Zukunftsfähigkeit oder Sozialkürzungen?
Was die Agenda 2010 signalisiert
Harry Kunz
»Schluss mit der sozialen Hängematte«,
suggerieren die geplanten Sozialreformen. Leitet die Agenda 2010 aber überhaupt
entscheidende Weichenstellungen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ein oder
handelt es sich nur um Kürzungsmaßnahmen auf Kosten der sowieso schon
Schwächsten. Unser Autor schaut sich die einzelnen Gebiete genauer an.
Arbeitsmarktpolitisch ist Rot-Grün nun mit der Agenda 2010
im Mainstream europäischer Politik angekommen. Das dauerhafte Überangebot an Arbeitskräften
soll nicht mehr durch eine Ausgliederung aus dem Arbeitsmarkt qua
Frühpensionierung und Vorruhestand abgefedert werden. Der faktischen Umdefinition
der Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einem als legitim empfundenen
Erziehungsgehalt bei Alleinerziehenden und Kinderreichen will man die Grundlage
entziehen. Stattdessen gilt die Nichtarbeit von Erwerbsfähigen als Hauptübel.
Den Einstieg in einen Niedriglohnsektor begreift man als Alternative zu erwerbsarbeitsfreier
Armut und Sozialhilfe.
Offen ist hingegen, ob Rot-Grün Kontinuität in einer Linie
der Sozialpolitik wahrt, die seit der Kohl-Ära gilt und der pauschalen Rede vom
Sozialabbau entgegensteht: Unter Dauerbeschuss stehen vorrangig solche Sozialleistungen,
deren Bezugsberechtigung an eine Teilnahme an den Arbeitsmarkt geknüpft wird.
Dagegen wurden familienbezogene Transfers sowohl in der Kohl-Ägide als auch in
der ersten rot-grünen Regierungsjahren ausgebaut.
Ausstieg aus der Armutsfalle?
Die Agenda 2010 will eine Senkung der Lohnnebenkosten
erreichen und das Spannungsfeld zwischen sozialen Transfers und Arbeitsmarkt
entschärfen. Die Bezugsdauer des neuen »Arbeitslosengeldes I« wird für alle
unter 55-Jährigen auf zwölf Monate verkürzt. Die Arbeitslosenhilfe sinkt auf
das Niveau der Sozialhilfe. Dies soll Erwerbslose aus der »Armutsfalle« locken.
Diese Fach- und Alltagstheorie behauptet, dass sich angesichts üppiger
(familienbezogener) Sozialtransfers Erwerbsarbeit nicht mehr lohne.
Fraglos ist es zutreffend, dass Kinder sich in einigen
dauerhaft verarmten Haushalten auf Grund der Sozialtransfers »rechnen« – wenn
man sie in ihren Bedürfnissen und ihrem Konsum »klein hält«. Richtig ist aber
auch, dass Kinder und Jugendliche eine besonders von Arbeitslosenarmut
betroffene Gruppe bilden. 1,1 Millionen Kinder und Jugendliche sind bereits
heute von Sozialhilfe abhängig. Wichtigster Anlass bildet eine elterliche
(Langzeit-)Arbeitslosigkeit. Neben Irland besitzt Deutschland in der gesamten
EU den höchsten Anteil an Kindern und Jugendlichen, die in einkommensschwachen
Familien leben.
»Die wirksamste Maßnahme, um Familienarmut zu verhindern,
bildet die Ermöglichung von Erwerbsarbeit«, argumentiert Familienministerin
Renate Schmidt. Dies klingt einleuchtend, trifft aber bei genauerem Hinsehen
nicht zu. Zunächst einmal fallen Armutsfallen-Theorie und die Wirklichkeit
teilweise auseinander: Der Anteil von Mehrkinder-Familien am Sozialhilfebezug
ist unterdurchschnittlich hoch und sank zudem in den letzten Jahren deutlich.
Dagegen sind allein lebende Männer besonders häufig auf Sozialhilfe angewiesen,
obwohl bei ihnen die Differenz zwischen Arbeitseinkommen und Sozialtransfers
ebenso wenig einen Erwerbsverzicht nahe legt wie bei den vielen älteren
Langzeitarbeitslosen: Immerhin zwei von fünf Langzeitarbeitslosen sind älter
als 55 Jahre.
Daneben steigt der Anteil arbeitsloser und
sozialhilfeabhängiger Einelternfamilien dramatisch. Mittlerweile benötigt jede
vierte Alleinerziehende Hilfe zum Lebensunterhalt. Gerade in den ersten
Lebensjahren des Kindes besteht für viele tatsächlich kein Anreiz zur
Erwerbsarbeit, weil das Einkommen aus Erziehungsgeld, Arbeitslosen- oder
Sozialhilfe, Wohngeld und Unterhaltsleistungen höher liegt als ein durchschnittliches
Erwerbseinkommen abzüglich meist erklecklicher Betreuungskosten. Deshalb sollen
arbeitslose Alleinerziehende mit der (laut Spiegel) geplanten Kategorie
»erwerbsfähig, aber eingeschränkt verfügbar« für ihre in Erziehungsleistungen
begründete »Arbeitsunfähigkeit« gezielt abgestraft werden. Für viele lohnt Erwerbsarbeit
dennoch erst bei Fortfall des Erziehungsgeldes. Doch angesichts der Lohnhöhendiskriminierung
von Frauen, dem leichteren Ausschluss von Müttern vom Arbeitsmarkt und dem
zentralen Problem, dass die Zeit für und mit Kindern überwiegend eine Zeit ist,
in der kein Einkommen entsteht, haben Alleinerziehende in den unteren Einkommenssegmenten
auch weiterhin meist keine Chance, durch Erwerbsarbeit den Bereich prekärer
Haushaltseinkommen zu verlassen. Deshalb bilden (Teilzeit-)Beschäftigungen in
einem Niedriglohnsektor allein keinen Ausweg aus der Familienarmut. Die in den
USA unter dem Slogan »From welfare to work« gemachten Erfahrungen mit mehr
arbeitenden Müttern, die sich als working poor in schlecht bezahlten
Teilzeitjobs aufreiben, bestätigen dies.
Nun steht die Bekämpfung der Kinderarmut als Armut
und Ausgrenzung eines Teils der Gesellschaft ohnehin nicht auf der
politischen Agenda. Doch angesichts des unstrittigen Zusammenhanges zwischen
Armut, gesundheitlicher Beeinträchtigung und Bildungsbenachteiligung bildet der
damit in Kauf genommene doppelte Kindermangel – zu wenige Kinder werden
geboren und zu viele Kinder wachsen in prekären Verhältnissen auf – das
zentrale und bislang ungelöste Problem für die Zukunftsfähigkeit des
Sozialstaats.
Mit 67 in Rente, mit 17 arbeitslos?
Die Forderung nach einer »Rente mit 67« löste eine
überfällige Diskussion aus: Die Gesellschaft altert, die Belegschaften werden
auf Grund von Altersarbeitslosigkeit und Frühverrentung jünger. Ohne Reformen
wird sich der »Rentnerquotient«, der das Verhältnis der Zahl der Rentner zu den
Beitragszahlern beschreibt, von aktuell knapp 50 Prozent auf 88 Prozent im Jahr
2030 erhöhen. Dies überfordert ein umlagefinanziertes Rentensystem, zumal der
demografische Wandel nicht zu einem analogen Abbau der Arbeitslosigkeit führt.
Durch den Rückgang der Zahl der Jungen wird es ab 2015 zwar zu einer deutlichen
Arbeitsmarktentlastung bei Gutqualifizierten kommen. Der Arbeitskräfteüberhang
bei Personen mit Allerweltsqualifikationen besteht jedoch fort und wird durch
Zuwanderung im Zuge der EU-Osterweiterung und sonstige legale oder illegale
Migration noch verschärft.
Solange Qualifizierungsmaßnahmen im Sinne eines lebenslangen
Lernens bei Älteren nicht greifen, werden die Betriebe deshalb weiterhin die
Möglichkeiten eines vorzeitigen Rentenbezugs nutzen, auch wenn dies für die
Betroffenen mit erheblichen Einkommenseinbußen verbunden ist. Die geplanten
Kürzungen ändern überdies am Missbrauch der Arbeitslosenunterstützung als
Ersatzrente wenig. Aber sie verschärfen soziale Härten: Mit der letzten
Rentenreform wurden geringfügig erwerbsgeminderte Senioren von einer
vorzeitigen gesetzlichen Rente ausgeschlossen, obwohl diese Personengruppe auf
dem Arbeitsmarkt kaum vermittelbar ist. Sie bleiben auf Arbeitslosengeld und
Sozialhilfe verwiesen.
Gesundheitspolitik im Dilemma
Noch die technokratischsten Sozialreformen transportieren
ein Bild künftigen Zusammenlebens. Die soziale Vision der geplanten
Gesundheitsreform kommt freilich als eine in sich widersprüchliche Botschaft
daher: Es geht um die Zukunftsfähigkeit des Sozialstaates. Hierzu strebt man
Krankenkassenbeiträge unter 13 Prozent an. Doch die zu diesem Ziel diskutierten
Maßnahmen treffen innerhalb der durch die gesetzlichen Krankenversicherung
repräsentierten Zweidrittelgesellschaft von Gering- und Durchschnittsverdienern
vorrangig jene, die die proklamierte Zukunftsfähigkeit in besonderer Weise
repräsentieren. Egal ob beim Mutterschutz oder bei Sehhilfen und Zahnbehandlungen:
Die kräftigsten Einschnitte werden (junge) Familien mit Kindern schultern –
nebenbei eine wichtige rot-grüne Wählerklientel. Schon auf Grund des darin
angelegten Zielwiderspruches darf man von der schmidtschen Gesundheitsreform
keinen großen Wurf erwarten.
Ob die Krankenkassenbeiträge kurzfristig unter 13 Prozent
gesenkt werden können, ist ungewiss. Hierzu müsste man bislang von den
Krankenkassen getragene »versicherungsfremde«, meist sozialpolitisch
inspirierte Leistungen durch Steuern finanzieren. Wahrscheinlich ist dies trotz
höherer Tabaksteuer angesichts der öffentlichen Überschuldung nicht möglich.
Bisher von den Kassen finanzierte Beihilfen bei Beerdigungen, zu
Brillengestellen oder Zahnbehandlungen stehen deshalb zur Disposition.
In anderen Branchen gelten steigende Umsätze, Gewinne und Beschäftigtenzahlen
als erwünscht. Im Gesundheitswesen stehen sie als Kostenexplosion und Überversorgung
in der Kritik. In welchem Verhältnis stehen gesundheitliche Ziele zur Schaffung
von Arbeitsplätzen? Wie verhält sich privatwirtschaftliches Wachstum zum öffentlichen
Ziel einer effizienten Mittelverwendung? Schon heute wird jeder zehnte Euro in
Deutschland für Gesundheit aufgewendet. In Gesundheitsberufen arbeiten zwei
Millionen Menschen. Anders als bei der Renten- und Arbeitslosenversicherung
gehen von den Beitragssätzen in der Kranken- und Pflegeversicherung auch
positive Beschäftigungswirkungen aus. Dies gilt insbesondere bei konstanten
Arbeitgeberbeiträgen und einer Mittelverwendung außerhalb der rein transferorientierten
Bereiche der Krankenversicherung (wie dem Kranken- oder Mutterschaftsgeld).
Ziel kann also nicht einfach die von allen Politikern angemahnte drastische
Absenkung der Krankenkassenbeiträge sein. Vielmehr geht es um eine
Ausbalancierung beschäftigungsrelevanter Einflussfaktoren. Diesem Ziel werden
die geplanten Ausgliederungen von Kranken- und Mutterschaftsgeld aus der
paritätischen Finanzierung durchaus gerecht. Faktisch werden damit trotz
medizinischem (Ausgaben-)Fortschritt die Arbeitgeberbeiträge eingefroren und
die Struktur der Kassenausgaben unter Beschäftigungsaspekten positiv verändert.
Wenn weitere Beitragszuwächse aber ohnehin allein von den
Versicherten getragen werden, warum zahlt man dann die Arbeitgeberbeiträge
nicht gleich an die Versicherten aus und lässt sie die Beiträge allein
entrichten? Schließlich wird auch der so genannte Arbeitgeberbeitrag als
Bestandteil des Lohns von den Beschäftigten getragen. Befürworter erhoffen sich
davon neben einer Senkung der Arbeitskosten mehr Kostenbewusstsein bei den
Versicherten. Plausibel ist dies nicht: Zum einen erhöht sich bei manchen mit
den Beiträgen auch das Anspruchsniveau.
Vor allem aber entscheiden im Gesundheitswesen die Anbieter
über die Nachfrage. Zwar ist das von Michel Foucault geprägte Verständnis der
Medizin als »Staat im Staate« überholt, wobei mit der Einlieferung ins
Krankenhaus der Patient zum Objekt eines das Individuum überwältigenden
Medizinbetriebs wird. Heute betont man stärker die Selbstbestimmung des
Patienten. Doch auf Grund des Informationsvorsprunges der Gesundheitsprofis
werden die Anbieter von Gesundheitsleistungen weiterhin entscheidend die
Nachfrage beeinflussen. Vor diesem Hintergrund kommt der Fiktion paritätisch
finanzierter Gesundheitsbeiträge sehr wohl ein sozialer Sinn zu: Parität
schützt vor einer ungebremsten Medikalisierung der Gesellschaft, wie sie etwa
in den USA zu beobachten ist: Extrem hohe Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit
bringen nur eine qualitativ mäßige öffentliche Gesundheitsversorgung hervor.
Solange Arbeitgeber hier zu Lande an der Krankenkassenfinanzierung mitwirken
und in deren Verwaltungsgremien agieren, artikulieren sie ein machtvolles
wirtschaftliches Interesse an Einsparungen, das Rationalisierungsreserven im Gesundheitsbetrieb
aufdeckt. Wer sollte sie in dieser Funktion ersetzen?
Auch eine zweite Stoßrichtung der Gesundheitsreform
ignoriert die Anbieterdominanz der Medizin: Arztgebühren und
Selbstbeteiligungen sollen jenseits der Kassenbeiträge Finanzmittel ins
Gesundheitswesen leiten. Mehr Effizienz ist davon nicht zu erwarten: Entweder
sind Zuzahlungen zu niedrig und zeigen keinen steuernden Effekt auf die
Nachfrage. Oder sie sind zu teuer und grenzen Leistungsschwache aus.
Unspezifische Arztgebühren und höhere Zuzahlungen bei Medikamenten wären außerdem
im Hinblick auf ihre gesundheitlichen Wirkungen kontraproduktiv: Zwar werden
bei hohen Selbstbehalten weniger medizinische Leistungen nachgefragt. Doch dies
trifft sowohl Beschwerden, die wirksam behandelt werden können, als auch Überflüssiges.
Wirtschaftlich Schwächere verzichten im Anfangsstadium einer Erkrankung zudem
eher auf Hilfen. Dies verursacht problematische und aufwändige Krankheitsverläufe.
Immerhin will Ulla Schmidt auch das zarte Pflänzchen einer
Bindung von Strukturreformen an gesundheitliche Ziele kultivieren. Der
»Hausarzt als Lotse«, Kassenbonuspunkte bei gesundheitsbewusstem Verhalten und
eine Tabaksteuererhöhung bilden hierzu sinnvolle Mosaiksteine. Sie vermitteln
einen Rest Hoffnung, dass die proklamierte Zukunftsfähigkeit des
Wohlfahrtsstaates nicht nur eine rhetorische Figur zur Durchsetzung von
Sozialkürzungen bildet.
Siehe zu diesem Themen in dieser Ausgabe auch Helmut
Wiesenthals Artikel über das Ende des Modells Deutschland, S. 56.