomie, Kultur 2/2008