Die politischen Dimensionen des militärischen Sieges

Warum sich die Wortführer der »neuen Weltordnung« durchsetzen konnten

Dick Howard

 

Warum war die zivile Opposition in den USA nicht in der Lage, politischen Einfluss gegen den Irak-Krieg auszuüben? Unser Autor zeigt die lange Genesis dieses Konflikts auf mit seinem Wendepunkt des 11. Septembers, insbesondere die Schwächen der Liberalen und Linken: Ihre Antwort war nur moralisch, nicht politisch.

 

Bevor man kritisiert, muss man versuchen zu verstehen. Bevor man verzweifelt, muss man Abstand gewinnen, Zusammenhänge herstellen und die Frage umreißen. Meine Frage könnte folgendermaßen formuliert werden: Wie kommt es, dass die Bush-Regierung trotz massiver inländischer und internationaler Proteste von Seiten der Zivilgesellschaft und der verbündeten Staaten nicht gezögert hat, den Krieg gegen den Irak zu beginnen? Das läuft darauf hinaus, diese Frage zu stellen: Warum war die zivile Opposition nicht in der Lage, einen politischen Einfluss auszuüben? Schließlich, und vor allem auf der Seite der Linken: Wie kann man eine politische Strategie erfinden, um die vergeblichen moralischen Proteste zu ersetzen, die sich als wirkungslos erwiesen haben? Wenn wir den neoimperialen Zielsetzungen einer gut organisierten Clique in Washington etwas entgegensetzen wollen, müssen wir eine Antwort finden, die eine andere Vision von der Zukunft bieten kann. Diese Vision zu finden, zwingt einen dazu, eine politische Kritik der Kritiken von Links vorzunehmen, selbst wenn dabei die Gefahr besteht, dieser neuen Rechten, die man verstehen und bekämpfen muss, eine gewisse Glaubwürdigkeit zu verleihen.(1)

Glücklicherweise war der Krieg kurz, wenngleich es lange dauern wird, den Sieg zu sichern. Es ist richtig, dass keine der vorhersehbaren Katastrophen eingetreten ist: keine Terroranschläge in den USA, kein Einsatz von Massenvernichtungswaffen ... Indessen sind eine Reihe von Bündnissen in Frage gestellt worden, von den bilateralen (insbesondere mit Frankreich) bis zu den multilateralen (die NATO, die Spaltung zwischen dem »alten« und dem »neuen« Europa) und sogar bis zu den Vereinten Nationen.(2) Und seitdem man das Ende der militärischen Phase verkündet hat (am 14. April), hat man begonnen, Syrien zu bedrohen, dem vorgeworfen wird, die irakischen Führer und andere Übeltäter zu beherbergen. Es hat den Anschein, dass die amerikanische Regierung nur im Modus der Drohung funktioniert (was zum Teil das Scheitern der Verhandlungen erklären könnte, die auf die Annahme der UNO-Resolution 1441 folgten).

 

Um diese neue Lage zu begreifen, muss man zur Regierung des ersten George Bush und zu seinem Team zurückkehren. Die Bush-Administration erfand nach 1989 den Slogan von der »Neuen Weltordnung«, aber die politische Vision, die er enthalten sollte, war nicht besonders ausgefeilt. Bevor sie Gestalt annehmen konnte (oder vielleicht, weil sie keine Gestalt annahm), marschierte der Irak in Kuwait ein. Auf Anraten von Colin Powell (der damals Generalstabschef war), der seine gleichnamige Doktrin formulierte, brachten George Bush und sein Team eine große militärische und politische Koalition zusammen, die die Streitkräfte von Saddam lange und massiv bombardierte, bevor sie mit der Bodeninvasion begann ... die nur 100 Stunden dauerte und kurz vor den Toren Bagdads abgebrochen wurde.

Vergessen wir den Vertrag, der damals den Militäreinsatz beendete. In den letzten Debatten des Sicherheitsrates ist genug darüber diskutiert worden, um aller Welt den Teufelskreis verständlich zu machen, in dem man sich befand. Ohne die glaubhafte Androhung einer bewaffneten Intervention konnte Saddams Irak nach Belieben taktieren, mit den UNO-Inspektoren Versteck spielen und vor allem die Erdöleinnahmen nutzen um die Macht der Baath-Partei wieder aufzubauen, während er gleichzeitig die UNO und den Westen für die schlechten Lebens- und Gesundheitsbedingungen verantwortlich machte, denen man die unschuldige Bevölkerung aussetzte. Saddam ernsthaft zu bedrohen, rief aber die Gefahr hervor, den Sicherheitsrat zu spalten, wie man bei der Umsetzung der Resolution 1441 feststellen konnte.

Dieser erste Golfkrieg hatte zwei Folgen. Zum einen schuf er die Bedingungen der Möglichkeit für ernsthafte Verhandlungen zwischen Israel und Palästina. Begonnen in Madrid, führten sie nach Oslo, und zwar nicht nur in der Hoffnung auf einen realen Frieden, sondern auch und vor allem auf eine regionale Umgestaltung, die den Nahen Osten aus seiner wirtschaftlichen Erstarrung und seinen revanchistischen Träumen heraustreten lassen würde, sodass die Region dann, ausgehend von einem neuen Wirtschaftswachstum, den Weg zu einer politischen Reform finden könnte – zu jener demokratischen Reform, deren Erfolg man gerade in Osteuropa erlebt hatte. Das wäre eine Möglichkeit, der Parole von der »Neuen Weltordnung« endlich einen Inhalt zu geben.

Das zweite Ergebnis dieses ersten Golfkrieges bezog sich auf das Bedürfnis, eine globale Strategie zu entwerfen, die mit der neuen Weltlage vereinbar wäre. Das Verteidigungsministerium, damals von Dick Cheney geleitet, arbeitete bereits daran, und George Bush gab in einer Rede vom 2. August 1990 – dem Tag der Kuwait-Invasion – einen kurzen Überblick davon. Die Arbeit ging indessen weiter. Im Folgejahr formulierte Zalmay Khalizad, der heutige Verantwortliche für die amerikanische Politik in Afghanistan und im Irak, seine Hauptthese im Titel eines Artikels: From Containement to Global Leadership. Die fragliche leadership sollte durch die Ausschaltung jedes aktuellen oder potenziellen Rivalen ausgeübt werden; Amerika sollte die militärische Vorherrschaft haben, ganz gleich um welchen Preis (der Verlust von »soft power« ging nicht mit in die Berechnung ein). Man erkennt die Herkunft der Thesen der Neo-Imperialisten, die den gegenwärtigen Präsidenten Bush umgeben. Der Hegemon wird keinen Konkurrenten dulden; der Militäretat muss erhöht werden, die Streitkräfte müssen beweglicher werden, bereit, überall einzugreifen (während die Nation durch das künftige Raketenabwehrsystem geschützt wird, und zwar trotz des ABM-Vertrages mit der früheren UdSSR und trotz anderer Erwägungen, die sich auf die Rüstungskontrolle beziehen).

Zur großen Überraschung der Wortführer der »Neuen Weltordnung« mussten sie bei den Wahlen von 1992 erleben, dass Amerika ihre geostrategische Vision ablehnte und einen kleinen Gouverneur aus dem Süden wählte, nämlich Bill Clinton, dessen Plattform auf Folgendem beharrte: Als Erstes kommt die Wirtschaft (the economy, stupid). Das hieß in ihren Augen, dass die amerikanische Demokratie verraten wurde, dass sie nicht in der Lage war, ihre Pflichten zu erfüllen und dass ihre kommerzielle und pazifistische Neigung erneut ihre universalistische Berufung besiegt hatte. Man musste sich daher auf die Revanche vorbereiten, die Drohung konnte in der Finsternis, in die sie gefallen war, nur größer werden.(3)

Diese Revanche kam nicht von selbst zu Stande. Trotz des Sieges in der Schlacht (nach den Wahlen) in Florida. Der Wahlkandidat Bush hatte eine Außenpolitik angekündigt, die aus »Bescheidenheit« und »Realismus« bestehen sollte. Viele verstanden darunter eine Art Aufruf zu einem neuen Isolationismus, vor allem, als Bush die Ambitionen der Clinton-Gore-Administration kritisierte, die der voluntaristischen Hybris des »nation-building« schuldig sei. Es war offensichtlich der 11. September, der der Bush-Präsidentschaft ein anderes Gesicht gab. Und zugleich verhalf dieser Terroranschlag den Propheten der »Neuen Weltordnung« wieder in den Sattel, die bis dahin von Colin Powell und seinem State Department zurückgewiesen wurde. Man muss hinzufügen, dass die amerikanische Seele sich davon tief betroffen fühlte: Es war amerikanisches Blut geflossen, daher kam jetzt das Blut der Feinde Amerikas in die Schusslinie. Die am Ende des Kalten Krieges formulierten Ideen konnten endlich in Politik umgesetzt werden. Der wilsonsche Moralismus kombinierte sich mit dem jacksonschen Ressentiment zu einem explosiven Cocktail, den Pierre Hassner als »gestiefelten Wilsonismus« bezeichnet.

 

Der 11. September hat zu widersprüchlichen Interpretationen geführt. Einerseits hat man die von Bin Laden verkörperte fundamentalistische Bedrohung unterschätzt. Rückblickend sieht man sehr wohl eine Verkettung, die mit dem ersten Anschlag auf das World Trade Center begann, sich mit den Anschlägen auf in Saudi-Arabien stationierte Soldaten und auf die amerikanische Botschaft in Kenia fortsetzte und schließlich im Jemen zum Angriff auf das Kriegsschiff Cole führte. Aber der Rückblick ist zu einfach und oft trügerisch; er kann zu einer Überschätzung führen. So war die andere Reaktion auf den 11. September eine Art von Überschätzung der Bedrohung. Der Schlag vom 11. September hat mit Sicherheit die Hoffnungen, aber auch die tatsächlichen Möglichkeiten seiner Auftraggeber überschritten. Al-Qaida war nicht überall. George Bush hat seine Berufung gefunden und fand sich umgeben von Visionären, die nicht zögerten, ihren Nutzen aus den Ängsten eines tödlich verletzten und heftig aufgebrachten Amerika zu ziehen.

Bush schien eine Weile ganz gut zu spielen; er reagierte nicht wie ein verletztes Tier, sondern ließ sich Zeit. Die eher schnelle Niederlage der Taliban wertete die neue militärische Taktik auf, die durch amerikanische Spezialeinheiten, inländische Kräfte und Präzisionswaffen umgesetzt wurde (wenngleich die Führer von al-Qaida fliehen konnten). Man konnte schon bestimmte Bündnisse – die an die faulen Kompromisse in der Zeit des Kalten Krieges erinnern – mit recht unsauberen Regimen problematisch finden, etwa mit Usbekistan und anderen »-stans«, die von kleinen Diktatoren regiert werden und zur Zeit der Sowjetherrschaft eingesetzt wurden. Auch das Ausbleiben des versprochenen Marshall-Plans, um Afghanistan wieder auf die Beine zu bringen, mochte einem zu denken geben. Aber zwei kleine Sätze, die aus Washington kamen, zeigten die Intentionen der Administration noch deutlicher. Donald Rumsfeld erklärte, dass dies im Gegensatz zur Intervention der NATO im Kosovo eine »Mission sei, die die Koalition beenden« würde, was bereits den Unilateralismus ankündigte, der sich im Irak bestätigt hat. Es wäre die Aufgabe der Amerikaner, Krieg zu führen, und (vielleicht und bestenfalls) die der Europäer, hinterher zu kommen, um die zerschlagenen Töpfe wieder zusammenzukleben. Zum anderen ergriff Bush fast zwei Wochen nach dem 11. September (am 24.) das Wort und kritisierte die Schurkenstaaten (rogue states); zudem verkündete er, dass jeder, der nicht auf »unserer« Seite stehe und Terroristen beherberge, selbst wie ein Terrorist behandelt werden würde. Damit wurde die Doktrin vom Präventivkrieg vorweggenommen. Diese Entwicklung wurde von Condoleezza Rice bestätigt, die vor den Wahlen im Jahre 2000 in Foreign Affairs erklärt hatte, dass das Fehlen eines Feindes die USA daran hindere, ihre außenpolitischen Ziele zu definieren; jetzt, im September 2002, konnte sie auf eine »National Security Strategy« verweisen, die den Sieg der Herolde der »Neuen Weltordnung« bestätigt. So sind wir also aufgebrochen, um auf der ganzen Welt die amerikanische Hegemonie durchzusetzen.

 

Wie soll man in einem solchen politischen Kontext den Sieg im Irak interpretieren? Zunächst kann man sich fragen, wo die »Realisten« geblieben sind, die unter Bush sen. die ersten Rollen gespielt haben. Abgesehen von einigen Kommentaren im Sommer 2002, in denen James Baker und Brent Scowcroft ihre Zweifel ausdrückten, haben diese kampferprobten Männer geschwiegen. Wollen sie ihre Glaubwürdigkeit bewahren, damit sie im Notfall eingreifen können, falls sie eine Entscheidung für gefährlich halten? Fürchten sie sich vor der Aggressivität des aktuellen Teams, das deutlich zu verstehen gibt, was es vom »liberalen« Symptom hält? Es war überraschend, in einer Notiz der New York Times (9.4.03) zu lesen, dass Brent Scowcroft in Oslo seine Kritik vom letzten Sommer erneut bekräftigt hat; ein Krieg im Irak würde die Aufmerksamkeit vom Hauptkampf ablenken, von der Bekämpfung des Terrorismus; wenn es dort Krieg geben müsse, dann mit einer breiten Koalition unter der Schirmherrschaft der UNO. Warum wird das nicht in der inneramerikanischen Öffentlichkeit gesagt? Aus Loyalität für die Partei, für die Familie Bush?

Noch verblüffender ist allerdings das Fehlen von Kritik, die von links kommt (einschließlich der demokratischen Partei). Hier gibt es in der Tat ein Klima der Unsicherheit, und der Justizminister John Ashcroft ist dabei, umfangreiche repressive Maßnahmen zu ergreifen. Aber es gibt keinen neuen McCarthyismus, Kritik darf geäußert werden – sie kommt zum Beispiel auf den großen Demonstrationen, wie der vom 15. Februar, zum Ausdruck.(4) Es ist zwar richtig, dass Senator Daschle, Führer der demokratischen Minderheit im Senat, sich zu Beginn des Krieges als Vaterlandsverräter beschimpfen lassen musste. Aber wenn die Politiker (abgesehen von wenigen Ausnahmen) schweigen, dann deshalb, weil sie nicht nur wissen, dass die Öffentlichkeit den Krieg unterstützt, sondern weil sie sich an die Schwierigkeiten erinnern, die diejenigen bekamen, die gegen den ersten Golfkrieg im Jahre 1991 gestimmt hatten. Und diese politische Erklärung führt zum Kern der Sache.

Das Problem liegt nämlich letzten Endes darin, dass der Widerstand gegen den Krieg moralisch und nicht politisch ist. Dafür gibt es viele Gründe, aber der wichtigste war bereits am Ende des Kalten Krieges sichtbar. Die Linke (in all ihren Strömungen) hat in der Zeit, in der zwei politische Systeme aufeinander stießen, niemals eine besonders klare Sichtweise oder ein gut definiertes Projekt ausgearbeitet. Sie hat durchaus gesehen, in welchem Maße der Antikommunismus dazu diente, fragwürdige Bündnisse und egoistische Interventionen zu maskieren oder zu rechtfertigen, die die Aufrechterhaltung von Profiten und des Einflusses dessen sicherten, was schon Präsident Eisenhauer als »militärisch-industriellen Komplex« bezeichnet hat. Die Linke tendierte also dahin, eine anti-anti-kommunistische Position einzunehmen. Aber wie sah die positive Vision aus, die aus dieser Negation der Negation hervorgehen sollte? Da die Linke die herrschende Ordnung verändern wollte, begann sie sich vorzustellen, dass es bei den anderen trotzdem einige positive Elemente geben müsste, etwa die Grundlage einer Kritik des Kapitalismus oder nachzuahmende Vorbilder – weniger wirtschaftliche Ausbeutung vielleicht, ein besseres Erziehungssystem, allgemeine und unentgeltliche medizinische Versorgung ... Da das Projekt der Demokratie vernachlässigt wurde, konnte die Rechte es in Beschlag nehmen, während die Linke sich mit dem Sozialen beschäftigte und die moralischen Fehler des Systems kritisierte. Das war aber allzu leicht, wie man beim zwar unerwarteten, aber dafür endgültigen Zusammenbruch des Kommunismus feststellen musste. Die Linke stand hilflos da.

Diese moralisierende Anti-Politik der Linken ist umso bedauernswerter, als es in den Monaten, die zu diesem Krieg geführt haben, eine gute Debatte hätte geben können. Erwähnen wir also zum Abschluss einige Fragen, mit denen man sich hätte beschäftigen müssen.

 

Da gibt es zunächst die Strategie der »Neuen Weltordnung«, die man nicht in einem Block ablehnen darf, als ob es sich um einen Wahn handelt, der aus der Hybris eines autistisch gewordenen Landes hervorgeht. Hätte man zulassen sollen (oder konnte man moralisch oder politisch zulassen), dass sich die Lage im Nahen Osten weiterhin verschlimmert? Es gab Gründe zu fürchten, dass der amerikanische Einsatz keinen Erfolg haben und zu noch ernsteren Situationen führen würde. Das ist einer der Gründe für meine Kritik der verfolgten Politik. Dennoch, dieser Entscheidung – die nie als eine freie Entscheidung präsentiert wurde, welche große Risiken enthält, aber auch beträchtliche Gewinne verspricht (hier muss man aber auch die Dummheit der amerikanischen Diplomatie und die Lügen kritisieren, die vorgebracht wurden, um sie der Öffentlichkeit zu verkaufen) – dieser Entscheidung hat es nicht an einer gewissen Kohärenz gefehlt. Auch darüber hätte die Linke nachdenken müssen. Nichts zu tun ist auch eine Art des Handelns. Hat man nicht den Fall der Berliner Mauer erlebt, ein überraschendes Ereignis, das von den »Progressisten« nicht erwartet worden war, die für eine verständnisvollere Politik gegenüber einem sozioökonomischen System eintraten, das früher oder später sowieso dazu gezwungen sein würde, sich zu reformieren? Man hätte über die Politik nachdenken müssen, die die Linke zu jener Zeit vertrat, man hätte dabei über die Ähnlichkeiten und Unterschiede im Vergleich zur Lage im Nahen Osten diskutieren müssen, und man hätte die Sache der Demokratie für sich in Anspruch nehmen müssen, die – geschichtlich gesehen – nicht zu einer eher elitären Rechten gehört.

In diesem Zusammenhang hätte man nicht nur die ideologischen Gleichsetzungen von Saddam mit Hitler (oder Stalin) kritisieren müssen, sondern vor allem das, was folgte: die Metapher von München und 1938, und die Politiker, die sich für Churchill hielten und glaubten, als Einzige einen Durchblick zu besitzen.(5) Von den USA aus gesehen hatte ich eher den Eindruck, mich im Deutschland von 1914 wiederzufinden: eine autistische Regierung, eine Militaristenclique, unterstützt von einem Volk, das in den Kampf ziehen will, um seinen Ängsten ein Ende zu machen, und das mit einem kurzen Krieg rechnet. Man weiß heute, dass die kriegerische Phase nicht allzu lange gedauert hat; dennoch ist der Frieden noch nicht gewonnen, die Zukunft bleibt dunkel. Und vergessen wir nicht diese andere geschichtliche Analogie: Zwei Monate nach dem Ende des Krieges, als Churchill noch in Potsdam verhandelte, wurde er bei den englischen Wahlen geschlagen.

Die Debatte über die Fortsetzung der Waffeninspektionen durch die UNO wurde dagegen oft in ungeschichtlicher Weise präsentiert. Einige wollten ein Inspektionssystem einrichten, das mit der containment-Politik vergleichbar gewesen wäre, die während des Kalten Krieges praktiziert wurde. Bei genauerer Betrachtung beruht die Analyse von George Kennan, dem Vater dieser Doktrin, allerdings auf einer Kritik der inneren Widersprüche des Sowjetregimes. Laut Kennan würden diese Widersprüche die UdSSR langfristig zum Scheitern verurteilen; man musste es einfach nur schaffen, es daran zu hindern, sein Leben durch die Eroberung neuer Territorien oder Ressourcen zu verlängern. Wie war das nun beim Irak? Wie die iranischen und kuwaitischen Abenteuer belegen, gab es sicherlich expansionistische Bestrebungen. Handelte es sich um einen Totalitarismus? Wie sahen dessen Merkmale aus? Was wird aus seinen Bestandteilen, nachdem er geschlagen ist? Aber während die UdSSR sich auf Sympathisanten in den Demokratien stützen konnte und die kommunistische Lehre sich auf eine starke universalistische Tradition berufen konnte, die bis zur Aufklärung zurückgeht, kann man sich eine solche Unterstützung für das irakische Regime nicht vorstellen. Kann man die Idee eines Bündnisses der Religiösen von al-Qaida mit dem Baath-Regime akzeptieren, wie die amerikanische Regierung behauptete?(6)

Schließlich gibt es die allgemeinere Frage, die von Robert Kagan gestellt wird: Sind die Lebensweisen auf beiden Seiten des Atlantiks inkompatibel geworden? (Diese Frage wird in gewisser Weise nicht nur durch Donald Rumsfelds Unterscheidung zwischen einem »alten« und einem »neuen« Europa abgelöst, sondern auch durch Jacques Chiracs Bemerkung zu den Eintrittskandidaten in die Europäische Union, die ihre Position durch die Unterstützung der Vereinigten Staaten geschwächt hätten). Auch wenn man diese Unterscheidung zurückweisen kann (die so falsch wie alle Verallgemeinerungen ist), wäre es interessant gewesen, sie zu vertiefen. Auf philosophischer Ebene beruht die juristisch-republikanische Ordnung, die Kant gepriesen hat (in der Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht) und die die Europäer verwirklichen, auf einer Vorstellung von der menschlichen Natur als »ungesellige Geselligkeit«, während die hobbessche Sichtweise (die von den Amerikanern geteilt wird) einen Naturzustand voraussetzt, der vom Kampf aller gegen alle beherrscht wird und die Notwendigkeit verständlich machen soll, aus diesem Zustand herauszukommen, indem man einen Frieden schafft, der auf einer wechselseitigen Übereinstimmung von allen und jedem beruht. Anders gesagt, die Befriedung des Krieges führt nicht zwangsläufig zum Absterben der »kriegerischen Tugenden«, von denen ein anderer Theoretiker der neuen Aggressionspolitik spricht.(7) Und diejenigen, die allzu viel Zeit damit verbringen, Krieg zu führen, müssen sich klar machen, dass man auch Formen des modus vivendi finden muss, wenn sie wollen, dass ihre Eroberungen sich stabilisieren.

Aber diese Fragen sind nicht nur philosophisch, sie sind politisch; die Antworten können nicht apodiktisch sein, sie werden diskutiert und modifiziert. Sie könnten einen Weg zu einer Analyse eröffnen, die es der Linken erlaubt, aus ihrem Moralismus und aus ihrem Negativismus herauszukommen. Aber das würde eine ernsthafte innere Debatte voraussetzen. Erst ausgehend von einer solchen politischen Analyse kann man die Politik der »Neuen Weltordnung« zwingen, sich als Resultat einer politischen Entscheidung zu verteidigen, deren Zielsetzungen diskutiert, kritisch eingeschätzt und, wie ich meine, abgelehnt werden müssen. Angesichts der Clique, die die amerikanische Außenpolitik anscheinend gekidnappt hat, da es keine ernsthaften Konkurrenten gab, hoffen wir, dass eine hellsichtige Linke zumindest in der Lage sein wird, zu protestieren und eventuell für sich selber die demokratische Tradition in Anspruch zu nehmen, deren legitimer Erbe sie bleiben müsste.

 

Aus dem Französischen von Ronald Voullié

 

1

Soziologische Kritiken, die die Zusammenhänge zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Mitglieder der Bush-Administration und ihren politischen Entscheidungen enthüllen, gibt es bereits. Trotzdem können diese Formen der materiellen Unterstützung nicht die Ideen erklären, die unterstützt werden. Diese müssen für sich genommen untersucht und verstanden werden. Vgl. zum Beispiel die Zusammenfassung von William Hartung und Michelle Ciarrocca, The Military-Industrial-Think-Tank-Complex: Corporate Think Tanks and the Doctrine of Aggressive Militarism, die man zusammen mit vielen anderen Kritiken dieser Art unter www.foreignpolicy-infocus.org finden kann.

2

Zu den düsteren Wolken, die über der Zukunft der UNO (aus der Sicht der USA) schweben, vgl. den Artikel von James Traub im Magazin der New York Times, 13.4.03.

3

Das Team arbeitete weiter, vergrößerte seinen Einfluss. 1998 haben Rumsfeld, Wolfowitz und Perle zusammen mit anderen an der Ausarbeitung eines »Project for a New American Century« mitgearbeitet, in dem bereits eine unilaterale Intervention im Irak gepredigt wurde – ein Projekt, das von Wolfowitz in den Wochen nach dem 11. September wieder aufgegriffen wurde. Man muss auch die Wühlarbeit dieser Truppe hervorheben, die Einflussnetze – und die Tatsache, dass die liberale Linke nicht von einer vergleichbaren politischen Zielsetzung belebt wurde.

4

Ein wichtiger Unterschied: Der McCarthyismus war eine quasi populistische Bewegung, deren Einfluss durch Präsident Eisenhower und seine Regierung begrenzt werden konnte; dieses Mal geht die eventuelle Hexenjagd von der Regierung selber aus, ihre Folgen sind unberechenbar.

5

Es ist kein Zufall, dass das Buch, das am meisten von denen zitiert wurde, die für den Krieg waren (obwohl der Autor, Kenneth Pollock, viel nuancierter ist), den Titel The Threatening Storm hat. Churchills Analyse zu München findet sich in seinem Buch The Gathering Storm.

6

Diese Hypothese wurde von Paul Berman in Terror and Liberalism (New York 2003) aufgestellt (siehe Besprechung).

7

Vgl. Robert Kaplan, Warrior Politics: Why Leadership Requires a Pagan Ethos (New York 2001). Siehe auch die harte normative Kritik des amerikanischen Unilateralismus von Jürgen Habermas, »Was bedeutet der Denkmalsturz?«, in FAZ, 16.4.03.