Balduin Winter
Die militärische Entscheidung im Irak-Krieg hat die
Bewältigung des israelisch-palästinensischen Konflikts in den Vordergrund
gerückt. Seit Ende vergangenen Jahres existiert bereits ein Fahrplan des
»Nahost-Quartetts« – USA, UNO, EU und Russland – für einen Friedensschluss, der
für 2005 angepeilt ist. Der Wortlaut dieses als »Road Map« popularisierten
Dokuments wurde erst in der Osterwoche veröffentlicht. Sein Ziel: »ein
unabhängiger, lebensfähiger, souveräner palästinensischer Staat in Frieden und
Sicherheit Seite an Seite mit Israel«. Dies soll in mehreren Phasen, sozusagen
Zug um Zug vor sich gehen. Die palästinensische Führung muss eindeutig »Israels
Recht auf Existenz in Frieden und Sicherheit« bekräftigen, die Beendigung von
Gewalt und Terrorismus verfügen, die Sicherheits- und Geheimdienste auflösen
beziehungsweise zu einem offiziellen Apparat zusammenführen, der gegen
terroristische Organisationen vorzugehen hat. Die israelische Seite vermeidet
alles, was die Vertrauensbildung untergräbt (Angriffe auf Zivilisten, Zerstörung
von Wohnungen, Konfiszierung von Eigentum etc.) und zieht sein Militär aus den
besetzten Gebieten zurück. In dieser Phase sollen die Palästinenser »ihr bisheriges
politisches Gebilde« in einen Verfassungsstaat mit einem Mehrparteiensystem,
freien Wahlen, Parlament, Demokratie und Gewaltenteilung umwandeln. Israel wiederum
soll Maßnahmen zur Verbesserung der humanitären Lage treffen, Beschränkungen
des Personen- und Warenverkehrs abbauen, jede Siedlungstätigkeit einstellen und
die seit März 2001 errichteten »Außenstellen« der Siedler abbauen. Diese Phase
soll bis Mai 2003 abgeschlossen sein. Bis Ende 2003 soll auf der Basis der
neuen Verfassung ein vorläufiger Staat Palästina entstehen, vorausgesetzt, die
neue Führung ist erfolgreich im Kampf gegen den Terror und im Aufbau einer
Demokratie »auf der Grundlage von Toleranz und Freiheit«. Eine internationale
Konferenz, einberufen vom Quartett, soll Maßnahmen zur Erholung der Wirtschaft
setzen und sich mit Friedensregelungen zwischen Israel und Syrien sowie dem
Libanon befassen. 2004 und 2005 sind dann der »Konsolidierung der Reform und
Stabilisierung der palästinensischen Institutionen« gewidmet; weiters der
Initiierung des Prozesses einer endgültigen Friedensregelung für die gesamte
Region. Dann sollen auch bislang ausgeklammerte Fragen wie endgültiger
Grenzverlauf, israelische Siedlungen, Status Jerusalems und Flüchtlingsfrage
geklärt werden. (zit. nach faz.net, 10.4.) Soweit das bedruckte Papier.
An Plänen und Vorschlägen hat es auch nach dem
gescheiterten Oslo-Prozess nicht gefehlt (Tenet, Mitchell, Fischer, Abdullah).
In der europäischen Öffentlichkeit wurde zuletzt den USA oft Passivität und
Konzeptlosigkeit vorgeworfen, eine Kritik, die in Anbetracht der hervorragenden
Rolle, die die Außenpolitik für die US-Regierung einnimmt, völlig ins Leere
geht und weit mehr über den Weltblick einzelner europäischer Regierungen sowie
der EU verrät. Andererseits haben auch amerikanische Medien die aktuelle Lage
in diesem Konflikt wiederholt als hoffnungslos eingeschätzt: »Wir werden nicht
in der Lage sein, das israelisch-palästinensische Problem in naher Zukunft zu
lösen, aber wir müssen es unter Kontrolle halten, damit wir daran arbeiten
können, die anderen Bedrohungen zu lösen« (Das neue transatlantische Projekt,
Ronald D. Asmus und Kenneth M. Pollack, in: Policy Review, Oct-Nov
2002). Bei aller Kritik auch an israelischen Vorgehensweisen wurde die neue
Qualität des Terrors als unverhandelbar betrachtet (was von den Führern dieser
Organisationen auch bestätigt wird). Insofern verwundert es nicht, wenn nun die
Road Map auf äußerst geteilte Resonanz stößt. In der National Post,
Toronto (9.5.) bezeichnet Robert Fulford den Plan als »Idee von Träumern«. Den
Urhebern wirft er ahistorischen Idealismus vor: »Er basiert auf dem dummen
Einfall, dass Israelis und Palästinenser wie Diplomaten fungieren, die in einem
Konferenzraum in Brüssel sitzen.« Als ob beide Seiten nur darauf warten würden,
»möglichst schnell die ganzen neuen Gewalttätigkeiten zu verzeihen und zu
vergessen«. Zudem unterschätze das Quartett die Popularität Yassir Arafats,
selbst wenn dessen Werte in den letzten Umfragen leicht rückläufig sind.
Auch aus dem arabischen Umfeld mangelt
es nicht an skeptischen Stimmen. Abgesehen von einschlägig ablehnenden
Stellungnahmen, wie sie in der iranischen und islamistischen Presse zu finden
sind, berufen sich die Kommentatoren oft auf westliche Kritik. Die Beiruter Daily
News vom 9.5. zitiert Hanny Megally, Exekutivdirektor der Abteilung
Mittlerer Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch, die an der Road Map die
völlige Unterbelichtung der Menschenrechte kritisierte: »Eine der Aufgaben, die
wir völlig im Report vermissen, war eine Verpflichtung für beide Seiten, jene
Individuen aufzudecken und vor Gericht zu bringen, die ernste Missbräuche begangen
haben, wie ungesetzliche Tötungen oder vorsätzliche Angriffe gegen Zivilisten.
Ein anderer Bereich des Interesses war, dass, wo man wirklich Standards der
menschlichen Rechte erwähnt, sie als politische Fixpunkte klassifiziert wurden,
die abhängig von Vermittlung gemacht anstatt als verbindliche Verpflichtungen
festgelegt wurden.«
In der Al-Ahram Weekly vom 1.5.
entwirft Khaled Dawoud eine strategische Skizze der jüngsten Entwicklungen im
Mittleren Osten, wobei er erstens breit auf die transatlantischen Widersprüche
eingeht, zweitens, dass Colin Powell Syrien, das ökonomisch durch die
Niederlage Saddam Husseins stark geschwächt ist, auf Friedenskurs bringt (und
zwingt), und drittens, Wolfowitz zitierend, dass eine Regimeänderung im Iran
als nächstes Ziel der USA ansteht. Diese äußeren Faktoren werden eine wichtige
Rolle für die Entwicklung im israelisch-palästinensischen Konflikt spielen –
letztlich auch dabei, dass Washington seine Fortschritte nutzen wird, »um die
zentrale Rolle in der Überwachung seiner Implementierung ... zu spielen.
Ähnlich der Situation im Irak – und in Erwiderung auf den Druck durch Sharon –
möchten die USA die europäische und internationale Teilnahme auf humanitäre
Unterstützung für die Palästinenser begrenzen.« Dawoud formuliert keine
explizite Kritik; seine Darstellung, in der die USA schalten und walten,
bestenfalls noch auf Israel hören, die UNO und die EU ins zweite Glied stellen,
arabische und islamische Staaten ignorieren oder abstrafen, spricht für sich.
Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Forschung hat in
einem Beitrag zum Jour Fixe am 9.4. Stellung zu den regionalen Auswirkungen des
Irak-Krieges bezogen. Gleich einleitend skizziert sie amerikanische Probleme
der Umsetzung: »Gleichzeitig wird der innenpolitische Druck auf US-Präsident
Bush steigen, sich nicht für eine Friedenslösung auf der Basis
›Land für Frieden‹ einzusetzen, da dies israelische Interessen gefährde.
Kongressabgeordnete, think tanks und Lobbygruppen positionieren sich
derzeit gegen ein intensives amerikanisches Engagement. Hier gibt es eine
Übereinstimmung der Interessen von Neokonservativen (die schon seit Jahren für
einen Abbruch des Oslo-Friedensprozesses und für eine Politik der israelischen
Stärke eingetreten sind), der christlichen Rechten (für die das Heilige Land
nicht ›aufgegeben‹ werden darf, um die Wiederkehr des Messias zu ermöglichen)
und der (Likud-nahen) Pro-Israel-Lobby, die den Kurs der Sharon-Regierung stützt.
Der Druck, diese Gruppierungen nicht zu verprellen, wird im Vorfeld der Wahlen
2004 weiter zunehmen.« In der Folge führt sie weitere schwer wiegende Probleme
an: das fehlende Gewaltmonopol der palästinensischen Autorität, die nicht in
der Lage ist, bewaffnete Gruppen zu entwaffnen und zu kontrollieren, das
angeschlagene Image der USA als »ehrlicher Makler« für einen Friedensprozess,
die Ablehnung der Islamisten und der PFLP am politischen Prozess teilzunehmen.
Aber auch die israelische Seite legt die Latte sehr hoch, so dass die Autorin
zum Schluss gelangt: »Mit der jetzigen israelischen Regierung ist eine
Umsetzung der road map nicht zu erwarten.«
Sie schließt eine Drei-Punkte-Kritik an: das Fehlen von
klaren Zielvorgaben, das Fehlen eines verbindlichen Zeitplans und das Fehlen
von Sanktions- und Durchsetzungsmechanismen; weiters ist die Rolle der
internationalen Gemeinschaft nicht klar, es mangelt an einem
Streitschlichtungsmechanismus durch eine unabhängige Instanz und an konkreten
politischen und militärischen internationalen Garantien für eine endgültige
Lösung.
Eine »europäische Perspektive« schlägt
Winfried Veith in Internationale Politik und Gesellschaft 2/03 vor, die
er zugleich für den »Schlüssel für eine Lösung« hält. Ausgangspunkt ist die Vorbildfunktion
Europas: »Europa in Gestalt der Europäischen Union
kann aber allein schon deswegen eine glaubwürdige Rolle im Nahostkonflikt
spielen, weil es aufgrund seiner Geschichte und seiner derzeitigen
institutionellen Verfassung geradezu ein Musterbeispiel für friedliche
Konfliktlösung und Friedensaufbau ist.« Er rekurriert auf die transatlantischen
Unterschiede, will den Barcelona-Prozess umfunktionieren. Ein UN-Mandat kommt
nicht in Frage, doch müsse die EU endlich ihre geplante schnelle Eingreiftruppe
anbieten können. Vor allem aber stünde Israel ökonomisch Europa weit näher als
den USA. Veith schlägt als »kühne Vision« die Aufnahme Israels in die EU vor,
wobei er einen Sonderstatus vorschlägt. Über ein EU-gezähmtes Israel ließe sich
ein Brückenkopf schlagen zu einer ökonomisch abgehängten arabischen Welt, für
die die Europäer eindeutig mehr übrig haben als die Amerikaner. Veith führt
dazu eine israelische Debatte an, die zeigt, dass dieser Gedanke mit seinen
weit gehenden Implikationen durchaus erwogen wird.
Auch in den USA werden neben der Road Map ganz andere Vorschläge
zur Debatte gestellt. Martin Indyk, unter Bill Clinton Staatssekretär für Angelegenheit
des Nahen Ostens und Botschafter in Israel, heute Leiter des Saban Centers in
der Brooking Institution, hat mit israelischen, palästinensischen und
US-amerikanischen Kollegen die Idee eines Protektorats für Palästina
entwickelt, die er im Mai/Juni-Heft der Foreign Affairs darlegt. Er
zerlegt die Road Map als einen von vielen zum Scheitern verurteilten Versuchen:
Einen »Deus ex machina« für den Nahen Osten gibt es nicht. Seine Kritik deckt
sich in vieler Hinsicht mit jener, die Muriel Asseburg von der SWF angeführt
hat. Seinen Vorschlag bezieht er aus der Praxis: »Das Konzept des Protektorats
ist mit guter Wirkung an anderen Plätzen erprobt worden – wie Osttimor und
Kosovo.« Schritt für Schritt geht er dann seinen Plan durch. Voraussetzung ist
die »ausdrückliche Vollmacht zur Errichtung eines unabhängigen, demokratischen
palästinensischen Staates«. Eine Verwaltungsinstanz würde zunächst die
förmliche Leitung übernehmen mit der Absicht, dass sich »die Palästinenser
demokratische politische Institutionen schaffen, eine unabhängige Justiz
aufbauen und freie Wahlen abhalten. Zugleich würden die Verwalter mit Unterstützung
der Weltbank und des IWF die Errichtung transparenter und verantwortlicher
ökonomischer Anstalten überwachen. Dieser Prozess, international finanziert,
wird von einer Bemühung begleitet, die einer Art Marshallplan für den Umbau der
palästinensischen Wirtschaft entspräche.« Um die israelischen Truppen zum Rückzug
zu bewegen, müssten internationale Truppen eingesetzt werden, allerdings unter
US-Kommando, die auch Terroreinheiten bekämpfen können, ähnlich wie in Afghanistan.
In diese Truppe sollen allmählich auch arabische Kräfte einfließen. Was Indyk
insgesamt vorschlägt, ist ein Schritt um Schritt abgestimmter Prozess des
Nation-Building, also etwas, das bisher gar nicht im Sinne der Bush-Regierung
lag. Aber nur über diesen wahrscheinlich längeren Weg könne die USA wieder ein
größeres Vertrauen in der Region zurückgewinnen.