Gefährden Volksentscheide Minderheitenrechte?

Erfahrungen in verschiedenen Ländern

Paul Tiefenbach

Belebung der Demokratie oder Mittel für eine in Vorurteilen befangene Bevölkerung, Rechte der Minderheiten einzuschränken? Der rotgrüne Gesetzesvorschlag, den Volksentscheid auf Bundesebene einzuführen, stößt auf geteilte Meinungen. Unser Autor zieht Erfahrungen aus den USA, der Schweiz und Deutschland (Bayern) heran – darunter zahlreiche Anti-Bürgerrechts-Initiativen in den USA –, kommt aber dennoch zum Schluss: Worst-case-Szenarien wie "Zuerst wird per Volksentscheid das Asylrecht abgeschafft" sind unrealistisch.

Die Erfahrungen in den USA

Oft werden die "negativen Erfahrungen in den USA" als Argument vorgebracht. Barbara Gamble (1997) hat in einem Artikel für das American Journal of Political Science die Ergebnisse von Volksentscheiden zwischen 1959 und 1993 in verschiedenen Bundesstaaten der USA ausgewertet. Es gab insgesamt 74 Volksentscheide, bei denen Minderheitenrechte tangiert wurden. Gambles Ergebnisse klingen auf den ersten Blick tatsächlich beunruhigend. Von den 74 Initiativen hatten alle bis auf 6 (somit 92 %) das Ziel, Minderheitenrechte einzuschränken. Hiervon waren 78 Prozent erfolgreich. Von den 6 Initiativen, die Minderheitenrechte ausweiten wollten, war nur eine erfolgreich. Inhaltlich ging es bei den meisten Initiativen um die Rechte von Homosexuellen. 88 Prozent hiervon wollten die Rechte Homosexueller einschränken, und von diesen wurden 79 Prozent angenommen. So wurde in San Francisco per Volksentscheid die Absicht vereitelt, unverheiratet zusammenlebenden städtischen Angestellten ehetypische Vergünstigungen zukommen zu lassen. Lediglich sehr weit gehende Vorschläge (wie ein Berufsverbot für homosexuelle Lehrer) fielen durch. Beschlossen wurden auch Aidszwangstests für Sexualstraftäter. Abgelehnt wurden Initiativen, Aidskranke in Quarantäne zu stecken. Ein anderer Schwerpunkt war die ethnische Integration. Zahlreiche lokale Volksentscheidsinitiativen wendeten sich gegen staatliche Maßnahmen zur Integration schwarzer und weißer Kinder in den Schulen oder gegen die sich abzeichnende Einführung von Spanisch als zweite Amtssprache. Zusammenfassend stellt die Autorin fest, dass "Anti-Bürgerrechts-Initiativen eine besondere Erfolgswahrscheinlichkeit haben. Die Wähler haben drei Viertel angenommen, während sie ansonsten nur ein Drittel aller Initiativen annehmen."

Freilich muss man berücksichtigen, dass Gamble auch alle Volksentscheide auf Kommunalebene mitgezählt hat. Es fanden in vielen kleineren Städten Abstimmungen zu ähnlichen Themen statt. Konservative Politiker starteten eine Initiative, wenn sie sahen, dass Parteifreunde in der Nachbarstadt damit Erfolg hatten. Hierdurch entsteht statistisch eine hohe Erfolgsquote, obwohl nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Gesamtbevölkerung Kaliforniens abgestimmt hat. Es kommt hinzu, dass in kleineren politischen Einheiten – wie etwa Gemeinden – Minderheitenrechte stets stärker gefährdet sind. Bei den landesweiten Abstimmungen ergibt sich ein anderes Bild: Nur 2 von 11 Volksentscheiden zu Homosexualität und Aids führten zu negativen Auswirkungen für die betroffenen Minderheiten, also lediglich 18 Prozent Erfolgsquote. (Vgl. Donovan/Bowler 1998: 1023)

Hinzu kommt, dass in den USA die Gerichte erst im Nachhinein (und nicht wie in Deutschland zu Beginn des Verfahrens) die Verfassungsmäßigkeit prüfen. Volksentscheide, die gegen Minderheitenrechte gerichtet sind, werden nicht selten per Gerichtsurteil für ungültig erklärt. Gamble hat auch nicht den parlamentarischen Vergleichsfall untersucht. Die Frage, wie oft Parlamente Minderheitenrechte einschränken, ist bis dato unerforscht.

Die Erfahrungen in der Schweiz

Betrachtet man die Schweiz, lässt sich die Behauptung, Minderheiten seien generell durch Volksentscheide besonders gefährdet, nicht aufrechterhalten. Von den 13 nationalen Volksbegehren mit Auswirkungen auf Minderheitenrechte zwischen 1866 bis 1996 waren lediglich die beiden erfolgreich, die Minderheitenrechte erweiterten. Alle 11, die Minderheitenrechte einschränken wollten, scheiterten in der Abstimmung.

Homosexualität spielte inhaltlich dabei keine Rolle, es ging meist um Ausländerpolitik. Diese Tendenz setzte sich in den letzten Jahren fort. 1999 scheiterte zum Beispiel die von der bei Wahlen erfolgreichen Volkspartei (SVP) unterstützte Volksinitiative "Für eine Regelung der Zuwanderung". Bei einer relativ hohen Abstimmungsbeteiligung stimmten fast zwei Drittel dagegen, den Ausländeranteil der Schweiz auf 18 Prozent (z. Zt. 21 %) zu begrenzen. Immerhin wäre er damit noch etwa doppelt so hoch geblieben wie in Deutschland. Auch wenn man, so wie Gamble dies für die USA getan hat, bundesweite, kantonale und lokale Abstimmungen zusammenfasst, ergibt sich in der Schweiz ein anderes Ergebnis als in den USA. Von insgesamt 64 Abstimmungen zu Minderheitenrechten zwischen 1970 und 1996 hatten nur 19 (30 %) als Ergebnis, dass Minderheitenrechte eingeschränkt wurden. In mehr als zwei Drittel aller Fälle unterstützten also Schweizer Wähler Minderheitenrechte, statt sie einzuschränken. Frey/Goette kommen daher zu dem Ergebnis: "Direkte Demokratie schützt die Bürgerrechte." (Frey/Goette 1998: 1343-1348)

Die Erfahrungen in Deutschland

Oft wird vorgebracht, Schweizer Ergebnisse ließen sich nicht auf Deutschland übertragen. Die Geschichte des Nationalsozialismus beweise, dass der Deutsche eine höhere Bereitschaft habe, Minderheiten zu unterdrücken als andere Völker. Es sei daher speziell in Deutschland eine besondere Vorsicht bei der Einführung von direkter Demokratie angebracht. Die Fakten stützen diese Auffassung nicht:

– So gab es in der Weimarer Republik keinerlei Volksentscheide oder Volksbegehren zu Minderheitsrechten. Der einzige Volksentscheid, den die NSDAP vor 1933 unterstützte, ging um die "Kriegsschuldlüge". Er scheiterte deutlich. Es stimmten nicht einmal alle Wähler der NSDAP dem Volksentscheid zu.

– Seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es in Deutschland lediglich auf Länder- und Kommunalebene die Möglichkeit, Volksentscheide abzuhalten. Die weitaus meisten finden in Bayern statt. Es gab hier seit 1946 insgesamt 11 Volksentscheide auf Landesebene. Bei keinem wurden Minderheitenrechte auch nur berührt.

– Wesentlich höher war die Zahl der Bürgerentscheide in Bayern, also der Volksentscheide auf kommunaler Ebene. Der von "Mehr Demokratie" veröffentlichte "Fünf-Jahresbericht bayrischer Bürgerbegehren und Bürgerentscheide" erfasst 829 Bürgerbegehren seit der Einführung dieses Rechts im Oktober 1995. Bürgerbegehren etwa zu Ausländerthemen oder zu Homosexualität sind nicht bekannt. Die meisten Begehren beschäftigen sich mit der Verkehrspolitik, es folgen die Themen öffentliche Infrastruktur und Flächennutzungs- und Bauleitpläne. Auch aus den anderen Bundesländern sind keine Versuche bekannt, Volksentscheide zu Minderheitenrechten einzuleiten. Der ebenfalls von "Mehr Demokratie" veröffentlichte "Volksbegehrens-Bericht 2000" listet 27 (vergebliche) Versuche in den Bundesländern auf, einen Volksentscheid einzuleiten. Bei den meisten ging es um die Reform staatlicher Strukturen und um Bildungspolitik (z. B. Rechtschreibreform).

Schützt das Parlament Minderheitenrechte besser als direkte Demokratie?

Populismus zu Lasten von Minderheiten kann in jeder Art von Demokratie zum Problem werden – egal ob rein parlamentarisch oder mit direktdemokratischen Anteilen. In fast allen früher sozialistischen Staaten hat sich mit Einführung der Demokratie die Situation der Minderheiten erheblich verschlechtert. Wenn die Mehrheit über alles entscheidet – und dies macht schließlich Demokratie aus –, wie soll sie daran gehindert werden, Entscheidungen zu Lasten der Minderheit zu treffen? Der klassische Lösungsansatz ist, die Abgeordneten und das Parlament gewissermaßen als Filter zwischen den Volkswillen und das Regierungshandeln zu schieben. So sieht dies die oben zitierte Barbara Gamble: "Anhörungen, Koalitionen, öffentlich wahrgenommene Abstimmungen und die Notwendigkeit, das Abstimmen erklären zu müssen, helfen, das Verhalten der Repräsentanten zu beschränken. Keiner dieser Filtermechanismen existiert, wenn die öffentlichen Abstimmungen direkt in Gesetze einfließen."

Hier wird freilich ein sehr positives Bild des Parlamentarismus gezeichnet, das wenig mit der Realität großer Volksparteien zu tun hat. In den USA wurden Volksentscheide zu Lasten von Minderheiten meist von Politikern der republikanischen Partei initiiert oder zumindest gefördert. Die Initiative, Wahlunterlagen nur in Englisch abzufassen, wurde etwa 1984 von dem republikanischen US-Senator a. D. Hayakawa initiiert. "Spanisch war auf dem besten Wege, mit Hilfe der Demokraten zur zweiten Amtssprache erhoben zu werden. Es kann daher nicht verwundern, dass Republikaner versuchten, genau dies zu verhindern." (Billerbeck 1989: 98) Minderheiten hatten durch Lobbyismus in der Demokratischen Partei Erfolge erzielt. Diese wurden von den Republikanern mit Hilfe des Volksentscheids teilweise wieder zunichte gemacht. Dabei wurden freilich keine Entscheidungen gefällt, die nicht in jeder parlamentarischen Demokratie möglich wären.

Gäbe es in Kalifornien kein Volksentscheidsrecht, heißt das keineswegs, dass gemeinsame Schulbusse für weiße und schwarze Kinder, Gleichstellungsgesetze et cetera erhalten geblieben wären. Die Politiker, die die Volksinitiativen starteten, hätten ohne Volksentscheid auf anderem Weg versucht, ihre Ziele zu erreichen – durch Unterschriftensammlungen, Parlamentsanträge, Wahlkampagnen. Ob tatsächlich vom Volksentscheid in den USA zusätzliche Gefahren für Minderheiten ausgehen, ließe sich nur beurteilen, wenn man die Minderheitenrechte in Kalifornien mit denen in Bundesstaaten ohne Volksentscheide – ceteris paribus – vergleichen würde.

Auch in der Bundesrepublik Deutschland, ohne Volksentscheidsrecht auf Bundesebene, werden Minderheitenfragen häufig in Wahlkämpfen thematisiert. In der Regel handelt es sich dabei um Ausländerpolitik, aber auch der Gesetzentwurf der Bundesregierung für die Besserstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften ("Homosexuellenehe") geriet unter Beschuss. Den größten Erfolg landete dabei die CDU Hessens 1999 mit ihrer Unterschriftensammlung gegen die doppelte Staatsbürgerschaft.

Allerdings handelte es sich in Hessen damals keineswegs um eine Volksabstimmung und es kann hier kaum von einem fairen Verfahren gesprochen werden. In relativ kurzer Zeit wurde im Rahmen einer Wahlkampagne eine vergleichsweise kleine Zahl von Wechselwählern beeinflusst. Die Befürworter der doppelten Staatsbürgerschaft waren unvorbereitet und fanden kaum Gehör. Ob ein formelles Volksentscheidsverfahren mit einer Dauer von ein bis zwei Jahren, mit Talkshows unter Beteiligung von Ausländerverbänden, mit Reportagen über Immigrantenschicksale et cetera tatsächlich zur Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft geführt hätte, ist völlig offen.

Prävention

Das Horrorszenario vom dumpfen Volkswillen, der die vernünftig abwägenden Entscheidungen der Parlamentarier gegenüber Minderheiten per Volksentscheid zunichte macht, hat also wenig mit der Realität zu tun. Doch selbst wenn es so kommen würde, wären Minderheiten der Willkür der Mehrheit nicht schutzlos ausgeliefert.

Per Volksentscheid zu Stande gekommene Gesetze müssten natürlich – so wie parlamentarisch beschlossene auch – mit der Verfassung und mit den Vereinbarungen im Rahmen der EU übereinstimmen. Der Artikel 3 des Grundgesetzes schließt die Diskriminierung von Minderheiten aus. Ein Ausführungsgesetz hierzu ("Antidiskriminierungsgesetz") könnte für weitere Klarstellung sorgen. Auch die Grundrechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und die EU-Menschenrechtskonvention schützen die Rechte von Minderheiten. Das hat dazu geführt, dass Beitrittskandidaten ihre nationale Gesetzgebung im Sinne eines höheren Minderheitenschutzes nachbessern mussten oder zumindest – im Fall Türkei – dazu aufgefordert wurden.

Minderheiten ist so auch unter andern politischen Verhältnissen oder in einer politisch aufgeheizten Atmosphäre juristischer Schutz garantiert. Dass dieser Schutz funktioniert, zeigt das Beispiel USA. Die amerikanische Bundesverfassung verbietet Ländergesetze, die nach Rasse, Geschlecht oder etwa Ehestand differenzieren. Eine Reihe von diskriminierenden Volksgesetzen konnte daher nicht in Kraft treten. So wurde zum Beispiel die proposition 14, die dem kalifornischen Staat verbot, in die Vertragsfreiheit der Bürger einzugreifen, vom obersten Bundesgericht wieder aufgehoben. Mit proposition 14 verfolgten viele Hausbesitzer das Ziel, bei Vermietungen und Verkäufen weiterhin Schwarze zu benachteiligen. (Vgl. Heußner/Jung 1999: 114 sowie Heußner 1994: 122 ff.)

Wenig Sinn machen dagegen Mindestbeteiligungsquoren beim Volksentscheid: Der Volksentscheid soll nur gültig sein, wenn mindestens 20 oder 25 Prozent abstimmen. Viele, die dies fordern, gehen von der Vorstellung aus, eine kleine radikale Partei wie die NPD könnte ihre Anhänger komplett für einen Volksentscheid mobilisieren, während die Masse des Volkes die Sache nicht ernst nimmt und der Abstimmung fernbleibt. Aber die Erfahrungen in der Schweiz und den USA zeigen: Volksentscheide zu Minderheitenthemen erreichen eher überdurchschnittliche Beteiligungsraten. Die Mobilisierung auf der einen führt zur Gegenmobilisierung auf der anderen Seite.

Der beste Schutz für Minderheiten ist eine Zivilgesellschaft, die gewohnt ist, sachlich und vorurteilsfrei zu entscheiden. Eine solche Zivilgesellschaft wird durch Volksentscheide gefördert, sofern das Verfahren beiden Seiten gerecht wird. Es muss lang genug dauern, sodass nicht nur die Betreiber, sondern auch die Gegner einer Volksinitiative ihre Argumente vorbringen können. Durch die Dauer des Verfahrens findet eine Beruhigung und Versachlichung der Diskussion statt. Die Möglichkeiten, öffentlich in Erscheinung zu treten, müssen fair sein. Es darf nicht eine Seite durch hohen Geld- und Medieneinsatz extrem dominieren. In der Schweiz, wo oft Jahre zwischen Einleitung und Durchführung des Volksentscheids liegen und wo – anders als in USA – kostenintensive politische Fernsehwerbung verboten ist, scheint dies zu gelingen. Damit konnte die Schweiz nicht nur zahlreiche Zuwanderer, sondern auch nationale Minderheiten (7,6 % sprechen italienisch, 0,6 % rätoromanisch, beide Sprachen sind dem Deutschen gleichgestellt) relativ spannungsfrei integrieren.

 

Literatur

Billerbeck, Rudolf (1989): Plebiszitäre Demokratie in der Praxis, Berlin

Cronin, Thomas E. (1989): Direct Democracy, Cambridge/London

Donovan, T./Bowler, S. (1998): "Direct Democracy and Minority Rights. An Extension", in: American Journal of Political science 42 (1998)

Frey, B.S./Goette (1998): "Does the Popular Vote Destroy Civil Rights?", in: American Journal of Political Science 42/1998, S. 1343-1348

Gamble, Barbara S. (1997): "Putting Civil Rights to a Popular Vote", in: Journal of Political Science, vol. 41, 1/1997

Heußner, Hermann K.: Volksgesetzgebung in den USA und in Deutschland, Köln etc. 1995

Heußner, H; Jung, O. (Hg.): Mehr direkte Demokratie wagen, München 1999, S. 112 ff.

Möckli, Silvano: Direkte Demokratie, Bern, Stuttgart, Wien 1994, S. 330 ff.