Letzte Kommunisten oder Afrikas Israelis?
Tage in Ruanda
Marko Martin
Ein Aufenthalt in Ruanda konfrontiert den
westlichen Besucher nicht nur mit den Zeugnissen des Völkermordes, sondern auch
mit den Bildern über Mord und Totschlag im Kopf. In den Begegnungen schieben
sich die Menschen vor Statistiken und Zahlen, Schweigen und Gerüchte lösen
Fragen aus, die nach Antworten geradezu schreien. Aber gute Antworten sind nur
schwer zu haben.
Man schätzt, dass 95 Prozent aller Kinder hier Morde
gesehen, vielleicht sogar welche begangen haben.« Kigali im Frühjahr 2003: Fast
erleichtert sehen wir, dass die meisten, die sich um uns drängeln, nicht älter
sein dürften als zehn Jahre; was zwischen April und Juli 1994 geschah, zwischen
dem Beginn des Völkermords und dem Sturz der Hutu-Extremisten-Regierung, haben
sie demnach nicht mitbekommen. »Deine Rechnung geht nicht auf, und die Zahlen
stimmen weder hinten noch vorn: Der Bürgerkrieg begann verdeckt bereits 1990, deshalb
gab es ja die Verhandlungen im tansanischen Arusha, um die Minderheit der Tutsi
an der Regierung zu beteiligen. Als ihre Ruandische Patriotische Front,
die RPF – vor allem bestehend aus Exil-Tutsis, die vor Jahren nach Uganda
geflohen waren – dann im Sommer 1994 siegreich in Kigali einzog, gab es noch lange
keinen Frieden. Im Nordosten des Landes waren noch immer versprengte
Hutu-Milizen aktiv, die vom Kongo aus operierten – bis in die letzten Jahre.
Auch die RPF hat während ihres Vormarschs Massaker begangen, aber das ist tabu,
was bedeutet: Nur die Tutsis haben das Recht, ihre Toten zu betrauern. Die
Toten der anderen Seite – Mörder und Unschuldige gemischt – werden nicht
erwähnt, auch nicht vom Mehrheitsvolk der Hutus, dem sie doch entstammen.«
Die Kinder lauschen den komplizierten Worten der fremden Sprache,
die die Weißen sprechen, während draußen der Regen Erde aus den Löchern im
Asphalt gespült hat. Rote Erde, blutrot. Unter einem Vorhang immer dichter
fallender Tropfen verschwimmen die Silhouetten der Häuser auf der anderen
Straßenseite – ein Friseurgeschäft heißt »Britney Spears«, ein Imbiss »Bill
Clinton Powerman of the World«. (Weshalb eigentlich; war es nicht die
Clinton-Administration gewesen, die 1994 durch ihr Veto im Sicherheitsrat
verhindert hatte, dass sechstausend Blauhelme mit robustem Mandat nach Ruanda
verlegt wurden – zu einer Zeit, als man das Morden noch hätte stoppen können?)
Bereits am Flughafen war es deutlich geworden: Das einst
frankophone Land ist ins Lager der Anglophonie gewechselt – statt eines Bonjour
des Passbeamten ein knappes Helo – und hat damit genau das getan, was
Präsident Mitterand verhindern wollte, als er zuerst das diktatorische Regime
von Juvénal Habyarimana militärisch und finanziell unterstützte, ehe er dessen
Nachfolgern, den eigentlichen Vollstreckern des Genozids, logistische
Rückendeckung und Hilfe bei ihrer Flucht gab – ins damalige Zaire für die
kleinen, nach Frankreich, ins Mutterland der Menschenrechte, für die großen
Fische.
Zahlen: Agathe Habyarimana, Präsidentenwitwe und fanatische
Tutsi-Hasserin, in deren engstem Zirkel die Idee geboren wurde, sich der
Minderheit ein für alle Mal zu entledigen und alle moderaten Hutu gleich mit
umzubringen, wird kurz vor dem sich abzeichnenden Sieg der RPF (in Mitterands
Logik willige Fußtruppen des anglophonen ugandischen Präsidenten Museveni),
nach Frankreich evakuiert und erhält aus dem Budget für Entwicklungspolitik
eine Summe von 40000
US-Dollar, die pro forma für ruandische Flüchtlinge (d. h. für ebenfalls nach
Frankreich geflüchtete Mitglieder ihres eigenen Clans) gedacht ist.
Daten: Am Abend des 6. April wird die aus Tansania kommende
Maschine mit den Präsidenten Ruandas und Burundis an Bord kurz vor der Landung
in Kigali abgeschossen. Habyarimanas Tod, der kurz zuvor erklärt hatte, den
Tutsi endlich politische Mitbestimmung zu gestatten, gibt den Hardlinern seines
Regimes den Vorwand, den bereits vorher geplanten Genozid als spontan und
präventiv auszugeben.
Konsequenzen: Als sich der Massenmord trotz internationaler
Indifferenz nicht mehr verheimlichen lässt und evakuierte Ausländer mit ansehen
müssen, wie ihre Tutsi-Bekannten auf Kigalis Straßen regelrecht zu Tode gehackt
werden und die französischen Bemühungen scheitern, den UN-Sicherheitsrat mit
der Behauptung zu täuschen, in Ruanda fände kein gezielter Völkermord, sondern
nur einer der üblichen Bürgerkriege statt, ergreift die Regierung in Paris
(schließlich galt es eine frankophone Einflusszone zu sichern) die Flucht nach
vorn und schickt eigenes Militär – angeblich, um das Morden zu stoppen.
Zahlen: Nachforschungen von Human Rights Watch ergaben,
dass Frankreich den Völkermördern bis zum Juni noch weitere fünf Mal Waffen
lieferte. Namen: Francois de Grossouvre, Afrika-Berater von Präsident
Mitterand, nahm sich am 7. April 1994 im Elysée-Palast das Leben. Oberst Didier
Thibault, der im Rahmen der französischen »Hilfsaktion« Opération Turquoise
mit seinen Truppen vom zairischen Goma ins südwestliche Ruanda marschierte, um
dort »Frieden« zu schaffen, hieß in Wirklichkeit Tauzin und war – früherer
Berater der ruandischen Armee.
1994 – das Jahr, das nicht vergehen will. Im
Stadtbild von Kigali ist heute von den damaligen Ereignissen nichts mehr zu
sehen. Aber so wie sich die Straßen hügelauf und hügelab winden, so drehen sich
alle Diskussionen um jene Zeit. Da außer der Zeitung Umuseso und den
täglichen BBC-Sendungen in der Landessprache Kinyarwanda keine unabhängigen
Medien existieren, läuft alles mündlich ab. Fakten und Meinungen vermischen
sich, Vermutungen, Befürchtungen, Abwiegelungen machen die Runde, die Einheimischen
halten sich dabei eher zurück, dafür betreiben die Expats, zahllose
Ausländer im Dienst von Hilfsorganisationen oder Botschaften, mit ihren Analysen
eine Art Gesellschaftsspiel ...
»Sie dürfen mich nicht zitieren, andernfalls müsste ich
innerhalb von vierundzwanzig Stunden hier raus«, sagt ein Entwicklungshelfer,
der – so behauptet er – seit den Sechzigerjahren in Afrika lebt. »Glauben Sie
mir, es war kein Völkermord, nur eine der hier üblichen Abschlachtereien – die
jetzige Regierung zieht Gewinn daraus, schüchtert das Ausland moralisch ein und
die eigene Bevölkerung militärisch. Das alles sind ehemalige Rebellen, eine
herrische Funktionärselite, die früher von den Sowjets ausgebildet wurde,
wirklich die letzten Kommunisten Afrikas. Was sie nicht hindert, im Ostkongo
Kolonialmacht zu spielen, die Bodenschätze an sich zu reißen und dabei mit
ihren ehemaligen ugandischen Verbündeten Krieg zu führen. Übrigens: Die
Vorgänger-Regierung war bis an die Zähne bewaffnet – wenn sie tatsächlich alle
Tutsi hätte umbringen wollen, weshalb sind dann nach wie vor 15 Prozent der
acht Millionen Einwohner Angehörige der Minderheit?«
Ein dubioser Zahlen-Jongleur. Nach 1994 kehrten
Hunderttausende Tutsi-Flüchtlinge aus Uganda, Tansania und Burundi zurück und
was die militärische Überlegenheit des ehemaligen Regimes betrifft: Geradezu
peinlich achtete man darauf, dass die Hutu-Landbevölkerung ihre Nachbarn mit
traditionellen Macheten und Spaten umbrachte. Auf diese Weise, so das
diabolische Kalkül, würde man das herrschende Einparteiensystem zusätzlich
absichern, indem sich jeder schuldig machte und dadurch seiner Ethnie,
authentisch vertreten durch die Regierung, in einer Art Blutbund bis in alle
Ewigkeit verbunden bleiben musste.
Eine andere Frage jedoch bleibt: Sind die Leute um Präsident
Kageme tatsächlich die letzten Kommunisten, die eine Diktatur errichten wollen,
eine de facto-Tutsi-Herrschaft, die umso unangreifbarer wird, je
harscher man dekretiert, dass unterschiedliche Ethnien ab nun nicht mehr
existierten und jeder, der dennoch daran festhalte, ein falsches Bewusstsein
besitze, wenn nicht gar ein potenzieller Völkermörder sei? Oder sind die
Mitglieder der jetzigen Regierung, der auch Kritiker bescheinigen, sie sei
nicht korrupt und verwende ausländische Hilfe zum Wohl der Allgemeinheit,
vielleicht eher die »Israelis Afrikas«, traumatisierte Demokraten, die auf
Sicherheit und Kontrolle Wert legen und dabei einer beckmesserischen, allzeit
kritikbereiten Welt, die dem Genozid von 1994 tatenlos zusah, heute mit Recht
den Mittelfinger zeigen? Welches üble Spiel aber treibt Ruanda gegenwärtig im
Ostkongo, wo es ethnische Spannungen anheizt, um die natürlichen Ressourcen zu
plündern – wenn auch für das eigene Land und nicht – noch nicht? – zur persönlichen
Bereicherung des Regimes? Pro- und Contra-Argumente werden hin und her gewendet,
für jede These existiert eine Geschichte oder auch nur eine Vermutung. Jenseits
der penibel asphaltierten Straßen (Landeskenner sagen, der zentralistische
Charakter der Gesellschaft, der eigentlich »unafrikanische« Organisations- und
Effizienzgrad besonders des Verkehrwesens habe den Völkermord erleichtert und
werde Ähnliches auch künftig erleichtern) stehen Werbeplakate für Rwandacell,
den einheimischen Handy-Anbieter, für die zahlreichen Hilfsorganisationen sowie
immer wieder großformatige Bilder, die einen Mann mit fragendem
Gesichtsausdruck zeigen und daneben einen, der seine Hände entsetzt an die
Schläfen presst – Gagaca. Eine Farce, hatte der ungenannte
Entwicklungshelfer gemurmelt, eine Chance, sagen andere. Gagaca (übersetzt
bedeutet es Wiese oder Dorfplatz) ist der Name für jene Volksgerichte, die
versuchen, zu Mördern gewordene Bauern vor Ort zu befragen und, wenn möglich,
wieder ins Zivilleben einzugliedern. Tatsächlich ein Trick der Regierung, um
eine Kaste abhängiger, weil begnadigter Hutus zu schaffen oder nicht doch der
honorige Versuch, den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt auf institutionellem
und dabei durchaus traditionellem Weg zu unterlaufen? In Kigali gibt es zu
viele Antworten auf zu viele Fragen.
Auf dem Weg nach Murambi. Die Berge und Hügel, die
neben- und übereinander hocken, sich in die Flanke fallen oder als eine Art
grasbewachsener Knubbel Mimikry betreiben, glänzen in unzähligen Abstufungen
der Farbe Grün. Als ließe er sich mit purer Lungenkraft wegpusten, zerteilt
sich der leichte Nebel und lässt die Konturen von Bananenpflanzen und
Eukalyptusbäumen erkennen. Die perfekte Landschaft: Da ein Bächlein, dort ein
Reisfeld, ein Hain mit Maniokpflanzen, Lehmhütten mit kleiner Teeplantage
nahebei, Terrassenfelder in die Hügel gehauen und sorgsam parzelliert – Mensch,
Natur und Tier in perfekter Harmonie. Nicht einmal Unterholz gibt es, zwischen
den Bäumen schimmert bereits der nächste Hügel im Morgenlicht. Schön fürs Auge,
tödlich für Flüchtlinge. Größere und kleine Gruppen von Tutsis zogen ab April
1994 durchs ganze Land, doch nirgendwo war sichere Zuflucht in unwegsamem
Gebiet; nur diese gefährlich überschaubare Postkartenlandschaft gab es, der die
Menschen jegliche Wildheit genommen hatten – vielleicht nur, um sie ab nun in
sich selbst zu tragen. Homo homini lupus.
Ursachenforschung: Trug das Prinzip der fortschreitenden
Parzellierung, der traditionellen Erbaufteilung in Klein – und Kleinstfelder
nicht mit dazu bei, dass in diesem dicht besiedelten Land der Erde eben diese
Erde knapp wurde, dass seit Jahrzehnten unter den beengt lebenden
Hutu-Ackerbauern der Hass auf die Hirtenkaste der Tutsi und deren frei
verfügbare Böden immer mehr wuchs? Seit einiger Zeit trägt sich die Regierung
in Kigali mit dem Gedanken an eine Landreform, schreckt jedoch davor zurück,
zuerst einmal Hunderttausende hasserfüllte Landlose produzieren zu müssen, die
nicht sofort in die erst im Entstehen begriffenen Service- und Tourismussektoren
integriert werden können. Lieber erobert man Lebensraum in der »Provinz
Nord-Kivu« (sprich: Ost-Kongo), um der eigenen Überbevölkerung Herr zu werden –
auch ein Tabuthema.
Aus den Palmen- und Bananenhainen jenseits des Weges tauchen
Kinder auf, die uns lachend zuwinken: »Bazungu, Bazungu!« Gut erkennbar, sind
wir also Fremde für sie, doch wie sollten wir sie nennen? Nach
dem Völkermord geht die Anzahl der auf dem Land lebenden Tutsis fast gegen
Null, und so ist auch klar, welcher Ethnie die Frauen und Kinder und die
wenigen sichtbaren, auf ihre Hacken gestützten Männer angehören. Leute des
Mehrheitsvolkes, sagen wir politisch korrekt auf Deutsch. In einem Reisfeld
sehen wir plötzlich die »Flamingos«, Männer mit kurzärmeligen orangenen Hemden,
doch fährt der Wagen zu schnell, um ihre Gesichter zu erkennen.
»Leute aus der Gegend?«, fragen wir den Fahrer. »Nein, aus
dem Norden.«
Wahrscheinlich hätte man im Norden auf die gleiche Frage die
Antwort »Nein, aus dem Süden« erhalten. Auch das wäre noch plausibel, würde es
nicht, sobald man sich besorgt nach etwaigen Fluchtmöglichkeiten erkundigt, im
Brustton der Überzeugung heißen: »Mais non! Diese Leute fliehen nicht, in den
Dörfern ringsum sind sie viel zu gut bekannt und müssten um ihr Leben fürchten.
Nein, keine Angst, die bleiben im Gefängnis.«
Je umfangreicher die Auskunft, desto größer ihre
Rätselhaftigkeit. Sind die Völkermörder in der orangefarbenen Häftlingskleidung
(wir sahen knapp zwei Dutzend von zweihunderttausend) nun aus der Gegend oder
nicht – und ist es tatsächlich so, dass sie auch innerhalb ihrer Ethnie Rache
und Bestrafung zu erwarten hätten? Gibt es die Ethnien der Hutu und Tutsi
überhaupt – die Eintragung der Ethnie in den Pass war schließlich eine
Erfindung der Belgier, die mittels der hoch gewachsenen Tutsi-Verwalter die
gedrungenen Hutu-Bauern niederhalten konnten – oder gar die Ideologie der
Völkermörder von 1994, die jahrhundertealte soziale Spannungen für ihren
Versuch einer »Endlösung« nutzten? Doch was sind die wirklichen Absichten
derer, die jetzt auf einmal überhaupt keine Ethnien mehr, sondern nur noch
Ruander kennen wollen?
Ein Wächter schlurft vom menschenleeren Hauptgebäude der ehemaligen
Ecole Polytechnique zu den lang gestreckten Gebäuden dahinter und schließt
eine Tür nach der anderen auf: Weiß gekalkte Parterre-Räume, auf den Lattenrosten
Skelette und menschliche Körperreste, die in der Hitze auf Kindergröße
geschrumpft und zur Desinfektion mit weißem Pulver bestäubt sind. Noch immer
liegt süßlicher Leichengeruch in den dämmrigen Räumen; als wir sie verlassen,
hängt er sich uns an, dringt in die T-Shirts, dominiert den Geruchssinn, als
sei er die letzte Nachricht der Toten: Vergesst uns nicht.
Die gegenwärtige Lebenserwartung beträgt selbst im
mittlerweile befriedeten Ruanda ohnehin nur 43 Jahre, dabei hat im Unterschied
zu Kenia und Uganda hier noch nicht einmal AIDS zugeschlagen, nur das Übliche:
Malaria, Darmerkrankungen auf Grund schlechter Wasserqualität, aus dem Kongo
eingeschleppte Epidemien et cetera. In diesem »et cetera« aber liegt
unsere Müdigkeit, unsere Arroganz: All dieser empörende afrikanische Fatalismus
und die Unzulänglichkeiten, die sich nicht allein politisch – und schon gar
nicht politisch korrekt – erklären lassen, dieses (in unserer Optik)
nicht-individuelle und in seiner Einmaligkeit niemals wertgeschätzte Leben. Ist
es nicht AIDS, ist es ein Genozid, es war schließlich der Erste nicht im Land
und wird vielleicht auch der Letzte nicht sein. Hatte es nicht schon 1959 beim
Sturz der minoritären Tutsi-Aristokratie Hundertausende Tote und Vertreibungen
in die Nachbarländer gegeben, hatten 1993 in Burundi nicht auch Tutsis den
gewählten Hutu-Präsidenten umgebracht, um sich die Vorherrschaft zu sichern –
ist man im Gebiet der großen Seen Ostafrikas das gegenseitige Massakrieren also
nicht bereits gewöhnt? Schnell, ganz schnell kommt solch ein auftrumpfendes
Denken, moralische Empörung mit amoralischer Schlagseite, eine subtile
Menschenverachtung im Gewand des Humanismus – dazu die Illusion, allein wir
wüssten, was eine lebenswerte Existenz denn ausmache. Grund genug für uns, die
wir trotz aller universellen Ideen rettungslos barbarisch auf den eigenen
Kulturkreis zentriert sind, auf Abstand zu bleiben, uns, wie es in der
Fachsprache heißt, nicht emotional involvieren zu lassen und die
in einer kleinen Halle aufgespannte Wäscheleine, vollgehängt mit den Kleidungsstücken
der Opfer, nicht als tropisches Auschwitz begreifen zu wollen?
Doch Auschwitz ist Auschwitz und Murambi ist Murambi, jeder
Völkermord auf seine Weise singulär und das Bild, das dir jetzt als Realität
vor die Augen tritt, stärker als alle Erklärungsversuche: Ein vielleicht
fünfjähriges Kind, desinfiziert und geschrumpft wie alle anderen Skelette hier,
die Knochenlinie des Unterarms noch zum Schutz gegen den Kopf gepresst, der
längst zum leeren Schädel geworden ist, von der Nasenwurzel an zweigeteilt.
»Ein Machetenhieb«, sagt der Wächter. Du versuchst dir das Gesicht des Kindes
vorzustellen und schaffst es nicht, wendest dich ab. Soll ich meines Bruders
Hüter sein – das ist die Frage des Kain, das ewige Herausreden auf
Nichtzuständigkeit. Und ist das, was wir – aufgeklärte Bazungus,
friedvolle Bürger glücklicherer Länder – hier sehen, nicht wirklich unglaublich,
ein schrecklicher Sonderfall, eine blutige Ausnahme? In diesem Augenblick
denkst du eher an André Glucksmanns »Elftes Gebot«: »Nichts Unmenschliches sei
dir fremd.« Rechne stets mit dem Schlimmsten – auch in dir selbst, vertraue
nicht auf edle Seelen und große Worte, sondern schaffe demokratische
Institutionen und Barrieren, um die naturgemäß stets ambivalent agierenden
Menschen voreinander zu schützen. Last Exit Hobbes. Darüber sprechen wir
schließlich, in Frageform, in unvollendeten Sätzen; ahnend, dass in diesem
Moment sogar dies eine Ausflucht ist, um das Grauen auszuhalten, um
Unbeschreibliches notdürftig zu rationalisieren und nach Lösungen zu suchen,
die eine Wiederholung der Gemetzel zumindest erschweren. Am Mangel an Kultur,
an einer angeblich typisch afrikanischen Eigenart kann es nämlich nicht
gelegen haben – siehe Nazi-Deutschland, siehe Ex-Jugoslawien.
Murambi liegt im Süden Ruandas nahe der
Präfektur- und Universitätsstadt Butare, dem intellektuellen Zentrum des
Landes. Als der Völkermord begann, lebten hier 140000 Tutsi (von denen über hunderttausend
ermordet wurden) und es gab alles, was sich Entwicklungshelfer, die in Armut
und Unwissenheit die Wurzel allen Übels sehen, für eine Modellstadt nur
wünschen können: Ein von Belgien finanziertes Nationalmuseum, katholische und
protestantische Akademien und Seminare, eine Universitätsklinik, eine
Kathedrale und unzählige Geschäfte längs der Hauptstraße, die mit ihren
einstöckigen Gebäuden noch heute an eine idyllische Kolonialresidenz denken
lässt. Hier, unweit des Hotels Ibis, wartete am 21. April 1994 der stellvertretende
Universitätsrektor Nshimyumuremyi darauf, dass Soldaten und junge Männer in
Baseballcaps, die zu ihrem amerikanischen Outfit Pfeil und Bogen trugen,
endlich seinen Kollegen, den Tutsi-Professor Karenzi fanden. Das gelang
schließlich auch: Zuerst erschoss man Professor Karenzi, dann seine Ehefrau;
die Kinder, die sich im Gebälk der Zimmerdecken versteckt hielten, wurden
später aufgespürt und ebenfalls umgebracht.
Die ruandische Version des Völkermordes, entworfen von
Professoren der Universität Butare, trug den Namen »Die Zehn Gebote der Bahutu«
– danach hatte man unter Zurückstellung aller politischen Meinungsverschiedenheiten
treu zu seiner Ethnie zu stehen, um die angeblich äthiopischstämmigen Tutsi –
die sich in Wahrheit seit Jahrhunderten längst mit den Hutus vermischt hatten –
aus dem Land zu vertreiben und sich ihren Wohlstand anzueignen. Diese
Geschichte aus den Anfängen der »Hutu Power« scheint einen Erklärungsschlüssel
zu liefern: Nicht nur der Gedanke einer Staatsbürgernation wurde verworfen, als
man die Leute wieder auf Stammeskategorien einschwor. Auch die Verbindung zur
Religion wurde gekappt, indem man den universellen Geboten Moses etwas
entgegensetzte, das nun nicht mehr für die gesamte Menschheit, sondern
lediglich für den eigenen Stamm gelten sollte – der Imperativ des »Du sollst
nicht morden«, abgelöst durch die schließlich massenhaft verbreitete Parole »Es
gilt, Arbeit zu verrichten«, eine bürokratische Umschreibung des permanenten
Mordaufrufs. Katholische Kirchenobere waren bereits vor 1994 in das diktatorische
Regime von Präsident Habyarimana eingebunden; während des Genozids lieferten
Priester und Nonnen dann Tutsi, die den Schutz der Gotteshäuser gesucht hatten,
nicht nur willfährig aus, sondern beteiligten sich in zahlreichen Fällen auch
direkt an deren Abschlachtung. Menschenrechtler analysierten später, dass in
einem traditionell religiösen Land wie Ruanda dieser Tabubruch schlimmste
Folgen zeitigen musste: Wenn nicht nur die nach französischem Verwaltungsvorbild
zentralistisch aufgebaute und bis in das letzte Dorf vernetzte Behördenbürokratie
zum Mord aufrief, sondern auch Geistliche mit Hand anlegten, musste die
Vernichtung der Tutsi notwendig und gottgewollt erscheinen. In den wenigen
Orten, deren Bevölkerung Muslime waren, oder in kleineren Gemeinschaften wie
den Zeugen Jehovas oder den Adventisten, gab es dagegen kaum Opfer zu beklagen;
inzwischen erlebt Ruanda als eine Art später Buße einen wahren Boom dieser
eigentlich hier zu Lande minoritären Religionen. In Butare war es weder ein
Priester noch ein Intellektueller, der sich den Massakern entgegenzustellen
versuchte, sondern mit dem Präfekten Jean-Baptiste Habyalimana einer jener
integren Hutus, die sich vom kalt geplanten Blutrausch nicht anstecken ließen
und mit Notverordnungen und demonstrativem Nichtbefolgen der aus der Hauptstadt
Kigali eintreffenden Dekrete eine Zeit lang zumindest Reste von
Rechtsstaatlichkeit verteidigen konnten. Doktor Habyalimana hatte in den USA
Ingenieurwissenschaften studiert, ehe er 1992 nach Ruanda zurückkehrte, um bei
der Entwicklung seines Landes zu helfen ... Ist demnach Bildung nicht doch ein
Antidot, und war nicht der Sohn des Universitätsrektors, der unter dem Einfluss
seiner Mutter, der Familienministerin des Regimes, als Milizenführer in Butare
schließlich Doktor Habyalimana umbringen ließ, ein typischer raté, ein
gescheiterter Student mit einem irrationalen Hass auf Brillenträger? Doch auch
der Intendant des Radiosenders »Radio Milles Collines«, der im Frühjahr 1994
nahezu stündlich Mordaufrufe sendete, war ein in Paris ausgebildeter
Historiker, während Professor Léon Mugesera, einer der schlimmsten
Propagandisten, sein Studium in Kanada absolviert hatte.
Gespräch mit den Studenten des Journalismus-Kurses,
aber nicht darüber: über die Ermordung von sechstausend Studenten durch
ihre Kommilitonen auf dem Universitätsgelände. Inez, ihre Dozentin, hat uns
eingeladen: Als Tochter von Tutsi-Flüchtlingen aus Burundi, die in Montreal
studiert hat und einen kanadischen Pass besitzt, ist sie nun – sie sagt, für
ein paar Jahre – nach Ruanda gekommen, um bei der Bildung einer neuen
demokratischen Elite mitzuhelfen. Die Atmosphäre ist freundlich, nicht im
Mindesten gespannt, die Fragen offenbar vorbereitet und doch mit großem
Interesse vorgetragen: Wie lebt man in Europa als freier Autor – freelance
sagen die einen, auteur libre die anderen – welche Publikationsmöglichkeiten
gibt es, welche Medien?
»Möchten Sie keine Fragen an uns richten?« »Ich möchte
schon«, höre ich mich sagen, »aber ...« Im Haus des Henkers spricht man nicht
über den Strick, soll es wohl heißen, dabei bin ich süchtig nach Information:
Du und du und du, was habt ihr als Kinder damals gesehen, wie habt ihr überlebt
(Habt ihr eventuell mitgemacht?), was ist mit euren Eltern? Aber wer bist du
denn, denkst du, hierher zu kommen auf ein Nachmittagsgespräch und zu wissen vorzugeben,
an was sich die jungen Leute vor dir erinnern sollten und was sie lieber
vergessen möchten?
»Doch, wir sprechen darüber«, sagt der junge Mann. »Aber wir
tun es nicht öffentlich und ohne jemand anzuklagen. Aber im Freundeskreis reden
wir darüber, unsere Kultur ist nun einmal sehr introvertiert.« »Die Ereignisse,
die damals über uns kamen, sind präsent«, sagt eine Studentin in ausgefeiltem
Französisch, es klingt weder nach Pflichtübung noch nach Alibi, doch erhellt es
auch nichts. Die Ereignisse, die über uns kamen ...
Da reden wir lieber über die Ingando-Lager, die jeder vor
Studiumsbeginn absolvieren muss; zweimonatige Gehirnwäsche, sagen (flüsternd)
vereinzelte Kritiker, Erziehung für die Einheit der Nation, postulieren
(ungleich lauter) Regierungspolitiker und die von ihnen gleichgeschalteten
Medien. Die Journalistik-Studenten in Butare bleiben zurückhaltend, sie jedenfalls
hat keiner zu einer uniformen Jubelmasse manipuliert. Die Aussage »Wichtig ist
nicht die Ethnie, sondern unsere gemeinsame Zukunft« klingt nur halb wie
auswendig gelernt, eher schon wie ein Resultat eigenen, schmerzhaften
Nachdenkens.
In der Tat wird nirgendwo Rache gepredigt; mit UN-Hilfe
versucht man sogar, jene 450000 Hutus, die – vor ihren eigenen Untaten und der Rache der
Tutsis fliehend – seit 1994 im kongolesischen Dschungel herumirren, aus der
Gewalt ihrer Offiziere und Milizenführer zu lösen und zur Rückkehr in ihre
Heimat zu bewegen. Sie dürfen es sich mit der Hutu-Mehrheit eben nicht
verderben, das ist alles; totale Kontrolle üben sie dennoch aus:
Kritikergemurmel aus der Hauptstadt, das vielleicht sogar begründet ist. Und
doch gibt es gleichzeitig das ungleich bedrohlichere Andere, das noch
verdeckter Kolportierte: Eines Tages, so raunt es angeblich in den
Hutu-Dörfern, in der tutsifreien Provinz, kriegen wir euch doch, dann
führen wir die Arbeit von 1994 zu Ende.
Abschließend ein Besuch im Nationalmuseum am
Stadtrand von Butare: Keine Straßensperren, keine Halbwüchsigen in
blutgetränkten T-Shirts, keine Detonationen. Genau das machst du dir immer
wieder klar, als du – vorbei an Vitrinen mit prähistorischen Gegenständen und
Waffen, an präzis nachgebauten Zelten und Lehmhütten – vor der Schautafel
stehst, die der Gegenwart gewidmet ist. Verschiedene Präsidentengesichter,
darunter Pastor Bizimunga, ein moderater Hutu, der nach dem Sieg über das
Regime das Land bis ins Jahr 2000 regierte, obwohl sein Nachfolger Kagame als
Verteidigungsminister bereits damals der starke Mann war. Weshalb aber befindet
sich der Ex-Präsident zurzeit in Haft? Ist es wirklich so schwer, die unselige
Häuptlings-Logik aus Triumph und anschließendem Niedertrampeln zu durchbrechen,
droht nun wiederum ein Einheitspartei-Staat, die unangefochtene Herrschaft
eines Großen Mannes, auch wenn es ein schmächtiger Brillenträger wie
Paul Kagame ist? Rüde Konsolidierung einer Zivilgesellschaft, während man noch
berechtigte Zweifel an der demokratischen Reife des eigenen Volkes hat, oder
doch nur langsames Gleiten in erneute Diktatur? Bizimungas und Kagames Bilder
sind unter Glas, skeptischen Nachfragen gleichsam entrückt. Aber es gibt doch
kein Genozid mehr, murmelt mantraartig eine unsichtbare Stimme, das alte Ethnienspiel
wird durchbrochen, die unselige Logik des Kain. Ist das wirklich so?
Für Carter S. Dougherty und Hannah Deutsch und ihre
Gastfreundschaft.