»Ich will wissen, ob ich überhaupt zur Welt gehöre«

Bosnische Reiseeindrücke

Ernst Köhler

 

Mostar, Banja Luka, Srebrenica: Vergessene Städte? Die Weltöffentlichkeit interessiert sich kaum noch für Bosnien, einst vom Krieg geplagt, jetzt vom Frieden gequält. 1991 hatte das Land 4,4 Millionen Einwohner, jetzt nur noch 2,8 Millionen. Unser Autor, landeserfahren, entdeckt wenig Erfreuliches. Hartnäckig bewahren sich alte Strukturen, es gibt immer noch Kräfte, die den Untergang Jugoslawiens nicht so recht zur Kenntnis genommen haben, es gibt Entpolitisierung und Hoffnungslosigkeit, wenig Perspektiven für die Jugend, die eher ins Ausland blickt.

Überall nichts als Dominosteine

»Hier hängt seit jeher alles mit allem zusammen. Aber ein Zusammenhang im politischen Sinne existiert zwischen der Kosovofrage und der Republika Srpska nur für die serbischen Nationalisten und Separatisten.« So Faruk Kajtaz, Journalist am lokalen Jugend-Radio (Radio x) in Mostar. Dergleichen hört oder liest man bei uns eher selten. Der Staat, der Ende 1995 in Dayton unter massivem amerikanischem Druck und Erfolgsdruck ausgehandelt worden war und bis heute nicht zu einer funktionsfähigen Einheit gefunden hat, zieht anscheinend magnetisch alle möglichen Umbruchsszenarien auf sich. Wenn von der Unabhängigkeit des Kosovo die Rede ist, gehen oder springen auch unsere Balkanexperten wie mechanisch auf die Albaner in Mazedonien oder Südserbien und auf die Serben in der bosnischen Republika Srpska über. So als sei es ganz undenkbar, dass die Zufriedenstellung der Kosovoalbaner die albanische Frage insgesamt auch beruhigen oder besänftigen könnte. Und so als sei die Staatengemeinschaft außer Stande, zwischen einer alten und schon unter Tito autonomen Provinz und einem aus Massenmord und Vertreibung geborenen Parastaat zu unterscheiden. Und darauf auch noch zu bestehen! Im Interesse eines nüchternen Urteils empfiehlt es sich, einmal Mostar zu besuchen – vor allem das am östlichen Ufer der Neretva gelegene und im herzegowinisch-kroatischen Umland relativ isolierte bosniakische Mostar. Die wohlfeile Vorstellung von einer politischen Kettenreaktion, die Bosnien morgen zerreißen kann, besitzt hier wenig Überzeugungskraft. Die Leute würden sich auch selbst verrückt machen, wollten sie sich der gängigen Kurzschlüssigkeit überlassen. In Mostar sieht man sich nämlich ganz unmittelbar und hautnah mit einer weiteren und nicht weniger offensiven Spielart dieser »Dominotheorie« konfrontiert: Warum sollte den Kroaten der Herzegowina vorenthalten bleiben, was den bosnischen Serben längst gewährt worden ist? Die Serben haben Banja Luka, die Bosniaken haben Sarajevo – und wir, die kleinste, schwächste unter den drei Nationen Bosniens? Wir haben Mostar – aber bis auf weiteres und ungerechterweise nur das halbe. »Die Kroaten hier wollen die ganze Stadt: als ihr politisches Zentrum, als ihre Universitätsstadt – die Bosniaken wissen, dass sie sich mit ihrer Hälfte begnügen müssen«, so Richard Medic, der sprachkundige und versierte australische Pressesprecher des örtlichen OSCE-Büros, über die Lage in Mostar sieben Jahre nach Ende des Krieges. Die Stadt ist nach wie vor geteilt, daran ändert vorläufig auch der feierliche erste Stein nichts, der tags zuvor in den neu entstehenden Bogen der Alten Brücke eingesetzt worden ist.

 

Frühling in Banja Luka?

Anfang April zerreißt dann für ein Mal der Vorhang der vermeintlichen Automatismen, die dieses in der Tat überaus schlecht konstruierte Staatsgebilde als gänzlich chancenlos erscheinen lassen. Der Ruck, der nach dem Attentat auf Zoran Djindjic durch Belgrad geht, versetzt auch der peripheren Machtzentrale Banja Luka einen Stoß. Das ist der Typ von »Interdependenz«, der die Verantwortung der maßgeblichen Politiker nicht verschleiert, sondern gerade bloßstellt. Sogar Paddy Ashdown, die zivile Spitze des internationalen Protektorats in Bosnien, sieht sich jetzt in den bosnischen Medien einer ungewöhnlich respektlosen Kritik ausgesetzt. Dass er Mirko Sarovic, den serbischen Vorsitzenden des dreiköpfigen gesamtbosnischen Präsidiums, wegen gleich zweier Skandale – dem Waffenhandel einer bosnisch-serbischen Firma mit dem Irak und dem unkontrolliert wuchernden Spitzelwesen der bosnisch-serbischen Armee – nicht eigentlich gefeuert, sondern gewissermaßen höflich aus dem Amt hinauskomplimentiert hat, gilt als ein glattes Versagen. Und der »regelrechte Schock«, den der Hohe Repräsentant in Belgrad angesichts der Details und Hintergründe des Mordanschlags auf den serbischen Ministerpräsidenten offenbar erleidet, ist für ein angesehenes Wochenmagazin wie Dani schlicht ein Ausweis der »politischen Geistesschwäche«. Ausführlich dokumentiert Nezavisne Novine (Unabhängige Zeitung) in Banja Luka, gewiss eine der besten und mutigsten Tageszeitungen im ganzen früheren Jugoslawien (täglicher Verkauf 15000–20000), die Empörung der neuen Belgrader Regierung über die beharrliche Obstruktion der bosnisch-serbischen Behörden bei der Aufklärung des Mords. Dabei ist längst überdeutlich, dass das aufständische Netzwerk von Gangstern, Geheimdienstlern, Angehörigen von bewaffneten Sondereinheiten, pensionierten und aktiven Armeeoffizieren, hochrangigen Gefolgsleuten Slobodan Milosevics frei und ungehindert über die Staatsgrenze zwischen Serbien und Bosnien hinweg operieren konnte. Für dieses Bündnis, das sich die politische Destabilisierung Serbiens zur Aufgabe gemacht hatte und möglicherweise bis in das Büro von Vojislav Kostunica reichte, gab es Bosnien als eigenständiges Gemeinwesen überhaupt nicht. Bosnien war für diese »Patrioten« (wie sie sich selbst nannten) nichts als ein Rückzugs- oder Aufmarschgebiet. Und das scheint hier zu Lande nicht einmal etwas besonders Auffälliges zu sein: Die Kader des bosnisch-serbischen Militärs stehen allgemein in dem Ruf, den Untergang Jugoslawiens noch gar nicht richtig zur Kenntnis genommen zu haben.

Dragan Jerinic, der jugendliche Chefredakteur von Nezavisne Novine, betont im Gespräch die Unumkehrbarkeit der jüngsten Wende in Belgrad. Und der Funke der Demokratisierung werde auf Bosnien, auf die Republika Srpska überspringen. Die Frage nach der Reaktion der einfachen Menschen hier auf die Ermordung Zoran Djindjics beantwortet er ganz anders als Miodrag Zivanovic, Professor für Philosophie an der Universität von Banja Luka: Für diesen gab es »hier auf den Straßen keinerlei erkennbare Emotionen« – für den Journalisten hingegen waren »die Menschen in Banja Luka darüber genauso erschüttert und aufgebracht wie die in Belgrad«. Darin kommen zwei völlig verschiedene Diagnosen und Diagnoseverfahren zum Ausdruck. Der Gelehrte legt den Akzent auf die politische Einstellung der Bevölkerungsmehrheiten: »Unsere Völker sind heute weiter auseinander als im Krieg.« Und dann über die bosnischen Serben: »Unsere Jugend ist heute nationalistisch. Sie besitzt keine universalistischen Normen mehr, und dafür sind vor allem unsere Grund- und Mittelschulen verantwortlich zu machen.« Der Redakteur setzt hingegen beim »System« an – den verkommenen, kriminellen Machtstrukturen der bosnisch-serbischen »Entität«, die die Massen durchschauen, die sie hassen und verachten, denen sie aber ohnmächtig ausgeliefert sind. Es ist dies eher eine »Angebotstheorie« der bosnischen Politik. Der Dissens wirkt auf den ersten Blick befremdlich. Aber er ist vielleicht unvermeidlich in einem Klima der Massenverarmung, der tiefreichenden Entpolitisierung und der Hoffnungslosigkeit – einer Situation, die von beiden Gesprächspartnern angesprochen wird. Wer man ist, wo man steht, kann man mit einiger Sicherheit nur wissen, wo es eine lebendige und funktionsfähige politische Öffentlichkeit gibt.

Erinnerungspolitik

Ein Lektor für deutsche Sprache und Kultur in Banja Luka: »Es gibt liberale, westlich orientierte Leute unter meinen Studenten. Ein Drittel vielleicht. Aber jemandem, der sich der besonderen Verantwortung des serbischen Volkes für die Entfesselung der Jugoslawienkriege stellte, bin ich bislang hier nicht begegnet. Keinem einzigen.«

Ein deutscher Gymnasiallehrer in West-Mostar: »Das darf man auch nicht erwarten, es wäre völlig verfehlt: Ein junger Mensch in seiner ganzen Unsicherheit, mit seinen unausweichlichen persönlichen Orientierungsproblemen kann sich doch unmöglich auch noch mit den verheerenden politischen Entscheidungen der Elterngeneration belasten.«

Recht geht vor

Ende März hat in Potocari bei Srebrenica ein Massenbegräbnis stattgefunden – 600 der irgendwo verscharrten Opfer des Massakers von 1995, die man inzwischen aufgefunden, geborgen und mühselig identifiziert hat, sind jetzt unter Anteilnahme Zehntausender von Menschen bestattet worden. Das Foto in einem bosnischen Magazin zeigt ein großes Feld von frisch ausgehobenen Gräbern – schlichte Särge und einfache hölzerne Stelen in langen Reihen, die Trauernden in zusammengedrängten Gruppen dazwischen. Im Sommer wird es ein weiteres Begräbnis dieser Art geben – wiederum an der Weltöffentlichkeit vorbei, Bosnien ist allein in diesen Dingen. Paddy Ashdown hat in Potocari gesagt, der Frieden werde »nicht so sehr das Ergebnis politischen Handelns im Großen als vielmehr der kleinen Taten eines jeden einzelnen Herzens« sein. Einer der Umstehenden darauf: »Freiheit – darüber muss man sprechen. Nicht über Frieden, in dem wir sitzen wie in einem Käfig.« Er meint das in Dayton garantierte Recht der Vertriebenen, in ihre ursprünglichen Wohnorte zurückzukehren. Nach dem jüngsten Bosnien-Bericht der Brüsseler »International Crisis Group« ist es trotz aller Fortschritte noch nicht wirklich durchgesetzt – in der Republika Srpska am allerwenigsten (The Continuing Challenge of Refugee Return in Bosnia & Herzegovina, December 2002). Die Rückkehrer erhalten heute zwar in aller Regel ihre alten Wohnungen oder Häuser zurück – aber in den existenziellen Bereichen von Arbeit, Schule und Gesundheitsversorgung sehen sie sich nach wie vor einer gezielten und systematischen Entrechtung seitens der jeweiligen Mehrheitsethnie ausgesetzt. In Ostbosnien ist es zweifellos am schlimmsten – wer es überhaupt wagt, hierher zurückzukehren, muss sich mit seinen Anträgen an Behörden und Gerichte wenden, in denen die Mächtigen und die Verbrecher des Krieges bis heute ganz unangefochten das Sagen haben. Sogar die Gefahr für Leib und Leben ist hier noch keineswegs gebannt.

Wie kann der erste Mann des internationalen Protektorats in Bosnien von der Versöhnung der Herzen reden, wenn er und seine Vorgänger im Amt bislang nicht einmal ihre Hausaufgaben zu erledigen vermochten? Es ist immer schlecht, die »Menschlichkeit« zu beschwören, wo nicht einmal der Rechtsstaat existiert. Diese Form des »Idealismus« scheint sich überall breit zu machen, wo die Mitarbeiter der Vereinten Nationen und anderer internationaler Hilfsorganisationen eine schwer gezeichnete Gesellschaft partout dazu bringen möchten, nach vorn zu blicken und das erlittene Unrecht endlich hinter sich zu lassen. Die tüchtigen, energischen Fremden glauben vor allem, sich über die grundlegende, unauslöschliche Differenz von Opfern und Tätern hinwegsetzen zu können und bleiben schon allein aus diesem Grund eine wenig geachtete Kaste für sich. Der amerikanische Journalist Philip Gourevitch hat eine ganz ähnliche Strategie oder Rhetorik für das Ruanda der Zeit nach dem Völkermord aufgezeigt. (Wir möchten Ihnen mitteilen, dass wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden, Berlin 1999) Aber in unserem Fall richtet sich der moralische Appell an Menschen, die gerade ihre ermordeten Angehörigen begraben – während sich der für den Massenmord in Srebrenica verantwortliche General, Ratko Mladic, und der für den Völkermord an den bosnischen Muslimen verantwortliche Politiker, Radovan Karadzic, immer noch auf freiem Fuß befinden. Die Suada ist hier schamlos. Unter dem Druck des Mordanschlags auf Zoran Djindjic hat der Hohe Repräsentant der Regierung in Banja Luka jetzt das »Versprechen« abgenötigt, alles zu tun, was zur Verhaftung Karadzics notwendig ist. Der Vorgang enthüllt die gesamte internationale Bosnienpolitik der Nachkriegszeit: die generelle Schonung der nationalistischen Machteliten Bosniens – und die besonderen Samthandschuhe, die man sich immer für den Umgang mit dem politischen Establishment der Republika Srpska übergezogen hat. Mitte April hat die SFOR schon einmal Naser Oric, den ehemaligen Kommandanten der bosnischen Truppen im eingeschlossenen Srebrenica, verhaftet und nach Den Haag überführt. Die Anklage beschuldigt ihn, für die Ermordung serbischer Zivilisten in den Dörfern um Srebrenica herum verantwortlich zu sein. Das Gericht wird seine Gründe haben – wenn auch die spektakuläre Form der Verhaftung eines Mannes, der sich nie versteckt hat, ein gewisses Befremden hervorruft. Warum hat man den Job nicht von der einheimischen Polizei erledigen lassen? Wie dem auch sei – die umgekehrte Reihenfolge der Verhaftungen wäre überzeugender gewesen.

Kriegsgegner

Größere Demonstrationen gegen den Irak-Krieg scheint es in Bosnien nicht gegeben zu haben. In Sarajevo sind einmal 5000 Studenten auf die Straße gegangen. Eine lautstarke Minderheit hat dabei antisemitische und proirakische Parolen skandiert, und am Schluss kam es gegen den Willen der Veranstalter zu Ausschreitungen gegen die amerikanische Botschaft. Das war es auch schon. Die Presse hat den Krieg auf die hinteren Seiten verbannt – Bosnien interessiert sich eben vor allem für Bosnien, nur der Fall Bagdads war ihr eine Schlagzeile wert. Sonst das Übliche: Die Berichterstattung kritisch bis voreingenommen antiamerikanisch; die Gesprächspartner ebenfalls, und zwar ausnahmslos. Es kann nicht daran liegen, dass Bosnien den Bosnienkrieg bereits vergessen hätte. Aber woran dann? Der Unterschied zwischen Slobodan Milosevic und Saddam Hussein war schließlich nicht allzu groß, und die USA waren in beiden Fällen die einzige Macht, die dem Staatsterrorismus entgegenzutreten bereit war.

Wir sitzen im Wohnzimmer, und Camila, Anfang 60, serviert dem Gast mit leichter Hand Essen, Schnaps und Kaffee. Camil, ebenfalls über 60, ist Taxifahrer und verdient nach Auskunft des Sohnes heute wieder etwas mehr als noch beim letzten Besuch vor zwei Jahren. Es will sich schon die gelöste Stimmung des Wiedersehens einstellen, da kommen im Fernsehen die Nachrichten. Die beiden alten Leute erstarren vor den Bildern der Zerstörung in Bagdad. Als dann Präsident Bush auf dem Bildschirm erscheint, stößt Camila einen unterdrückten Schrei des Abscheus aus. Es ist auch dem irritierten und innerlich auf Distanz gehenden Besucher klar – die beiden reagieren ganz spontan und emotional auf die Trümmerhaufen, auf die schwer verletzten Menschen, auf die überwältigenden physischen Erscheinungen des Krieges. Das Ehepaar war den ganzen Krieg über in Mostar. Es hat die Vernichtung von Mostar – zuerst durch die Serben, dann durch die Kroaten – in Mostar überlebt. Dass sie Muslime sind und als Muslime empfinden, mag eine gewisse Rolle spielen. Dass Bosnien wie ganz Südosteuropa überhaupt eine unendliche Geschichte der politischen Überwältigung und Fremdbestimmung durch die großen Mächte der Welt hinter sich hat, ebenfalls. Aber es ist die Verlassenheit der Jahre 1993 und 1994, die Camil und Camila in ihrer Haltung gegenüber dem Irak-Krieg letztlich zu bestimmen scheint.

Die Frage ist sogar, ob sich hier überhaupt von einem echten Meinungswandel gegenüber den Neunzigerjahren sprechen lässt. In diesem Fall wären die bosnischen Muslime den Amerikanern nämlich zunächst dankbar gewesen für die gewaltsame Beendigung des Bosnienkrieges – erst unter dem Eindruck der offensiven Machtpolitik in der Folge des 11. September hätten sie sich dann von Amerika wieder abgewandt. Wahrscheinlicher ist, dass die Dankbarkeit sich immer sehr in Grenzen gehalten hat – angesichts der katastrophal verspäteten militärischen Intervention der USA. Und angesichts auch der amerikanisch dominierten Friedensregelung mit ihrer Sanktionierung der Republika Srpska.

Neuer Versuch – diesmal nimmt sich der Besucher Djenan vor, einen jungen Mann von 22 Jahren, der während des Bosnienkrieges als Flüchtling in Deutschland war und sich bis heute gern an diese Zeit erinnert. Djenan ist viel selbstbewusster als früher. Zusammen mit seiner Schwester betreibt er einen kleinen, aber gut gehenden Friseursalon in Mostar. Und Studienpläne hat er auch noch. Wir kennen uns immerhin seit Jahren, aber ein richtiges Gespräch über die Amerikaner und ihren Krieg will dennoch nicht zu Stande kommen. Schweigt dieser gewitzte, lebenslustige junge Mostarer etwa aus purer Höflichkeit? Will er dem anscheinend doch ziemlich grimmigen oder bellizistischen Deutschen vielleicht nicht allzu sehr in die Parade fahren? Oder will er überhaupt und grundsätzlich nichts mit »Politik« zu tun haben – durchaus nichts Ungewöhnliches in der jungen bosniakischen Generation. Er verweigert jedenfalls die Aussprache. Schließlich murmelt er verlegen: »Die Leute hier wollen eben keinen Krieg.« Mehr ist aus ihm beim besten Willen nicht herauszubringen – der Abgewiesene muss ihn notgedrungen zu den Kriegsgegnern schlagen.

Blick auf das Ausland

Heute leben in Bosnien-Herzegovina nur noch 2,8 Millionen Menschen gegenüber 4,4 Millionen vor dem Krieg. Allein in Republika Srpska laufen gegenwärtig 20000 Anträge auf Auswanderung – in der Hauptsache nach Australien oder Neuseeland. Dahinter stehen 100<|>000 Menschen – es sind nämlich jeweils ganze Familien, die wegwollen. Und es handelt sich dabei natürlich gerade um die aktivsten und qualifiziertesten Leute des Landes. In Mostar hat der Besucher Gelegenheit, mit einigen Studierenden zu sprechen, die demnächst ein Stipendium in Deutschland antreten werden oder es gerade absolviert haben. Enis, ein angehender Informatiker, der nach Konstanz will: »Ich möchte dort vor allem abklären, ob ich überhaupt zur Welt gehöre.« Es ist nicht so tiefsinnig gemeint, wie es sich zunächst anhört: Der junge Mann will schlicht wissen, ob er mit seinen an der Dzemal-Bijedic-Universität in Ost-Mostar erworbenen Fachkenntnissen auch in Deutschland bestehen und unter Umständen sein Brot verdienen könnte. Muamer, ein Maschinenbau-Student, der gerade ein Jahr in Paderborn und Essen war, ist inzwischen ein großer Fan von Deutschland – seinem Ausbildungssystem, seiner Industrie, seinen Städten und sogar seiner Sozialdemokratie, die mit der bosnischen nicht zu vergleichen ist. Allerdings sagt er auch: »Ich bin gegen die Globalisierung.« So ganz scheint er Gerhard Schröder denn doch nicht in die Fänge geraten zu sein. Und dann stellt er auch eine skeptische Frage: Einer seiner deutschen Professoren habe ihm gesagt, in Deutschland finde jeder Arbeit, der wirklich Arbeit suche – ob das stimme? Die eigenen Berufsaussichten in Bosnien will Muamer nicht definitiv beurteilen. Er scheint aber entschlossen, sich auf keinen Fall mit irgendeinem Job unterhalb seines professionellen Niveaus zu begnügen.

Die jungen Leute von der »Sveuciliste«, von der kroatischen Universität in West-Mostar, haben im Prinzip die gleichen Sorgen – jedenfalls sofern sie nicht der political machine oder dem Patronagesystem von »Herceg-Bosna« angehören, die ihrer Klientel ökonomische und soziale Sicherheit – gut bezahlte Arbeitsplätze, bessere Schulen, ein privilegiertes Gesundheitssystem, eine aufgebesserte Altersversorgung – für politische Loyalität verkaufen. Marina, die hier Germanistik und Kroatistik studiert, gehört nicht dazu. Auf die Frage, ob die Kroaten hier denn tatsächlich Angst vor einem sprachlich-kulturellen Identitätsverlust hätten, antwortet sie, es sei ein Problem des Arbeitsplatzes. In Kroatien könne sie mit ihrem Abschluss nirgends unterkommen – »die hassen uns«, fügt ihre Kommilitonin Sanja mit einem gepressten Lachen hinzu. Bleibe nur der kroatisch kontrollierte Teil Bosniens. Das ist nüchtern gedacht. Und aufrichtig gesagt. Es ist gegenwärtig nicht zu erkennen, was die internationale Gemeinschaft und das Protektorat diesen Menschen politisch anzubieten hätten. Eine »dritte Entität«? Aber das käme einem Zurückweichen vor den Nationalisten von »Herceg Bosna« gleich und würde die Bosniaken in eine unmögliche Lage bringen. Einfach ignorieren lassen sich die spezifischen Zukunftsängste der bosnischen Kroaten auf Dauer freilich auch nicht. Sorge und Unsicherheit sind nicht erfunden – ein bloßes Erzeugnis der Propaganda. So mächtig oder kreativ ist keine Propaganda. Noch einmal Richard Medic: »Sie werden jedenfalls keine Ruhe geben, ehe sie nicht eine Autonomie für sich bekommen.« Marina und Sanja haben ebenfalls ein Jahr an der Universität Konstanz studiert (und dadurch übrigens an ihrer eigenen Universität ein Jahr verloren) – beide heben hervor, dass es eine außerordentlich wichtige Erfahrung für sie war. Aber ihren Existenzkampf müssen sie hier bestreiten.