Das Geständnis als Gnadenerweis

Anmerkungen zum Metzler-Prozess und die Folter-Diskussion

Eva Horn

Am 27. September 2002 wurde der 11-jährige Jakob von Metzler von dem 27-jährigen Jurastudenten Magnus Gäfgen entführt und die Eltern des Kindes um eine Million Euro Lösegeld erpresst. Der Junge wurde vier Tage später, einen Tag nach der Festnahme des Täters, tot am Rande eines Weihers geborgen. Wo sich das Kind befindet, hatte der Täter angegeben, nachdem er erheblich unter Druck gesetzt worden war.

Der Prozess beginnt am 9. April so, wie Prozesse dieser Größenordnung gerne begonnen werden: mit Anträgen, Vorbemerkungen, Stellungnahmen zu den Anträgen, Ergänzungen, Klarstellungen und Stellungnahmen zu den Klarstellungen. Natürlich hat das alles seinen prozessualen Hintergrund, die verbotenen Vernehmungsmethoden, mit denen der Angeklagte unter Druck gesetzt worden war, damit er den Aufenthaltsort des entführten Kindes nenne, von dem man nicht wusste, aber befürchtete, dass es nicht mehr am Leben war, liefern die objektiven Gründe.

Am Nachmittag dieses ersten Verhandlungstages entscheidet das Gericht, die bisherigen Geständnisse des Angeklagten auf Grund der verbotenen Vernehmungsmethoden nicht zu verwenden. Den Antrag auf Beendigung des Verfahrens lehnt es aber ab, da eine Heilung unter der Voraussetzung möglich sei, dass der Beschuldigte seine Entscheidung auszusagen völlig neu treffen kann. Dann belehrt der Vorsitzende den Angeklagten nach allen Regeln der Kunst. Anschließend weist er alle Verfahrensbeteiligten darauf hin, dass es zwar geboten war, sich mit diesen Rechtsfragen zu befassen, jetzt aber das eigentliche Verbrechen wieder in den Vordergrund treten solle, was in der öffentlichen Berichterstattung nicht unbedingt der Fall gewesen sei. Und man hofft, die Verteidigung mit ihren ständigen Interventionen, die wie Relativierungen des eigentlichen Verbrechens wirken, möge endlich Ruhe geben. Sympathien, auf die der Angeklagte angesichts von Art und Umständen seiner Tat dringend angewiesen wäre, trägt ihm das (auch bei mir) nicht ein; eher steigert es die Aversionen. Aber statt Ruhe zu geben, ist der Verteidiger am Abend dieses Tages im hessischen Fernsehen mit der Äußerung zu hören, die Staatsanwaltschaft könne dankbar sein, dass sein Mandant ein Geständnis ablege. – Das Geständnis also nicht aus Reue, sondern als Gnadenerweis.

Was dann am nächsten Tag vom Angeklagten zu hören war, bot für Dankbarkeit keinerlei Anlass. Minutiös beschreibt er seine Tat, von der er behauptet, er habe sie so niemals ausführen wollen. Bemerkenswert (pervers) wirkt seine Einschätzung, ein Kind, dem er gerade den Mund mit Klebestreifen zuklebt, davon überzeugen zu können, es passiere ihm nichts. Das habe er ihm immer wieder gesagt. Aber der Junge wollte nicht hören und wehrte sich und schrie, während er, Magnus Gäfgen, doch Ruhe brauchte. Nachdem er ihm auch noch die Nase zugeklebt hatte, damit er Ruhe gab, legte er sich neben das Kind, bis es aufhörte zu leben.

Dass er den Jungen von Anfang an hatte töten wollen, dafür spricht vor allem, dass er zwar akribisch seine Vorbereitungen für die Entführung getroffen hatte – so fand man auch einen Zettel mit dem Wort „Steg“ bei ihm – aber keine für die Zeit zwischen Entführung und Rückkehr. Weder Essen noch Trinken, noch Kleidung noch hatte er die Hütte, wo er das Kind angeblich hatte unterbringen wollen, nochmals inspiziert. Und auf die Frage des Staatsanwaltes, wie er sich das denn gedacht habe, es sei Ende September gewesen, bei den Temperaturen, das Kind nur in der Unterhose, meinte er recht belehrend, der Bettbezug sei ja schließlich auch noch da gewesen.

 

Der Angeklagte selbst spricht im Rahmen seiner Äußerungen zur Person häufig von der Maske, die er sich zugelegt habe, um seine Herkunft und sein geringes Selbstbewusstsein, seine Schüchternheit zu kaschieren, aber es wird deutlich, dass er den Mörder unter der Maske, zu dem er geworden ist, übersieht. Und wenn er sagt, er habe bis heute noch nicht richtig begriffen, was er da getan hat, dann ist ihm das zu glauben, auch wenn ihm gleichzeitig nicht zu glauben ist, dass er die Tötung des Kindes nicht von Anfang an geplant hat. Möglicherweise hat ihn überrascht, dass das tatsächliche Töten und die vorangegangene Vorstellung davon doch zwei verschiedene Dinge sind.

Stärker als ein sexueller oder pädophiler Antrieb zur Tat (was im Hintergrund sicher auch mitschwärt) drängt sich der Gedanke an Rache und der Wunsch nach Einverleibung auf; Rache an und Einverleibung von der Vitalität des Kindes, dessen sichtbarer Lebensfreude und Eingebundenheit, aber auch von Besitz und Stand, den das Kind repräsentierte. Für einen blutleeren und vom Neid zerfressenen jungen Mann, der in dem Wahn lebte, in einer Preisklasse mitspielen zu können, die nicht die seine war, muss dieses selbstbewusste Kind eine (tödliche) Herausforderung gewesen sein.

Besonders unangenehm an diesem Angeklagten ist seine extreme Gefühls- und Bindungslosigkeit, die sich vor der Tat darin äußerte, dass er sein Umfeld, einschließlich seiner Freundin, über sich, seine Gefühle, seine Arbeit, seine Einkünfte und seine Bedrängnisse täuschte und allen jemanden vorspielte, der er nicht war, und dass er nach der Tat alle diese Menschen schamlos preisgab, teils indem er sie mit seiner Gegenwart als jemand, der gerade gemordet hatte, belastete, teils indem er dafür sorgte, dass diese Menschen reihenweise in der durch die Entführung und Ungewissheit hochgradig aufgeheizten Atmosphäre verhaftet wurden und dadurch in den Sog dieser Tat hineingerieten. Weder seine Freundin, eine sechzehnjährige Schülerin, die er, wie er sagte, so sehr liebte, noch seine Eltern verschonte er. Das junge Mädchen schickte er nicht nach Hause, wohl wissend, dass seine Verhaftung bevorstand; zu seinen Eltern fuhr er unmittelbar nach der Tat zum Mittagessen, sodass sich diese für den Rest ihres Lebens fragen werden, wie ihnen hat entgehen können, was ihr Sohn da gerade verbrochen hatte. – Er hat nicht nur diesen quälenden Mord begangen, sondern sein ganzes Umfeld infiziert.

 

Der neunte und bisher letzte Verhandlungstag bringt dann einiges Überraschende. Neu für alle Verfahrensbeteiligte ist ein Zettel, auf dem der Beamte, der die erste Vernehmung nach der Verhaftung des Beschuldigten durchgeführt hat, diesem drei Alternativen zum Ankreuzen vorgelegt hatte:

– Befindet sich Jakob alleine irgendwo?

– Oder ist er unter Bewachung/Aufsicht?

– Oder befindet er sich nicht mehr am Leben?

Er habe sich, sagt der Beamte, wegdrehen müssen, während Gäfgen sein Kreuzchen hinter die zweite Frage machte. Auch spricht er über die falschen Angaben vom Aufenthaltsort des Kindes (Stichwort Langener Waldsee), von falschen Anschuldigungen und davon, wie dieser, immer wenn es eng für ihn wurde, sich mit Essen und Trinken abgelenkt habe.

Wir erfahren an diesem Tag auch, dass die ältere Schwester des entführten Jungen in einem Telefongespräch mit einer Freundin bereits am Abend der Entführung den heutigen Angeklagten verdächtigte, in die Sache verwickelt zu sein und Geld als treibende Kraft vermutete.

Und wir erfahren von den erschreckenden Umständen, unter denen die ersten beiden der zu Unrecht Beschuldigten in ihren Wohnungen überrascht und verhaftet worden waren. Zwei Brüder, die Magnus Gäfgen vor etlichen Jahren sexueller Übergriffe beschuldigt hatten. – Als der Vorsitzende einen der beiden fragte, ob er denn wisse, wem er das alles (den »Überfall« der Polizei) zu verdanken und ob sich derjenige mal auf Umwegen bei ihm entschuldigt habe, greift der Verteidiger korrigierend ein. Die Verhaftung ginge auf das Konto seines Mandanten, aber die Art, wie die Polizei vorgegangen sei, könne man ihm nicht anlasten.

Besonders wichtig ist der Verteidigung auch die Klärung der Frage, ob Gäfgen während seiner ersten Vernehmung an Händen und Füßen gefesselt gewesen sei. In diesem Verlangen danach, das Vorgehen der Polizei in einen wie auch immer gearteten Unrechtszusammenhang zu stellen, scheint der Wunsch durch, die Tat eines Kindermörders gegen ein Fehlverhalten der Beamten aufzuwiegen und damit Schuld zu relativieren. Dabei erweist sich der Verteidiger im Laufe des Verfahrens im Austeilen von Kritik als ausgesprochen großzügig, im Einstecken derselben aber ebenso mimosenhaft beleidigt.

 

Befremdlich wirkt, mit welcher Inbrunst ausgerechnet an diesem Fall das Thema Folter abgehandelt wurde; befremdlich nicht nur, weil es sozusagen am langen Arm eines Mörders und seines Verteidigers geschah, sondern auch, weil hinter dieser Diskussion der heimtückische Mord geradezu verschwinden oder relativiert werden konnte, so als könnte man das eine gegen das andere aufrechnen. Gleichzeitig geriet die Tatsache, dass es um den Aufenthaltsort und die mögliche Rettung eines Kindes und nicht um die Erpressung eines Geständnisses ging, aus dem Blick, und ebenso, in realistischer Einschätzung der Person des Festgenommenen, dass eine kurze Drohung ausreichte.

Kurz:: Die Diskussion wurde sehr pauschal und wenig am konkreten Fall geführt. Die Frage aber ist, ob es für Extremsituationen dieser Art einfache und absolut geltende rechtliche Vorgaben geben kann, oder ob es nicht vielmehr Situationen im Leben gibt, bei denen es illusionär und unrealistisch erscheint, sie ließen sich ausschließlich über bestehendes Recht regeln und entscheiden.

Realitätsfern scheint mir allerdings die Vorstellung, man könne „sauber“, also vor dem eigenen Gewissen unbeschädigt und ohne die Frage, auch wirklich das Richtige getan zu haben, aus einer solchen Situation und dem damit verbundenen Dilemma herauskommen.

Stärker als die Rechtsfrage dürfte sich in einer solchen Situation, in der es um die Abwägung von Rechtsgütern geht, die persönliche Gewissensfrage stellen, nämlich: Wer geht hier vor, wessen Leben und wessen Würde ist zu schützen oder zu retten? Und wie verantworte ich das? Vor den Eltern des Kindes, wenn ich den vermutlichen Täter (dessen Involviertheit ja inzwischen zweifelsfrei feststand) schone und damit riskiere, eine Chance, das Leben des Kindes zu retten, zu versäumen? Und wie vor dem Gesetz, wenn mir das Leben des Kindes wichtiger ist als die Würde des Täters?

Es geht in diesem Zusammenhang um die Anerkennung eines im Grunde unlösbaren Konfliktes; je weiter man selbst davon entfernt und in die Notwendigkeit zu handeln nicht eingebunden ist, umso »reiner« und am Recht orientiert bleiben die Vorstellungen und auch umso unberührter von der Gewalt, die der Täter durch sein Handeln ins Spiel gebracht hat.

Sehr realitätsnah stellte der Strafrechtler und Rechtsphilosoph Walter Grasnick (FAZ, 26.4.) die Frage: Würden Sie es tun?, und nahm damit eine schon von Luhmann angeregte Diskussion auf, wie man sich denn, wenn es etwa um Tausende von Menschenleben ginge, die durch eine erfolterte Preisgabe (etwa einer versteckten Bombe) zu retten wären, verhalten würde? – In unserem konkreten Fall ließe sich diese Frage noch weiter differenzieren – denn der Frankfurter Polizeivizepräsident hat die Drohung ja nicht selbst ausgesprochen, sondern aussprechen lassen –, nämlich einerseits in die danach: Würden Sie es einem Untergebenen befehlen zu tun oder einen Freiwilligen suchen? Und: Würden Sie einem solchen Befehl folgen oder sich freiwillig zur Verfügung stellen?

Die Rettung vor solchen Fragen liegt in ihrer grundsätzlichen Verneinung. Das kann aber zur Folge haben: Menschenwürde des Täters gerettet, Opfer tot.

In hochgradig aufgeladenen und für das oder die Opfer lebensbedrohlichen Ausnahmesituationen – und die Zeit der Entführung zwischen 27. September und 1. Oktober letzten Jahres war eine solche, was man zwar bedauern, aber nicht verhindern kann, da alle Beteiligten (unvollkommene und von Stimmungen beeinflussbare) Menschen sind – dürfte entscheidender als die Rechtslage für das Verhalten die Frage der jeweiligen Mentalität sein, die angesichts einer solchen Situation zum Tragen kommt.

Denn der grundsätzlichen Verneinung all dieser unangenehmen Fragen (Würden Sie es tun? Und was wären die Folgen?) liegt (vermutlich) eine andere Mentalität zu Grunde, als sie derjenige hat, der die Möglichkeit, auf dem Wege der Druckausübung bis zur Gewaltanwendung Menschenleben zu retten nicht nur in Erwägung zieht, sondern auch sie anzuwenden bereit ist.

Im Extremfall bleibt keine dieser von der jeweiligen Mentalität geprägten Verhaltensweisen folgenlos; dem Rechtstreuen kann – kommen Menschen zu Tode – hinterher Rechtsstarre vorgeworfen werden, und der Verfassungsbrecher kann als Lebensretter erscheinen, wenn nur genügend gerettete Leben gegen den Verfassungsbruch aufgewogen werden können.

 

Das in der Debatte häufig angeführte Argument, durch eine Diskussion um diese Fragen würde ein Tabu gebrochen oder würden »Schleusen« geöffnet, zeugt von einer gewissen Kleingläubigkeit und von großem Misstrauen, auch gegenüber unseren Ermittlungsorganen. Es scheint, als wolle man eine solche Debatte schon deshalb nicht führen, weil man diesen einen verantwortungsvollen Umgang mit solchen Fragen grundsätzlich nicht zutraut. Von daher wäre es vorrangig, dieser doch sehr elementaren  Frage, ob und wie berechtigt solches Misstrauen ist, nachzugehen.