Ein heiliger Krieg?
Wie Soziologen Freiheit und Demokratie denken könnten
Michael Opielka
Der Irak-Krieg ist vorbei, die
Vorgehensweise der USA wird nach wie vor heftig kritisiert. Unser Autor
skizziert einige wichtige und umstrittene intellektuelle Positionen (Lilla,
Hondrich, Beck, Ignatieff u. a.). Am weitesten geht Karl Otto Hondrich, der in
der Freiheit und in der Demokratie »Keime der Gewalt« vermutet, die jede Weltordnung
zur Weltgewaltordnung generieren.
Auch wenn der gewalttätige Eindruck medienvermittelter
Bilder getöteter und verstümmelter Kriegsopfer allzu schnell verblasst,
erscheint ein Nachdenken über den Sinn eines Krieges moralisch problematisch –
besonders in Deutschland. Mark Lilla, Professor of Social Thought an der
University of Chicago, reklamierte die US-amerikanische »Umerziehung« nach dem
Sieg über den Faschismus als verantwortlich für eine nachkriegsdeutsche
Grundstimmung von Antirassismus, Antinationalismus und Antimilitarismus.(1)
Dabei geriet die vorangegangene militärische Grundlegung der Möglichkeit des
neuen, friedlicheren Europa leicht außer Blick. Aus deutscher Innensicht wirkt
Lillas Einschätzung gleichwohl zumindest widersprüchlich. So kann der grüne
Bundesaußenminister Fischer in einem Interview in Le Monde realistisch
und gegen die »gewaltfreie« Ursprungsintention seiner Partei feststellen: »Wir
sind keine Pazifisten.«(2) Militärische Interventionen sind für die
überwiegende Mehrheit auch der Deutschen keineswegs außerhalb der Möglichkeit
des Politischen, wie die Akzeptanz der völkerrechtlich fragwürdigen
Bombardierung Serbiens und die Invasion in den Kosovo zeigten. Dennoch bezieht
die Mehrheit der Deutschen – wie die von jener amerikanischen »Umerziehung«
nicht berührten Europäer – Position gegen den amerikanisch-britischen Krieg im
Irak, auch nach seinem Ende. Diese Positionsbestimmung muss deshalb komplexere
Gründe haben.
Zwei soziologische Argumentationen könnten
einen Hinweis auf diese kritische Haltung gegenüber dem Irak-Krieg geben. Die
erste stammt vom Frankfurter Soziologen Karl Otto Hondrich. Er rechtfertigte in
einem zumeist heftig kritisierten Aufsatz die Invasion im Irak mit der
Notwendigkeit, dass eine Hegemonialmacht wie die USA ihre Handlungsfähigkeit
demonstrieren müsse, um langfristig eine von Gewalt gezeichnete Welt
friedlicher zu machen. Hondrichs tiefere Begründung »widerstrebt« zwar »uns als
modernen Menschen«: Sie liege in den »selbst nicht von Menschen gemachten«
»Gesetzen« von »Reziprozität, Moralität, Identität, Fatalität« und »Tabu«, die
nur eine »Weltgewaltordnung« zuließen.(3) Die moderne Idee von Freiheit und
Demokratie enthalte »Keime der Gewalt«, sei »eine Gewaltordnung«, weil sie sich
gegen andere Ordnungskonzepte durchsetzen musste und müsse. Hondrich vertritt
so eine sozialanthropologische Soziologie, eine freilich komplexe
Quasi-Naturalisierung des gesellschaftlichen Verkehrs, gegen die sich der
Mainstream der Soziologen des 20. Jahrhunderts gewendet hatte. Diese suchten im
Gegenteil nach den von Menschen gemachten Gesetzen, sie gingen von einer sozial
konstruierten Wirklichkeit aus, einem Voluntarismus des Handelns. Ihre Wurzeln
liegen in der Aufklärung, politisch vor allem natürlich in der Französischen
Revolution. Jene Emanzipation der Gesellschaft von traditionellen Mächten, vor
allem der Religion, führte Hegel dazu, in seiner Rechtsphilosophie vom
»Atheismus der sittlichen Welt« zu sprechen – und ihn in seiner Idee des
»wahren Staates« zu problematisieren.(4) Doch Hegels hochdifferenzierte
Sakralisierung des Staates und damit der Politik wurde selten verstanden und
allenfalls, in seiner marxistisch-materialistischen Fehlinterpretation, zur
Legitimation von staatlichem Terror missbraucht. Eine sozialanthropologische
Naturalisierung der Gesellschaft wirkt vor diesem Hintergrund wie ein Unterlaufen
Hegels: Nun ist zwar nicht Gott mehr die Triebkraft, sondern die menschliche Natur.
Beides widerstrebt einer innerweltlichen, soziologischen Geschichtsauffassung.
Hier zielt die zweite soziologische Stellungnahme zum
Irak-Krieg auf mehr Verständnis beim modernen Deutschen (und Europäer). Der
Münchner Soziologe Ulrich Beck hat sie als »Legitimitätsfrage« des
»Zwitterwesens eines illegal legitimen Krieges« aufgeworfen.(5) Diese Frage
scheint ganz in der Tradition des modernen soziologischen Denkens seit Max
Weber gestellt. Beck richtet sie irritierenderweise zugleich an die
»antistaatliche Anti-Atomkraftbewegung und die hegemonialstaatliche
Anti-Terrorismusbewegung«: »Es gibt eine neuartige soziologische Identitätsquelle,
und diese ist alarmierend nicht-legal, a-demokratisch und transnational. Sie
entsteht aus dem Versprechen, die Menschheit von zivilisatorisch erzeugten
Zivilisationsgefahren zu befreien.« Eine politisch eindeutige Lösung bietet
Becks Deutung einer »reflexiven Moderne«, wie er sie schon früher bezeichnete,
nicht: »Es gibt keine ›Objektivität‹ der Gefahren unabhängig von ihrer
kulturellen Wahrnehmung und Bewertung.« Damit wird auf den ersten Blick die
Bewertung des Krieges ganz innergesellschaftlich, nämlich kulturell verortet.
Becks Ausblick ist dennoch soziologisch verstörend: »Spaltet das Für und Wider
des Krieges wirklich nur Länder und Kontinente? Findet die moralische Schlacht
nicht in jedem von uns statt?« Gewiss wird man ihm zustimmen können. Noch
radikaler vertrat bereits Ende des 19. Jahrhunderts Rudolf Steiner einen
»ethischen Individualismus« und begründete ihn, inspiriert von Friedrich
Nietzsche: »Frei sein heißt, die dem Handeln zu Grunde liegenden Vorstellungen
(Beweggründe) durch die moralische Fantasie von sich aus bestimmen können.«(6)
Seit Kant wurde die Individualisierung der Moral zu einer wesentlichen
Grundlage moderner Sozialphilosophie. Ein »ewiger Friede« setzt die Anerkennung
dieser Freiheit durch Recht voraus. In Becks soziologischer Perspektive lässt
sich die Widersprüchlichkeit der deutschen und europäischen Stellungnahme zum
Irak-Krieg verstehen: Sie entspricht einer innerindividuellen Zerrissenheit
moderner, hoch individualisierter und expressiver Gesellschaften.
Während Hondrichs Sozialanthropologie die Grenzen
politischer Freiheit bestimmt, macht Becks Individualismustheorem die Freiheit
zur Grundlage von Ungewissheit. Der Irak-Krieg könnte in einer Welt »neuer
Kriege«, wie sie Herfried Münkler beschrieb(7), gleichwohl zur Aufforderung
werden, dass die Soziologie wieder funktionalistischer argumentiert, jedenfalls
dann, wenn sie nicht nur die Individuen, sondern die Zusammenhänge der
Weltgesellschaft verstehen will. Denn jene von Beck postulierte »kulturelle
Wahrnehmung und Bewertung« von Risiken ist immer gesellschaftlich vermittelt.
Der in Harvard lehrende Michael Ignatieff hat die Herausforderung aus
US-amerikanischer Sicht so formuliert: »In den Wochen und Jahren vor uns
handeln die Entscheidungen nicht davon, wer wir sind oder wessen Gesellschaft
wir pflegen, oder gar davon, was wir denken, dass Amerika ist oder sein sollte.
Die Entscheidungen handeln davon, welche Risiken es wert sind, dass wir sie
eingehen, wenn unsere Sicherheit von der Antwort abhängt. Die wirklichen
Entscheidungen werden wohl viel härter sein, als die meisten von uns sich je
vorstellen konnten.«(8) Diese dramatische Deutung eines liberalen Linken, der
weder einen heiligen Krieg für Demokratie noch eine militärische
US-Welthegemonie befürwortet, erscheint aus deutsch-europäischer Sicht vielleicht
unverständlich, jedenfalls bisher. Sie lenkt den Blick freilich auf die
Einbettung unserer Haltung zum Irak-Krieg in unsere Haltung zu einer neuen
Weltordnung, die wirksame multilaterale Institutionen der Gewaltregulierung
benötigt.
Die Kriegsgegner werden sagen, dass der
amerikanisch-britische Alleingang genau diese Institutionen, vor allem die UN,
beschädigt habe. Drastisch kritisierte Jürgen Habermas, »die normative
Autorität Amerikas liegt in Trümmern«. Die mit Bush über die »Realisten« des Typus
Kissinger dominierenden »Neokonservativen« leite eine revolutionäre Vision und
diese »sprengt die zivilisierenden Fesseln« der UN gegen Angriffskriege.(9)
Deren Schwäche besteht jedoch bislang auch darin, dass sie die Idee der
Freiheit pragmatisch, auf Grund ihrer Konstitution als Bund souveräner Staaten,
auf die Freiheit von Kollektiven beschränkte. Gewiss ist in der Idee der
Menschenrechte auch die Freiheit der Individuen angelegt. Doch deren konstitutionelle,
rechtliche Form ist die Demokratie, die wiederum in den UN nur eine Metademokratie
von Repräsentanten noch immer überwiegend undemokratischer Regimes vorfindet.
Dass die Mutterländer der Demokratie, England und die USA, die Legitimitätsfrage
der Politik jetzt militärisch beantworteten, mit dem Erfolg eines blutigen Tyrannensturzes,
erscheint insoweit revolutionär. Joseph S. Nye, stellvertretender Außenminister
in der Regierung Clinton, hat den USA anschließend dringend den verstärkten
Gebrauch von »Soft Power« angeraten.(10) Sie ist ein kulturelles Projekt,
speist sich aus politischen Ideen wie Demokratie und Menschenrechten und einer
unarroganten Politikgestaltung. Das erinnert an jene deutsche »Umerziehung«,
die allerdings von jahrzehntelanger, alliierter Truppenpräsenz begleitet wurde.
Eine Weltordnung, die dem Irak-Krieg folgen
kann, wird die Idee der Demokratie selbst zum Ziel machen müssen. Das ist der
einzige Weg, um illegitime Kriege zu verhindern. Diese Weltordnung wird auf
Gewalt nicht verzichten können, weil Recht als Medium der Politik funktional
nicht nur in Legitimität, Effektivität und Gemeinschaft, sondern auch in Macht
gründet. Zugleich wird sich jeder Einzelne im Zeitalter eines »ethischen
Individualismus« zu verantworten haben, Bürger wie Präsident. Emile Durkheims
»Kult des Individuums« und Robert N. Bellahs »Zivilreligion« haben die
neuartige Beziehung von Individuum und Kollektiv soziologisch vorgedacht. Die
Individualisierung wurde, im System der Politik, zum wirklichen Kern der Idee
der Demokratie: Das Soziale ist selbst heilig geworden. Damit ist,
religionssoziologisch betrachtet, weder das Heilige, das Göttliche vergessen
noch eine Theokratie gewünscht. Vielmehr scheint eine neue, gegenüber dem
Spirituellen offene Moderne möglich, ohne die eine demokratische Weltordnung
nicht geht.(11) Die Alternative zu dieser notgedrungen ab und an revolutionären
Haltung wäre wohl nur jener »Kampf der Kulturen«, den Samuel P. Huntington
befürchtete, jene antidemokratische Dominanzgeste über die je andere Freiheit.
Ob das den Krieg im Irak ethisch rechtfertigt? Wer Krieg
ablehnt, weil er auf eine gewaltlose Weltordnung hofft, müsste diese Vision
präzisieren, spätestens als Politiker oder Wissenschaftler. Habermas‘ Bedenken
sind beachtlich: »Es ist gerade der universalistische Kern von Demokratie und
Menschenrechten, der ihre unilaterale Durchsetzung mit Feuer und Schwert
verbietet.« Doch wie Beck und Steiner zu Recht wussten: Am Ende muss der
Einzelne entscheiden. Dass seine Stimme wirkt, ist das Wesen der Demokratie.
Das könnte uns heilig sein.
1
Mark Lilla: »Ist die ›Umerziehung‹ zu weit gegangen?«, in: NZZ,
5.4.03.
2
Joschka Fischer: »Interview«, in: Le Monde, 4.4.03.
3
Karl Otto Hondrich: »Auf dem Weg zu einer
Weltgewaltordnung«, in: NZZ, 22.3.03.
4
Vgl. Michael Opielka: »Der Sozialstaat als wahrer Staat? Zu
möglichen Folgen Hegels in der Soziologie«, Vortrag Internationaler
Hegel-Kongress Jena 2002, Ms.
5
Ulrich Beck: »Die Legitimitätsfrage. Im Irak: Krieg gegen
ein globales Risiko«, in: SZ, 4.4.03.
6
Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit (GA 4),
Dornach 1962 (1894), S. 202.
7
Herfried Münkler: Die neuen Kriege, Reinbek 2002;
siehe auch Kommune 4/02, 1/03 u. 2/03.
8
Michael Ignatieff: »I am Iraq«, in: New York Times,
23.3.03 (Übers. M. O.)
9
Jürgen Habermas: »Was bedeutet der Denkmalsturz?«, in: FAZ,
17.4.03.
10
Joseph S. Nye: »Paradox der Macht«, in: FR, 4.4.03.
11
Vgl. Michael Opielka: »Blutige Taten, heilende Werte? Eine
religionssoziologische Rekonstruktion zum Krieg gegen den Irak«, in: Berliner
Debatte INITIAL, Heft 2/03, S. 68–81.