Dick Howard
Warum war die zivile Opposition in den USA nicht in der
Lage, politischen Einfluss gegen den Irak-Krieg auszuüben? Unser Autor zeigt
die lange Genesis dieses Konflikts auf mit seinem Wendepunkt des 11.
Septembers, insbesondere die Schwächen der Liberalen und Linken: Ihre Antwort
war nur moralisch, nicht politisch.
Bevor man kritisiert, muss man versuchen zu verstehen. Bevor
man verzweifelt, muss man Abstand gewinnen, Zusammenhänge herstellen und die
Frage umreißen. Meine Frage könnte folgendermaßen formuliert werden: Wie kommt
es, dass die Bush-Regierung trotz massiver inländischer und internationaler
Proteste von Seiten der Zivilgesellschaft und der verbündeten Staaten nicht
gezögert hat, den Krieg gegen den Irak zu beginnen? Das läuft darauf hinaus,
diese Frage zu stellen: Warum war die zivile Opposition nicht in der Lage,
einen politischen Einfluss auszuüben? Schließlich, und vor allem auf der
Seite der Linken: Wie kann man eine politische Strategie erfinden, um
die vergeblichen moralischen Proteste zu ersetzen, die sich als wirkungslos
erwiesen haben? Wenn wir den neoimperialen Zielsetzungen einer gut
organisierten Clique in Washington etwas entgegensetzen wollen, müssen wir eine
Antwort finden, die eine andere Vision von der Zukunft bieten kann. Diese Vision
zu finden, zwingt einen dazu, eine politische Kritik der Kritiken von Links
vorzunehmen, selbst wenn dabei die Gefahr besteht, dieser neuen Rechten, die
man verstehen und bekämpfen muss, eine gewisse Glaubwürdigkeit zu
verleihen.(1)
Glücklicherweise war der Krieg kurz, wenngleich es lange
dauern wird, den Sieg zu sichern. Es ist richtig, dass keine der vorhersehbaren
Katastrophen eingetreten ist: keine Terroranschläge in den USA, kein Einsatz
von Massenvernichtungswaffen ... Indessen sind eine Reihe von Bündnissen in
Frage gestellt worden, von den bilateralen (insbesondere mit Frankreich) bis zu
den multilateralen (die NATO, die Spaltung zwischen dem »alten« und dem »neuen«
Europa) und sogar bis zu den Vereinten Nationen.(2) Und seitdem man das Ende
der militärischen Phase verkündet hat (am 14. April), hat man begonnen, Syrien
zu bedrohen, dem vorgeworfen wird, die irakischen Führer und andere Übeltäter
zu beherbergen. Es hat den Anschein, dass die amerikanische Regierung nur im
Modus der Drohung funktioniert (was zum Teil das Scheitern der Verhandlungen
erklären könnte, die auf die Annahme der UNO-Resolution 1441 folgten).
Um diese neue Lage zu begreifen, muss man
zur Regierung des ersten George Bush und zu seinem Team zurückkehren. Die
Bush-Administration erfand nach 1989 den Slogan von der »Neuen Weltordnung«,
aber die politische Vision, die er enthalten sollte, war nicht besonders
ausgefeilt. Bevor sie Gestalt annehmen konnte (oder vielleicht, weil sie keine
Gestalt annahm), marschierte der Irak in Kuwait ein. Auf Anraten von Colin
Powell (der damals Generalstabschef war), der seine gleichnamige Doktrin
formulierte, brachten George Bush und sein Team eine große militärische und
politische Koalition zusammen, die die Streitkräfte von Saddam lange und massiv
bombardierte, bevor sie mit der Bodeninvasion begann ... die nur 100 Stunden
dauerte und kurz vor den Toren Bagdads abgebrochen wurde.
Vergessen wir den Vertrag, der damals den Militäreinsatz
beendete. In den letzten Debatten des Sicherheitsrates ist genug darüber
diskutiert worden, um aller Welt den Teufelskreis verständlich zu machen, in
dem man sich befand. Ohne die glaubhafte Androhung einer bewaffneten
Intervention konnte Saddams Irak nach Belieben taktieren, mit den
UNO-Inspektoren Versteck spielen und vor allem die Erdöleinnahmen nutzen um die
Macht der Baath-Partei wieder aufzubauen, während er gleichzeitig die UNO und
den Westen für die schlechten Lebens- und Gesundheitsbedingungen verantwortlich
machte, denen man die unschuldige Bevölkerung aussetzte. Saddam ernsthaft zu
bedrohen, rief aber die Gefahr hervor, den Sicherheitsrat zu spalten, wie man
bei der Umsetzung der Resolution 1441 feststellen konnte.
Dieser erste Golfkrieg hatte zwei Folgen. Zum einen schuf er
die Bedingungen der Möglichkeit für ernsthafte Verhandlungen zwischen Israel
und Palästina. Begonnen in Madrid, führten sie nach Oslo, und zwar nicht nur in
der Hoffnung auf einen realen Frieden, sondern auch und vor allem auf eine
regionale Umgestaltung, die den Nahen Osten aus seiner wirtschaftlichen
Erstarrung und seinen revanchistischen Träumen heraustreten lassen würde,
sodass die Region dann, ausgehend von einem neuen Wirtschaftswachstum, den Weg
zu einer politischen Reform finden könnte – zu jener demokratischen Reform,
deren Erfolg man gerade in Osteuropa erlebt hatte. Das wäre eine
Möglichkeit, der Parole von der »Neuen Weltordnung« endlich einen Inhalt zu
geben.
Das zweite Ergebnis dieses ersten Golfkrieges bezog sich auf
das Bedürfnis, eine globale Strategie zu entwerfen, die mit der neuen Weltlage
vereinbar wäre. Das Verteidigungsministerium, damals von Dick Cheney geleitet,
arbeitete bereits daran, und George Bush gab in einer Rede vom 2. August 1990 –
dem Tag der Kuwait-Invasion – einen kurzen Überblick davon. Die Arbeit ging
indessen weiter. Im Folgejahr formulierte Zalmay Khalizad, der heutige
Verantwortliche für die amerikanische Politik in Afghanistan und im Irak, seine
Hauptthese im Titel eines Artikels: From Containement to Global Leadership.
Die fragliche leadership sollte durch die Ausschaltung jedes aktuellen
oder potenziellen Rivalen ausgeübt werden; Amerika sollte die militärische Vorherrschaft
haben, ganz gleich um welchen Preis (der Verlust von »soft power« ging nicht
mit in die Berechnung ein). Man erkennt die Herkunft der Thesen der
Neo-Imperialisten, die den gegenwärtigen Präsidenten Bush umgeben. Der Hegemon
wird keinen Konkurrenten dulden; der Militäretat muss erhöht werden, die Streitkräfte
müssen beweglicher werden, bereit, überall einzugreifen (während die Nation
durch das künftige Raketenabwehrsystem geschützt wird, und zwar trotz des
ABM-Vertrages mit der früheren UdSSR und trotz anderer Erwägungen, die sich auf
die Rüstungskontrolle beziehen).
Zur großen Überraschung der Wortführer der »Neuen
Weltordnung« mussten sie bei den Wahlen von 1992 erleben, dass Amerika ihre
geostrategische Vision ablehnte und einen kleinen Gouverneur aus dem Süden
wählte, nämlich Bill Clinton, dessen Plattform auf Folgendem beharrte: Als
Erstes kommt die Wirtschaft (the economy, stupid). Das hieß in ihren Augen,
dass die amerikanische Demokratie verraten wurde, dass sie nicht in der Lage
war, ihre Pflichten zu erfüllen und dass ihre kommerzielle und pazifistische
Neigung erneut ihre universalistische Berufung besiegt hatte. Man musste sich
daher auf die Revanche vorbereiten, die Drohung konnte in der Finsternis, in
die sie gefallen war, nur größer werden.(3)
Diese Revanche kam nicht von selbst zu Stande. Trotz des
Sieges in der Schlacht (nach den Wahlen) in Florida. Der Wahlkandidat Bush
hatte eine Außenpolitik angekündigt, die aus »Bescheidenheit« und »Realismus«
bestehen sollte. Viele verstanden darunter eine Art Aufruf zu einem neuen
Isolationismus, vor allem, als Bush die Ambitionen der
Clinton-Gore-Administration kritisierte, die der voluntaristischen Hybris
des »nation-building« schuldig sei. Es war offensichtlich der 11. September,
der der Bush-Präsidentschaft ein anderes Gesicht gab. Und zugleich verhalf
dieser Terroranschlag den Propheten der »Neuen Weltordnung« wieder in den
Sattel, die bis dahin von Colin Powell und seinem State Department zurückgewiesen
wurde. Man muss hinzufügen, dass die amerikanische Seele sich davon tief betroffen
fühlte: Es war amerikanisches Blut geflossen, daher kam jetzt das Blut der
Feinde Amerikas in die Schusslinie. Die am Ende des Kalten Krieges formulierten
Ideen konnten endlich in Politik umgesetzt werden. Der wilsonsche Moralismus kombinierte
sich mit dem jacksonschen Ressentiment zu einem explosiven Cocktail, den Pierre
Hassner als »gestiefelten Wilsonismus« bezeichnet.
Der 11. September hat zu widersprüchlichen Interpretationen geführt.
Einerseits hat man die von Bin Laden verkörperte fundamentalistische Bedrohung
unterschätzt. Rückblickend sieht man sehr wohl eine Verkettung, die mit dem
ersten Anschlag auf das World Trade Center begann, sich mit den Anschlägen auf
in Saudi-Arabien stationierte Soldaten und auf die amerikanische Botschaft in
Kenia fortsetzte und schließlich im Jemen zum Angriff auf das Kriegsschiff Cole
führte. Aber der Rückblick ist zu einfach und oft trügerisch; er kann zu einer
Überschätzung führen. So war die andere Reaktion auf den 11. September eine Art
von Überschätzung der Bedrohung. Der Schlag vom 11. September hat mit
Sicherheit die Hoffnungen, aber auch die tatsächlichen Möglichkeiten seiner
Auftraggeber überschritten. Al-Qaida war nicht überall. George Bush hat seine
Berufung gefunden und fand sich umgeben von Visionären, die nicht zögerten,
ihren Nutzen aus den Ängsten eines tödlich verletzten und heftig aufgebrachten
Amerika zu ziehen.
Bush schien eine Weile ganz gut zu spielen; er reagierte
nicht wie ein verletztes Tier, sondern ließ sich Zeit. Die eher schnelle
Niederlage der Taliban wertete die neue militärische Taktik auf, die durch
amerikanische Spezialeinheiten, inländische Kräfte und Präzisionswaffen
umgesetzt wurde (wenngleich die Führer von al-Qaida fliehen konnten). Man konnte
schon bestimmte Bündnisse – die an die faulen Kompromisse in der Zeit des
Kalten Krieges erinnern – mit recht unsauberen Regimen problematisch finden,
etwa mit Usbekistan und anderen »-stans«, die von kleinen Diktatoren regiert
werden und zur Zeit der Sowjetherrschaft eingesetzt wurden. Auch das Ausbleiben
des versprochenen Marshall-Plans, um Afghanistan wieder auf die Beine zu
bringen, mochte einem zu denken geben. Aber zwei kleine Sätze, die aus Washington
kamen, zeigten die Intentionen der Administration noch deutlicher. Donald Rumsfeld
erklärte, dass dies im Gegensatz zur Intervention der NATO im Kosovo eine
»Mission sei, die die Koalition beenden« würde, was bereits den Unilateralismus
ankündigte, der sich im Irak bestätigt hat. Es wäre die Aufgabe der Amerikaner,
Krieg zu führen, und (vielleicht und bestenfalls) die der Europäer, hinterher
zu kommen, um die zerschlagenen Töpfe wieder zusammenzukleben. Zum anderen
ergriff Bush fast zwei Wochen nach dem 11. September (am 24.) das Wort und
kritisierte die Schurkenstaaten (rogue states); zudem verkündete er, dass
jeder, der nicht auf »unserer« Seite stehe und Terroristen beherberge, selbst
wie ein Terrorist behandelt werden würde. Damit wurde die Doktrin vom
Präventivkrieg vorweggenommen. Diese Entwicklung wurde von Condoleezza Rice
bestätigt, die vor den Wahlen im Jahre 2000 in Foreign Affairs erklärt
hatte, dass das Fehlen eines Feindes die USA daran hindere, ihre
außenpolitischen Ziele zu definieren; jetzt, im September 2002, konnte sie auf
eine »National Security Strategy« verweisen, die den Sieg der Herolde der
»Neuen Weltordnung« bestätigt. So sind wir also aufgebrochen, um auf der ganzen
Welt die amerikanische Hegemonie durchzusetzen.
Wie soll man in einem solchen politischen Kontext den Sieg
im Irak interpretieren? Zunächst kann man sich fragen, wo die »Realisten«
geblieben sind, die unter Bush sen. die ersten Rollen gespielt haben. Abgesehen
von einigen Kommentaren im Sommer 2002, in denen James Baker und Brent
Scowcroft ihre Zweifel ausdrückten, haben diese kampferprobten Männer
geschwiegen. Wollen sie ihre Glaubwürdigkeit bewahren, damit sie im Notfall
eingreifen können, falls sie eine Entscheidung für gefährlich halten? Fürchten
sie sich vor der Aggressivität des aktuellen Teams, das deutlich zu verstehen
gibt, was es vom »liberalen« Symptom hält? Es war überraschend, in einer Notiz
der New York Times (9.4.03) zu lesen, dass Brent Scowcroft in Oslo seine
Kritik vom letzten Sommer erneut bekräftigt hat; ein Krieg im Irak würde die
Aufmerksamkeit vom Hauptkampf ablenken, von der Bekämpfung des Terrorismus;
wenn es dort Krieg geben müsse, dann mit einer breiten Koalition unter der
Schirmherrschaft der UNO. Warum wird das nicht in der inneramerikanischen Öffentlichkeit
gesagt? Aus Loyalität für die Partei, für die Familie Bush?
Noch verblüffender ist allerdings das Fehlen von Kritik, die
von links kommt (einschließlich der demokratischen Partei). Hier gibt es in der
Tat ein Klima der Unsicherheit, und der Justizminister John Ashcroft ist dabei,
umfangreiche repressive Maßnahmen zu ergreifen. Aber es gibt keinen neuen
McCarthyismus, Kritik darf geäußert werden – sie kommt zum Beispiel auf den
großen Demonstrationen, wie der vom 15. Februar, zum Ausdruck.(4) Es ist zwar
richtig, dass Senator Daschle, Führer der demokratischen Minderheit im Senat,
sich zu Beginn des Krieges als Vaterlandsverräter beschimpfen lassen musste.
Aber wenn die Politiker (abgesehen von wenigen Ausnahmen) schweigen, dann
deshalb, weil sie nicht nur wissen, dass die Öffentlichkeit den Krieg
unterstützt, sondern weil sie sich an die Schwierigkeiten erinnern, die
diejenigen bekamen, die gegen den ersten Golfkrieg im Jahre 1991 gestimmt
hatten. Und diese politische Erklärung führt zum Kern der Sache.
Das Problem liegt nämlich letzten Endes darin, dass der
Widerstand gegen den Krieg moralisch und nicht politisch ist. Dafür
gibt es viele Gründe, aber der wichtigste war bereits am Ende des Kalten
Krieges sichtbar. Die Linke (in all ihren Strömungen) hat in der Zeit, in der
zwei politische Systeme aufeinander stießen, niemals eine besonders klare
Sichtweise oder ein gut definiertes Projekt ausgearbeitet. Sie hat durchaus
gesehen, in welchem Maße der Antikommunismus dazu diente, fragwürdige Bündnisse
und egoistische Interventionen zu maskieren oder zu rechtfertigen, die die Aufrechterhaltung
von Profiten und des Einflusses dessen sicherten, was schon Präsident
Eisenhauer als »militärisch-industriellen Komplex« bezeichnet hat. Die Linke
tendierte also dahin, eine anti-anti-kommunistische Position einzunehmen.
Aber wie sah die positive Vision aus, die aus dieser Negation der Negation
hervorgehen sollte? Da die Linke die herrschende Ordnung verändern wollte,
begann sie sich vorzustellen, dass es bei den anderen trotzdem einige positive
Elemente geben müsste, etwa die Grundlage einer Kritik des Kapitalismus oder
nachzuahmende Vorbilder – weniger wirtschaftliche Ausbeutung vielleicht, ein
besseres Erziehungssystem, allgemeine und unentgeltliche medizinische
Versorgung ... Da das Projekt der Demokratie vernachlässigt wurde, konnte die
Rechte es in Beschlag nehmen, während die Linke sich mit dem Sozialen
beschäftigte und die moralischen Fehler des Systems kritisierte. Das war aber
allzu leicht, wie man beim zwar unerwarteten, aber dafür endgültigen Zusammenbruch
des Kommunismus feststellen musste. Die Linke stand hilflos da.
Diese moralisierende Anti-Politik der Linken ist umso
bedauernswerter, als es in den Monaten, die zu diesem Krieg geführt haben, eine
gute Debatte hätte geben können. Erwähnen wir also zum Abschluss einige Fragen,
mit denen man sich hätte beschäftigen müssen.
Da gibt es zunächst die Strategie der »Neuen Weltordnung«, die man
nicht in einem Block ablehnen darf, als ob es sich um einen Wahn handelt, der
aus der Hybris eines autistisch gewordenen Landes hervorgeht. Hätte man
zulassen sollen (oder konnte man moralisch oder politisch zulassen), dass sich
die Lage im Nahen Osten weiterhin verschlimmert? Es gab Gründe zu fürchten,
dass der amerikanische Einsatz keinen Erfolg haben und zu noch ernsteren
Situationen führen würde. Das ist einer der Gründe für meine Kritik der
verfolgten Politik. Dennoch, dieser Entscheidung – die nie als eine freie Entscheidung
präsentiert wurde, welche große Risiken enthält, aber auch beträchtliche
Gewinne verspricht (hier muss man aber auch die Dummheit der amerikanischen
Diplomatie und die Lügen kritisieren, die vorgebracht wurden, um sie der
Öffentlichkeit zu verkaufen) – dieser Entscheidung hat es nicht an einer
gewissen Kohärenz gefehlt. Auch darüber hätte die Linke nachdenken müssen.
Nichts zu tun ist auch eine Art des Handelns. Hat man nicht den Fall der
Berliner Mauer erlebt, ein überraschendes Ereignis, das von den »Progressisten«
nicht erwartet worden war, die für eine verständnisvollere Politik gegenüber
einem sozioökonomischen System eintraten, das früher oder später sowieso dazu
gezwungen sein würde, sich zu reformieren? Man hätte über die Politik
nachdenken müssen, die die Linke zu jener Zeit vertrat, man hätte dabei über
die Ähnlichkeiten und Unterschiede im Vergleich zur Lage im Nahen Osten
diskutieren müssen, und man hätte die Sache der Demokratie für sich in Anspruch
nehmen müssen, die – geschichtlich gesehen – nicht zu einer eher elitären
Rechten gehört.
In diesem Zusammenhang hätte man nicht nur die ideologischen
Gleichsetzungen von Saddam mit Hitler (oder Stalin) kritisieren müssen, sondern
vor allem das, was folgte: die Metapher von München und 1938, und die Politiker,
die sich für Churchill hielten und glaubten, als Einzige einen Durchblick zu
besitzen.(5) Von den USA aus gesehen hatte ich eher den Eindruck, mich im
Deutschland von 1914 wiederzufinden: eine autistische Regierung, eine
Militaristenclique, unterstützt von einem Volk, das in den Kampf ziehen will,
um seinen Ängsten ein Ende zu machen, und das mit einem kurzen Krieg rechnet.
Man weiß heute, dass die kriegerische Phase nicht allzu lange gedauert hat;
dennoch ist der Frieden noch nicht gewonnen, die Zukunft bleibt dunkel. Und
vergessen wir nicht diese andere geschichtliche Analogie: Zwei Monate nach dem
Ende des Krieges, als Churchill noch in Potsdam verhandelte, wurde er bei den
englischen Wahlen geschlagen.
Die Debatte über die Fortsetzung der Waffeninspektionen
durch die UNO wurde dagegen oft in ungeschichtlicher Weise präsentiert. Einige
wollten ein Inspektionssystem einrichten, das mit der containment-Politik
vergleichbar gewesen wäre, die während des Kalten Krieges praktiziert wurde.
Bei genauerer Betrachtung beruht die Analyse von George Kennan, dem Vater
dieser Doktrin, allerdings auf einer Kritik der inneren Widersprüche des
Sowjetregimes. Laut Kennan würden diese Widersprüche die UdSSR langfristig zum
Scheitern verurteilen; man musste es einfach nur schaffen, es daran zu hindern,
sein Leben durch die Eroberung neuer Territorien oder Ressourcen zu verlängern.
Wie war das nun beim Irak? Wie die iranischen und kuwaitischen Abenteuer
belegen, gab es sicherlich expansionistische Bestrebungen. Handelte es sich um
einen Totalitarismus? Wie sahen dessen Merkmale aus? Was wird aus seinen Bestandteilen,
nachdem er geschlagen ist? Aber während die UdSSR sich auf Sympathisanten in
den Demokratien stützen konnte und die kommunistische Lehre sich auf eine
starke universalistische Tradition berufen konnte, die bis zur Aufklärung
zurückgeht, kann man sich eine solche Unterstützung für das irakische Regime
nicht vorstellen. Kann man die Idee eines Bündnisses der Religiösen von
al-Qaida mit dem Baath-Regime akzeptieren, wie die amerikanische Regierung
behauptete?(6)
Schließlich gibt es die allgemeinere Frage, die von Robert
Kagan gestellt wird: Sind die Lebensweisen auf beiden Seiten des Atlantiks
inkompatibel geworden? (Diese Frage wird in gewisser Weise nicht nur durch
Donald Rumsfelds Unterscheidung zwischen einem »alten« und einem »neuen« Europa
abgelöst, sondern auch durch Jacques Chiracs Bemerkung zu den
Eintrittskandidaten in die Europäische Union, die ihre Position durch die
Unterstützung der Vereinigten Staaten geschwächt hätten). Auch wenn man diese
Unterscheidung zurückweisen kann (die so falsch wie alle Verallgemeinerungen
ist), wäre es interessant gewesen, sie zu vertiefen. Auf philosophischer Ebene
beruht die juristisch-republikanische Ordnung, die Kant gepriesen hat (in der
Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht)
und die die Europäer verwirklichen, auf einer Vorstellung von der menschlichen
Natur als »ungesellige Geselligkeit«, während die hobbessche Sichtweise (die
von den Amerikanern geteilt wird) einen Naturzustand voraussetzt, der vom Kampf
aller gegen alle beherrscht wird und die Notwendigkeit verständlich machen
soll, aus diesem Zustand herauszukommen, indem man einen Frieden schafft, der
auf einer wechselseitigen Übereinstimmung von allen und jedem beruht. Anders
gesagt, die Befriedung des Krieges führt nicht zwangsläufig zum Absterben der
»kriegerischen Tugenden«, von denen ein anderer Theoretiker der neuen Aggressionspolitik
spricht.(7) Und diejenigen, die allzu viel Zeit damit verbringen, Krieg zu
führen, müssen sich klar machen, dass man auch Formen des modus vivendi
finden muss, wenn sie wollen, dass ihre Eroberungen sich stabilisieren.
Aber diese Fragen sind nicht nur philosophisch, sie sind politisch;
die Antworten können nicht apodiktisch sein, sie werden diskutiert und
modifiziert. Sie könnten einen Weg zu einer Analyse eröffnen, die es der Linken
erlaubt, aus ihrem Moralismus und aus ihrem Negativismus herauszukommen. Aber
das würde eine ernsthafte innere Debatte voraussetzen. Erst ausgehend von einer
solchen politischen Analyse kann man die Politik der »Neuen Weltordnung«
zwingen, sich als Resultat einer politischen Entscheidung zu
verteidigen, deren Zielsetzungen diskutiert, kritisch eingeschätzt und, wie ich
meine, abgelehnt werden müssen. Angesichts der Clique, die die amerikanische
Außenpolitik anscheinend gekidnappt hat, da es keine ernsthaften Konkurrenten
gab, hoffen wir, dass eine hellsichtige Linke zumindest in der Lage sein wird,
zu protestieren und eventuell für sich selber die demokratische Tradition in
Anspruch zu nehmen, deren legitimer Erbe sie bleiben müsste.
Aus dem Französischen von Ronald Voullié
1
Soziologische Kritiken, die die Zusammenhänge zwischen den
wirtschaftlichen Interessen der Mitglieder der Bush-Administration und ihren
politischen Entscheidungen enthüllen, gibt es bereits. Trotzdem können diese
Formen der materiellen Unterstützung nicht die Ideen erklären, die
unterstützt werden. Diese müssen für sich genommen untersucht und verstanden
werden. Vgl. zum Beispiel die Zusammenfassung von William Hartung und Michelle
Ciarrocca, The Military-Industrial-Think-Tank-Complex: Corporate Think Tanks
and the Doctrine of Aggressive Militarism, die man zusammen mit vielen anderen
Kritiken dieser Art unter www.foreignpolicy-infocus.org finden kann.
2
Zu den düsteren Wolken, die über der Zukunft der UNO (aus
der Sicht der USA) schweben, vgl. den Artikel von James Traub im Magazin der New
York Times, 13.4.03.
3
Das Team arbeitete weiter, vergrößerte seinen Einfluss. 1998
haben Rumsfeld, Wolfowitz und Perle zusammen mit anderen an der Ausarbeitung
eines »Project for a New American Century« mitgearbeitet, in dem bereits eine
unilaterale Intervention im Irak gepredigt wurde – ein Projekt, das von Wolfowitz
in den Wochen nach dem 11. September wieder aufgegriffen wurde. Man muss auch
die Wühlarbeit dieser Truppe hervorheben, die Einflussnetze – und die Tatsache,
dass die liberale Linke nicht von einer vergleichbaren politischen Zielsetzung
belebt wurde.
4
Ein wichtiger Unterschied: Der McCarthyismus war eine quasi
populistische Bewegung, deren Einfluss durch Präsident Eisenhower und seine Regierung
begrenzt werden konnte; dieses Mal geht die eventuelle Hexenjagd von der
Regierung selber aus, ihre Folgen sind unberechenbar.
5
Es ist kein Zufall, dass das Buch, das am meisten von denen
zitiert wurde, die für den Krieg waren (obwohl der Autor, Kenneth Pollock, viel
nuancierter ist), den Titel The Threatening Storm hat. Churchills
Analyse zu München findet sich in seinem Buch The Gathering Storm.
6
Diese Hypothese wurde von Paul Berman in Terror and Liberalism
(New York 2003) aufgestellt (siehe Besprechung).
7
Vgl. Robert Kaplan, Warrior Politics: Why Leadership
Requires a Pagan Ethos (New York 2001). Siehe auch die harte normative
Kritik des amerikanischen Unilateralismus von Jürgen Habermas, »Was bedeutet
der Denkmalsturz?«, in FAZ, 16.4.03.