Ausbruch aus der Zeitschleife?

Das Ende des Modells Deutschland, der Egoismus der Gewerkschaften und die Chancen des grünen Reformmotors (1)

Helmut Wiesenthal

 

Die Lage ist mehr als kritisch – so sieht es unser Autor. Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Bildung, Sozialkassen, Forschung, gesellschaftliche Perspektiven – das Modell Deutschland steckt in einer tiefen Strukturkrise. Das Schlagwort Reformstau ist schon alt. Doch die Reformangebote, ob Agenda 2010 des Bundeskanzlers, ob Vorschläge der Opposition, greifen zu kurz, ganz zu schweigen von der Blockadehaltung der Gewerkschaften, die das Ende des Modells Deutschland nicht wahrhaben wollen. Der akkumulierte Reformbedarf überfordert jede Regierung. Ein Wechsel des Weltbildes, das sich in den Neunzigerjahren gründlich verändert hat, wäre vonnöten. Damit verbunden sollte die Einsicht in eine reformpolitische „Durststrecke“ sein, die im Lichte späterer Gewinne durchaus lohnt. Doch nützt es nichts, nur an den Symptomen der aktuellen Krise herum zu schustern. Helmut Wiesenthal zieht einen großen Diskussionsrahmen um das Modell D und plädiert für eine Neujustierung des sozialpolitischen Systems. Notwendig sind Strukturreformen des Sozialstaats und des Bildungssystems zusammen mit einer signifikanten Ausweitung unternehmerischer Freiheits- und Flexibilitätsspielräume. Reformkompetenz kommt derzeit am ehesten den Grünen zu als „rationale Universalisten“, nicht nur in einer SPD-Koalition.

 

1. »Reformpolitik« in der politischen Systemkrise

Ein halbes Jahr nach ihrer Wiederwahl steht die rot-grüne Regierung vor nicht zu bewältigenden Aufgaben. Wohl sieht es so aus, als hätten die politischen Eliten des Landes zu einem bislang ungekannten Maß an Übereinstimmung gefunden, was die Notwendigkeit tiefgreifender Reformen angeht. Doch stoßen diese nach wie vor auf die Gegnerschaft jener »Nichtregierungsorganisationen«, die schon in der Vergangenheit allenfalls Symptomkuren duldeten. Es waren auch nur die Grünen und nicht die Sozialdemokraten, die sich im Wahlkampf als dezidierte Reformer präsentierten. Sieht man von den wahlentscheidenden »Glücksfällen« der Flutkatastrophe und der amerikanischen Kriegsvorbereitung ab, so wurde die SPD überwiegend als Bewahrer und Beschützer vor drohenden Veränderungen (wieder-)gewählt. Sie profitierte in ungewöhnlich hohem Maße von Wählern, die in wettbewerbsgeschützten Wirtschaftssektoren arbeiten oder ihre Existenz – als Empfänger von Subventionen beziehungsweise Lohnersatzleistungen – vom Staat gewährleistet sehen. Von ihnen wird die Regierung keine Unterstützung bei der Anpassung des Institutionensystems an unabweisbare Herausforderungen erfahren.

Der Umstand, dass es keinen Wählerauftrag für das Reformprogramm der rot-grünen Regierung gibt, ist nur ein Teil der akuten Schwierigkeiten. Problematisch ist auch, dass selbst jene Gruppen, die auf längere Sicht von den Reformen profitieren sollen, nicht ohne kurz- und mittelfristige Nachteile davonkommen. Für Sinn und Notwendigkeit einer reformpolitischen »Durststrecke«, die im Lichte späterer Gewinne durchaus lohnt, gibt es in Deutschland wenig Kredit. Die Eliten der beiden politischen Lager haben Reformpolitik bislang nur in kurzfristigen Zeithorizonten und im Schielen auf das ihnen wichtige Klientel betrieben. Mit selbstgefälligen Selbstbildern pufferten sie sich gegen alle Ansätze zur nüchternen Diagnose ab. Wie anders sollte man sich das gleichzeitige Bejammern und Dulden der seit mehr als einem Vierteljahrhundert bestehenden Arbeitsmarktkrise erklären? So ist auch der Opportunismus des Kanzlers, sein Lavieren zwischen widersprüchlichen Referenzsystemen – mal dem der Wirtschaft, mal dem der Gewerkschaften, mal dem der Grünen, mal dem der Geopolitik – bloß ein Symptom der aktuellen Krise.

Und nicht allein die Regierungspartei SPD, sondern das ganze Parteiensystem, ja das politische System selbst, das der Logik von Parteienwettbewerb und parlamentarischen Regierungen gehorcht, steckt in der Krise. Angelegt war die Systemkrise schon in den Dilemmata der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik gegen Ende der 1970er-Jahre. Eine signifikante Verschärfung erfuhr sie durch den Modus und die Folgen der deutschen Einheit. Damals wurde ein ganzes Set von Institutionen, deren externe Garanten längst zerbrochen waren, auf die neuen Bundesländer übertragen. Das hatte die fatale Konsequenz, dass institutionelle Modernisierung im vereinten Deutschland nicht nur dringlicher, sondern auch schwieriger geworden ist.

Um die Botschaft dieses Artikels vorwegzunehmen: Angesichts der Diskrepanz zwischen Problemstand und institutioneller Ordnung greift auch die »Agenda 2010« zu kurz. Umso notwendiger ist es, den Gegnern solcher Reformprojekte Paroli zu bieten. Dennoch dürfte der akkumulierte Reformbedarf Deutschlands jede Regierung, wie auch immer ihre Zusammensetzung sein mag, überfordern. Damit sind auch die Grünen mit dem Risiko konfrontiert, den gerade erst erlangten Ruf als erstrangiger Reformmotor wieder einzubüßen. Dem können sie auf zwei Wegen begegnen: Indem sie ihr Profil als »rationaler Universalist« im Parteiensystem weiter ausbauen. Und indem sie die Reformbereitschaft auf solche Institutionen lenken, von denen die weitere Anpassungs- und Lernfähigkeit des politischen Systems abhängt.

Zunächst sei jedoch das Grundmuster der Systemkrise in zwei Schritten skizziert. Danach werden die Gewerkschaften als gewichtigster Teil der Reformopposition gewürdigt. Die folgenden Teile beschäftigen sich mit den Konsequenzen der Bundestagswahl 2002 für die SPD und den Optionen, welche die Grünen als Partner einer Reformregierung und als Reformkraft eigenen Charakters haben.

 

2. Das Ende der Nachfrageillusion – Testfall neue Bundesländer

Entgegen der Ansicht, dass sich die akute Krise ausschließlich den Kosten der Einheit und einer ungünstigen Weltkonjunktur verdankt, schält sich in jüngster Zeit die Auffassung von einem Systemfehler im »Modell Deutschland« heraus.(2) Günstige äußere Umstände halfen lange Zeit, ihn zu übersehen beziehungsweise zu kompensieren – bis der Mismatch der Institutionen im Zuge ihrer Übertragung auf den Osten offenkundig wurde und sich in eine Krise des politischen Systems übersetzte. Zwei Faktoren waren dafür entscheidend. Zum einen hatte man sich 1990 wider besseres Wissen entschlossen, die reformbedürftigen Regelwerke des Wirtschaftens und Verteilens in Ostdeutschland wirksam werden zu lassen. Mit dem Verzicht auf einen Sonderstatus der neuen Länder, der den neuen Wählern nur mühsam zu erklären gewesen wäre, sicherte sich die Kohl-Regierung ihre Wiederwahl. Zum anderen sind in den Neunzigerjahren die letzten generellen Stellgrößen einer nationalen Wirtschaftspolitik entfallen – als Folge der restlichen Öffnung der EU-Binnenmärkte und der Schaffung einer Gemeinschaftswährung. Von all den Indikatoren der Auflösung der nationalen Volkswirtschaft in die durch Bits und Bytes integrierte Weltwirtschaft erlangte nur die Einführung des Euro nennenswerte Aufmerksamkeit. Die Parteieliten unterstellten trotz aller Integrations- und Globalisierungsrhetorik, dass das Modell Deutschland auch unter den drastisch veränderten Bedingungen ein Aktivposten des Landes bleiben würde, statt sich als Handikap herauszustellen.

Tatsächlich wäre in den Neunzigerjahren ein kompletter Weltbildwechsel angebracht gewesen. Weil Ländergrenzen ihre Funktion als Schutzwall des nationalen Wirtschaftsraums verloren haben (was nicht nur die EU-Länder, sondern faktisch alle am Welthandel beteiligten Volkswirtschaften betrifft), ist es zu einer signifikanten Umgewichtung der Optionen von Konsumenten und Produzenten gekommen. So entfällt die konsumtive Verwendung des Volkseinkommens zu einem erheblichen Teil auf importierte Güter, ohne dass Regierungen noch die Möglichkeit haben, einheimische Produzenten nach Maßgabe ihrer wirtschafts- oder sozialpolitischen Ziele zu privilegieren. Folglich haben auf die Binnennachfrage zielende Politiken ihre Wirksamkeit verloren. Sie machen nur noch dort Sinn, wo der Anteil des Außenhandels am Sozialprodukt relativ gering ist (wie etwa in den USA und China).

Man muss den Wandel der Realitäten schon sehr entschieden ignorieren, um weiterhin einer Rückkehr zur Nachfragepolitik das Wort zu reden, wie es deutsche Gewerkschaften und der ehemalige SPD-Vorsitzende Lafontaine tun. Vielleicht ist es auch nur naive Freude an dem Explosionsszenario, was die Befürworter des Irrealen motiviert: Würden die Reallöhne ordentlich erhöht, so stiegen automatisch auch die Umsätze und Gewinne der deutschen Unternehmen, so dass der Staat mehr Steuern zur Finanzierung von Staatsaufgaben einnehmen und die Gewerkschaften wiederum höhere Löhne durchsetzen könnten. Diese würden, so ist unterstellt, auch in der nächsten und allen folgenden Runden zu steigenden Umsätzen, Gewinnen und Steuereinnahmen führen. Folglich erlebte die Volkswirtschaft ein immer rasanteres Win-win-Spiel, bei dem es keinen Verlierer gibt. Kritische Gemüter mögen dann zwar den gesteigerten Flächen- und Naturverbrauch beklagen, doch selbst die unangenehmen Nebenfolgen hätten etwas Gutes: Sie verschafften den Grünen eine lohnende Daueraufgabe.

Dass die »Massenkaufkrafttheorie« immer noch Anhänger findet, ist ihrer interessenpolitischen Schlagseite zuzuschreiben, die da heißt: Erst einmal Löhne und Staatsausgaben steigern, das Weitere wird sich schon finden. Die »Theorie« taugt als Wahlkampfparole, da sie vielen Wählern eine kurzfristige Einkommensverbesserung verspricht. Im praktischen Anwendungsfall würde sie zur Ursache eines schwungvollen »political business cycle«. Dass sie in einer offenen Wirtschaft an groben Unfug grenzt, belegen die Erfahrungen mit der deutschen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Im Juli 1990 empfing die DDR-Bevölkerung bekanntlich das ihr Konsuminteresse honorierende Geschenkpaket eines enormen Kaufkraftgewinns. Es bestand nicht nur aus der Aufwertung der Währung um bis zu 400 Prozent, sondern enthielt auch die Umstellung der Erwerbs- und Sozialeinkommen im Verhältnis von 1 zu 1 sowie das Versprechen, die Einkommen so bald wie möglich dem westdeutschen Niveau anzugleichen.

Wenn es je einen repräsentativen Test auf die Tauglichkeit der »Kaufkrafttheorie« für offene Wirtschaftsräume gab, dann ist es dieser »Sieg« der politischen über die wirtschaftliche Vernunft. Selbst zwölf Jahre »danach« hat die Wirtschaftsleistung der neuen Länder noch nicht mit dem Niveau der gesponserten Kaufkraft gleichgezogen. Vielmehr sank die Wachstumsrate in den nachfragepolitischen Musterländern unter jene der Länder, aus deren Wirtschaftsleistung die Subventionen finanziert werden. Warum das so kam, wird auf die Überlegenheit der westdeutschen Anbieter zurückgeführt. Das ist wohl wahr. Tatsächlich richtet sich ein erheblicher Teil der Nachfrage im Osten wie im Westen auf externe Angebote. Denn diese gehören zu den quantitativen und qualitativen Garanten des weltmarktvermittelten Wohlstands. Der Nachfrage-, sprich: Arbeitsplatzeffekt des Konsums ist also international breit verteilt. Aber die Kosten, sprich: Nachteile nationaler Konsumförderungsprogramme fallen national konzentriert an. Das geht nur gut, wenn ein ähnlich großer Teil der einheimischen Produktion ins Ausland geht. Das dafür notwendige Niveau an internationaler Wettbewerbsfähigkeit entsteht aber gerade nicht als Ergebnis von Nachfrageförderung, sondern kann nur aus effizienten Produktions- und entsprechend günstigen Angebotsbedingungen resultieren. Genau diese wurden in den neuen Ländern dem Postulat der Nachfragepolitik geopfert.

Ein paar Jahre lang wurden diese Zusammenhänge unter dem Stichwort Standortwettbewerb diskutiert. Nicht wenigen erschien die Konsequenz, das Augenmerk von der Nachfrageseite auf die Ansiedlungs- und Investitionsneigungen des Kapitals zu verlegen, als Ausdruck partikulärer Interessenpolitik. Diese mögen manche Befürworter der Angebotspolitik auch im Sinn gehabt haben. Hätte aber nicht auch jedes rationale Bemühen, die Wirtschaft unter Bedingungen offener Märkte anzukurbeln und die Wähler mit positiven Wachstumsraten zu beeindrucken, dieselbe Richtung nehmen müssen?

Wenn die Steigerung der konsumierbaren Einkommen nur sehr gedämpften Widerhall in der Binnennachfrage findet, gibt es einen zwingenden Grund, die Perspektive von der Konsumtion auf die Produktion, von der Einkommensverteilung zur Einkommensentstehung, von der Nachfrageseite der Gütermärkte zur Angebotsseite zu lenken. Denn nicht mehr dort, wo konsumiert wird, sondern nur dort, wo investiert und produziert wird, entstehen Einkommen und Arbeitsplätze. Folglich gibt es keine Alternative zu kluger Angebotspolitik, wenn es gilt, die positiven Externalitäten des privaten Wirtschaftens in einem bestimmten Sozialraum, also Orten und Regionen, wirksam werden zu lassen. Das ist die unvermeidliche Konsequenz der transnationalen Wirtschaftsintegration. Gewiss sind die Unternehmen die primären Nutznießer der angebotspolitischen Wende. Doch wäre es absurd, deswegen die positiven Sekundäreffekte auf Beschäftigung und Einkommen gering zu achten. Die »Alternative« der kreditfinanzierten Nachfrageförderung ist keinen Deut praktikabler als die ehrenhaft-unsinnige Absicht, allen Bürgern ein überdurchschnittliches Einkommen zu verschaffen.

 

3. Modell Deutschland – die Konjunktur eines Systemfehlers

Die Neigung, wirtschaftspolitische Realitäten zu verkennen, war nicht erst in den 1990er-Jahren entstanden. Sie datiert fast so weit zurück wie die Rede vom Modell Deutschland (im Folgenden: Modell D). Modell D – das meinte nichts Geringeres als die Überlegenheit der deutschen Wirtschafts- und Sozialordnung im internationalen Vergleich. Das gefühlte »Systemglück« hatte bis zur ersten Ölpreiskrise 1973 eine halbwegs reale Basis. Damals erschien das Bild einer besonders vorteilhaften Wirtschaftsverfassung noch als bruchlos: Die »soziale Marktwirtschaft« mit wieder erstarkten Großunternehmen und eine harte, unterbewertete Währung gewährleisten einen stetig steigenden Volkswohlstand. Dem Wettbewerb waren straffe Zügel angelegt und dem Kapital die Gegenmacht der Gewerkschaften gegenüberstellt, die wiederum durch korporatistische Verhandlungssysteme gezähmt und als Träger einer effizienzsteigernden Hochlohnpolitik akzeptiert waren. Der wohl organisierte (»rheinische«), das heißt vertrags- statt konkurrenzbasierte Kapitalismus half nicht nur, das Elend der Nachkriegszeit rasch zu vergessen und Deutschland zu einer der stärksten Exportnationen zu machen, sondern auch, die Nationalidentität von tradierten Chauvinismen zu lösen und an rein ökonomische Erfolgsindikatoren, etwa die »Härte« der DM, zu binden.

Die institutionelle Basis des Modells D war ein teils gesetzlich fixiertes, teils als informelle Verfassungswirklichkeit verstandenes Regelwerk. Es handelt sich dabei um (erstens) das System der industriellen Beziehungen mit dem tarifvertraglichen Verhandlungssystem, betrieblichen Interessenvertretungen und differenzierten Formen gewerkschaftlicher Mitbestimmung in Aufsichtsräten, der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen und weiteren gesellschaftlichen Repräsentationsforen; (zweitens) die durch Lohnabzüge finanzierten Sozialversicherungen mit beitragsabhängigen Ansprüchen und bescheidenen Solidareffekten; (drittens) das von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften verwaltete duale System der Berufsbildung und schließlich (viertens) die Delegation eines Teils des gesellschaftlichen Regelungsbedarfs an korporatistische Steuerungsgremien der organisierten Interessenten.

Der nüchterne Blick auf dieses Geflecht von staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen findet schwerlich einen Beleg für die Ansicht, hier hätten geniale Institutionenplaner die Grundlagen für immerwährenden Wohlstand, soziale Harmonie und kompetitive Exzellenz geschaffen. Das Wirtschafts- und Sozialsystem, das maximal ein Vierteljahrhundert florierte, ist vielmehr eine emergente Mischung aus zwei gegensätzlichen Prinzipien: zum einen der im Kaiserreich und seiner merkantilistischen Vorgeschichte entstandenen Tradition des staatsinduzierten, -privilegierten und -regulierten Großunternehmertums mit einer vom Marktmodell abweichenden Form der Unternehmenssteuerung (»corporate governance«). Bankenkredite und -beteiligungen sowie komplexe Kapitalverflechtungen machten die Unternehmensführungen weitgehend unabhängig vom Kapitalmarkt und dem an kurzfristiger Rendite interessierten Aktionärspublikum. Diesem Muster der korporativen Zentralisierung folgte nach dem Zweiten Weltkrieg auch der Wiederaufbau der Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften.

Zum Zweiten profitierte Nachkriegsdeutschland von Elementen der angelsächsischen Wettbewerbswirtschaft, die dem Lande von den Siegermächten aufgenötigt worden waren: eine liberale, rechtsstaatlich fixierte Wirtschaftsverfassung; die unabhängige, auf die Wahrung des Geldwerts festgelegte Zentralbank und schließlich die ausgeprägte Zurückhaltung des Staates gegenüber keynesianischen Wachstumskonzepten. Insofern ist das Modell D alles andere als konzeptuell homogen.(3) In vielen politischen Konflikten machen sich die gegensätzlichen Leitprinzipien bemerkbar: die Position des dem Marktwettbewerb verpflichteten, aber institutionell flankierten Ordoliberalismus und die Position des auf staatlicher Interventionsbereitschaft beruhenden »managed capitalism«. Letzterer reicht von staatlich regulierten Ladenöffnungszeiten über wettbewerbsschädliche Fusionsgenehmigungen bis zu wahltaktischen Überlebenshilfen für insolvente Bau- und Mobilfunkunternehmen.

Die Leitidee des organisierten (»managed«) Kapitalismus hatte ihren Popularitätsgipfel zur Hochzeit der »fordistischen« Massenproduktion. Dennoch ist es falsch, sie als Ursache des deutschen Wirtschaftswunders zu betrachten. Das verdankt sich vielmehr dem Zusammentreffen einer vorteilhaften Währungsrelation mit einer anhaltend hohen Auslandsnachfrage und der vom Wiederaufbau angetriebenen Binnenkonjunktur. Damals musste das knappe Arbeitsangebot sogar durch Arbeitsimmigranten aufgebessert werden. Und die Knappheit an Arbeitskraft mündete in die – vom Kapital als Rationalisierungspeitsche geschätzte – Hochlohnpolitik der Gewerkschaften. Indem das Lohnniveau der konfliktstarken Facharbeiterschaft zum Anspruchsniveau aller Beschäftigtengruppen (auch des öffentlichen Dienstes) wurde, blieb die Spannweite der Löhne relativ gering.

Schon Ende der 1970er-Jahre, als sich Arbeitslosenzahlen in Millionenhöhe abzeichneten, wurde erkennbar, dass das Modell D nicht ausschließlich positive Effekte hat. Das Tarifvertragssystem war unfähig, dem Ziel der Beschäftigungsausweitung Priorität zu geben. Eine Konsequenz ist die bis heute ausgesprochen niedrige Beschäftigungsquote. Sie beträgt in Deutschlands rund 60 Prozent, während in den skandinavischen Ländern und den USA um oder über 70 Prozent der erwerbsfähigen Erwachsenen Arbeitseinkommen beziehen. Daran vermochten weder Phasen bewusster Lohnzurückhaltung etwas zu ändern noch die Verringerung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden und weniger. Vielmehr kam es zur Plünderung der Sozialkassen durch die Tarifpartner, die sich in den Achtziger- und Neunzigerjahren auf drittfinanzierte Frühverrentungsprogramme einigten. Diese symbolisieren den strukturellen Bias des Produktions- und Beschäftigungssystems: Es zieht in den traditionellen Wirtschaftssektoren eine fast unüberwindliche Trennlinie zwischen Insidern und Outsidern, während die Entwicklung der Arbeitsnachfrage in neuen (Dienstleistungs-)Sektoren durch die Fixierung der industriellen Lohnstruktur und die geringe Lohnspreizung behindert ist.(4)

Während der seit nunmehr dreißig Jahren bestehenden Massenarbeitslosigkeit(5) wurden auch die Schwächen des Sozialstaatsmodells sichtbar: auf der einen Seite die Exklusion großer Bevölkerungsgruppen und insbesondere vieler Frauen, die keinen Zugang zu versicherungspflichtiger Erwerbsarbeit finden und deshalb keinen ausreichenden Rentenanspruch erwerben; auf der anderen Seite die enormen Kosten der von Staat, Arbeitgebern und Gewerkschaften betriebenen Kompensationspolitik in Gestalt von Frühverrentungs- und Arbeitsförderungsprogrammen. Da die Hochlohnpolitik bei rückläufigen Wachstumsraten fortgeführt wurde, trug der Anreiz zur Ersetzung von Arbeitskraft durch Maschinenintelligenz weiter Früchte. Und weil die wachsende Reservearmee der Arbeitslosen durch Lohnabzüge bei den Beschäftigten finanziert wurde, mussten sich die Kosten menschlicher Arbeit weiter erhöhen. Die kumulierten Folgen bedingen das Elend des korporativen Sozialstaats: eine Lohnkosten-Arbeitslosigkeits-Einnahmendefizit-Spirale.

Eine Zeit lang schien es, als besäße das Modell D im Bildungssystem einen Mechanismus, der die sozialen Nachteile hoher Lohnkosten neutralisieren würde. Doch das ist nicht (mehr) der Fall. Das Schulsystem, die duale Berufsausbildung und das Hochschulwesen produzieren neben qualifiziertem Nachwuchs auch eine beträchtliche Zahl von Drop-outs, von denen viele ins Lager der Langzeitarbeitslosen abgedrängt werden.(6) Die Schwächen des deutschen Schulsystems sind heute dank der OECD-Studie (PISA) weitgehend bekannt. Allerdings scheuen sich die Bildungspolitiker, offen von der Wurzel der meisten Übel zu sprechen, die nicht in heterogenen Klassenstrukturen oder den unterschiedlichen Schulsystemen der Länder liegt, sondern in der Pseudowissenschaftlichkeit veralteter Lehrerstudiengänge, im unzulänglichen Professionsverständnis der Lehrerschaft und dem Wirklichkeitsverlust der Bildungsbürokratie. Letztere zögert noch immer, den Schulleitungen die notwendige Autonomie bei der Realisierung der Bildungsziele zu gewähren.(7) Bislang vermochte die Bildungspolitik mit ihrem Fokus auf Kapazitäts- und Stellenpläne der Qualitätsfrage auszuweichen. Während die Schülerschicksale in Durchschnittsdaten aufgehen, sorgt sie sich vorrangig um das Wohl der Beschäftigten, nämlich der in den Parteien überrepräsentierten Lehrerschaft. Jede Steigerung der Bildungsausgaben lief auf höhere Ausgaben für Personal hinaus, nur der geringste Teil diente der Verbesserung von Lernmilieus und -medien.(8)

Die viel gelobte Berufsbildung steht nicht besser da. So spiegeln die meisten der 344 anerkannten Lehrberufe nur noch die Technik- und Branchenstruktur der Vergangenheit wider. Rund zwei Drittel aller Auszubildenden entfallen auf die schrumpfenden Branchen des herstellenden Gewerbes und des Handwerks. Den wachsenden Bedarf an breiten Basisqualifikationen und Kompetenzen im Umgang mit Informationstechnologien haben die Berufsverwalter der Kammern und Traditionsverbände glatt verschlafen. Selbst Ostdeutschlands Defizit an innovativen und zukunftstauglichen Unternehmen konnte sie nicht veranlassen, mehr Flexibilität zu erlauben und das antiquierte Meisterprivileg zu opfern.

Nun ist auch noch der Glanz des deutschen Universitätssystems verblasst, das unter dem Ruf der Mittelmäßigkeit leidet und zu wenig Absolventen mit international kompetitiven Qualifikationen produziert. Angesichts des raschen Tempos der Wissenschafts- und Technologieentwicklung und des unterschiedlichen Engagements der Disziplinen in Frontforschung und Nachwuchsförderung sind bundeseinheitliche Struktur- und Verwaltungsstandards ebenso überholt wie die Dienstherrenschaft von Landesministern. Es ist höchste Zeit, den Hochschulen volle Budget- und Personalverantwortung zu übertragen und sie in den Wettbewerb um Studierende und Nachwuchstalente zu entlassen – und zwar gerade dann, wenn man die Studierenden weiterhin vor kostendeckenden Studiengebühren bewahren will. Weiterzumachen wie bisher, wie es die Vertreter der universitären Statusgruppen fordern, heißt im Klartext, die Unis nurmehr als staatsgeschützte Spielwiese für Erwachsene zu betrachten.

Natürlich ist das Modell D nicht von einem Tag auf den anderen dysfunktional geworden. Während einzelne Elemente in einem schleichenden Prozess an Funktionsfähigkeit einbüßten und Wandlungsresistenz entwickelten, wurden wenige andere zum Objekt isolierter Reformen. Am weitesten fortgeschritten scheint der Veränderungsprozess bei der Unternehmenssteuerung. Die auf Stabilität, Vertragsnetzwerke und Wettbewerbsverzicht gegründete »rheinische« Variante der corporate governance ist dem rapiden Wandel von Technologien und Wissensbeständen zum Opfer gefallen. Gleichzeitig haben kompetitive Weltmärkte und die beeindruckende Modernisierungswelle in den Industrieländern Asiens mit den ökonomischen Vorzügen der deutschen Wirtschafts- und Sozialordnung aufgeräumt. Im technologischen Wandel ging auch der spezifische Vorteil der großbetrieblichen Unternehmensnetzwerke mit ihrem bankengestützten Finanzierungsmodus verloren. Kleine und mittelgroße Unternehmen zeigten sich in der Entwicklung und Anwendung neuer Technologien oft als kreativer denn viele Konzerne. Dem trug die Wirtschaftspolitik mit ihrem traditionellen Großbetriebsbias nur unzureichend Rechnung. Selbst als die ostdeutsche Großbetriebsstruktur komplett kollabierte, schreckte man vor durchgreifenden Erleichterungen für die Gründung, Finanzierung und Besteuerung von neuen Unternehmen zurück.(9) Kein noch so umfangreicher Katalog von Investitionsprämien und Kreditprogrammen vermag den Mangel an einem gründer- und innovationsfreundlichen Umfeld zu kompensieren.

Die letzte Bundesregierung konnte zwar in Erfüllung von EU-Richtlinien mit einigen Auswüchsen des wettbewerbsfeindlichen Systems aufräumen. Doch vom Prinzip der korporatistischen Interessenvermittlung mochte sie sich nicht verabschieden. Man respektierte die Tabuisierung der Lohnpolitik im »Bündnis für Arbeit« und bewahrte die Gewerkschaften vor der Erkenntnis, dass betriebliche Tarifpolitik in Zukunft eher die Regel als eine Ausnahme vom Prinzip der verbandlichen Tarifautonomie sein wird. Und gänzlich illusionär wurde die Hoffnung, anderen Ländern die Vorzüge von Wettbewerb und Dezentralität ausreden und ihnen stattdessen das Modell D aufschwatzen zu können. Heute besteht innerhalb der politischen Eliten praktisch keine Differenz mehr über Richtung und Tiefe der notwendigen Strukturreformen. Meinungsverschiedenheiten betreffen nurmehr Fragen der Durchführbarkeit, das heißt der Konsensbeschaffung.

 

4. Einflussreiche Partikularisten – Gewerkschaften heute

Kaum zu glauben, aber wahr: In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, als das »Wirtschaftswunder« noch seinem Höhepunkt zustrebte, verfochten die Gewerkschaften das Ziel einer sozialistischen Staatswirtschaft. Erst in den Krisen der 1970er-Jahre, die im Rückblick geradezu harmlos wirken, begannen sie, ihren Frieden mit Marktwirtschaft und Privatunternehmertum zu machen. Es bedurfte der Erfahrung von Stagnation und Rezession, um das Austauschverhältnis zwischen Arbeit und Kapital als Nichtnullsummenspiel zu begreifen und eine gewisse Mitverantwortung für die Entwicklung der Volkswirtschaft anzuerkennen.

Mit dem Ausbau der Sozialversicherungen zu tragenden Säulen des Wohlfahrtsstaates war auch die Festschreibung eines umfangreichen »außertariflichen« Aufgabenpakets der Gewerkschaften einhergegangen. Mit öffentlich-rechtlichen Befugnissen ausgestattet, die sie in Arbeitsgerichten und Schlichtungsausschüssen, den Vorständen der Arbeitsämter und Sozialversicherungsträger, in Rundfunkräten sowie zahlreichen Gremien der Ministerien wahrnehmen, waren sie aktive Teilnehmer an der staatlichen Sozial-, Arbeits- und Kulturpolitik geworden. Auch wirkten sie maßgeblich an der sozialverträglichen Gestaltung des Strukturwandels mit, etwa in regionalen Entwicklungsgremien des Ruhrgebiets und der neuen Bundesländer. Die Verringerung der Wochenarbeitszeit, der weitgehende Kündigungsschutz, tarifvertragliche Verdienst- und Qualifikationssicherungen, aber auch die relativ hohen Lohnersatzleistungen des Sozialstaats, erinnern an eine ungewöhnlich erfolgreiche Ära der gewerkschaftlichen Vertretung von Beschäftigteninteressen.

Gleichwohl blieb das Verhältnis der Gewerkschaften zum sozioökonomischen Wandel widersprüchlich und konfliktbelastet. Seit Ende der 1970er-Jahre sehen sich die Gewerkschaften fast nur noch in der Defensivposition. Erfolglos setzten sie auf staatliche Maßnahmen zur Wiederherstellung der Vollbeschäftigung, während sie sich auf die Vertretung der Lohn- und Statusinteressen der Beschäftigten konzentrierten. Dank der Segmentierung des Arbeitsmarktes war die Tarifpolitik nicht ernsthaft durch die zunehmende Arbeitslosigkeit belastet. So verfestigte sich ein gewerkschaftliches Politikverständnis, demzufolge man selbst für die Steigerung der Reallöhne und die Erhaltung der in der Boomzeit entstandenen Lohnstruktur zuständig sei, während der Staat die steigende Zahl von Arbeitslosen mit Sozialeinkommen und Arbeitsförderungsprogrammen zu versorgen habe. Den Dritten im Bunde, den Unternehmen, war stillschweigend zugestanden, auf steigende Lohnkosten mit Automatisierung und Produktionsverlagerung zu reagieren. Die gewerkschaftliche Mitverantwortung für die Arbeitsmarktmisere ließ sich mit rhetorischen Kraftakten zum 1. Mai kaschieren, deren Wahrheitsgehalt niemand bestreitet: Staat und Wirtschaft tun einfach nicht genug zur »Bekämpfung« der Arbeitslosigkeit.

Nach dreißig Jahren Massenarbeitslosigkeit ist nicht zu übersehen, dass die Gewerkschaften nicht so sehr Opfer, wie sie selbst behaupten, sondern Mitverursacher der gravierenden Schieflage des Arbeitsmarkts sind. Ihr kämpferischer Einsatz für Beschäftigungsprogramme, gegen die Kürzung der Ansprüche auf Arbeitslosengeld und -hilfe sowie gegen befristete Arbeitsverträge, die Lockerung des Kündigungsschutzes und den Niedriglohnsektor ist am allerwenigsten von Sorge um die Ausgegrenzten und Zukurzgekommenen getragen. Er ist in erster Linie Ausdruck des Selbstinteresses der Gewerkschaften in Zeiten nachlassender Beitritts- und Beitragsbereitschaft. Man drängt auf möglichst hohe Lohnersatzeinkommen, weil anderenfalls die etablierte Lohnstruktur und das Lohnniveau auf die Diskrepanz zwischen Arbeitsangebot und -nachfrage reagieren müssten. Das würde zwar Unternehmensgründern helfen, ihre Ideen mit geringerem Risiko zu testen, und dazu führen, dass weniger Menschen sich nutzlos und ausgegrenzt fühlen, aber den Gewerkschaften einen hohen Preis abverlangen: die Abwanderung der Tarifpolitik aus den Gewerkschaftszentralen auf die Betriebsebene. Letzten Endes verlören auch die Vorsitzenden ihren privilegierten Status als außerparlamentarische Politiker.

Weil die Gewerkschaften auf diese Situation und eine entsprechende Reform ihres Funktionsspektrums nicht vorbereitet sind, verteidigen sie den Fortbestand der zu Boomzeiten für geschlossene Märkte entwickelten Tarifpolitik. Doch diese ist strukturell »unpassend«, wenn Unternehmen derselben Branche nicht mehr wie früher mit einheitlichen Wettbewerbsbedingungen zu tun haben. Heute mag die eine Firma dem harten Preiswettbewerb globaler Anbieter ausgesetzt sein und unter enormem Kostendruck stehen, während eine andere des selben Industriezweigs im Innovationswettbewerb vorne liegt und ihre Mitarbeiter durch hohe (so genannte Effizienz-)Löhne zu motivieren versucht. Verbindliche überbetriebliche Normen machen unter diesen Bedingungen nur noch für die Regelung von Mindestbedingungen Sinn.

Den Gewerkschaften geht nicht nur ihre privilegierte Position als Regulator der Arbeitsbeziehungen verloren, sondern auch ihre Reputation als Vertreter einer emanzipatorischen Gesellschaftspolitik. Wie wenig sensibel die Mixtur aus organisatorischen Eigeninteressen und politischer Ambition auf veränderte Problemlagen und gesellschaftliche Entwicklungen reagiert, zeigt sich regelmäßig beim Aufkommen neuer Themen. Als die einstmals »neuen« Themen Umwelt, Kernenergie, Frauen, Ausländer, Minderheitenschutz und so weiter aufkamen, war die erste Reaktion der Gewerkschaften ausgesprochen negativ. Erst nach einer mehrjährigen Phase der Abwehr und Problemverleugnung gelangte die neue Sicht über basisnahe Aktivisten in den »Apparat«. Dieser münzte sie schließlich in doktrinäre Forderungen an Dritte um und bemühte sich, ein Abfärben auf das eigene Organisationsverständnis zu verhindern.

So repräsentieren die Gewerkschaften mit ihrer entschiedenen Ablehnung der Reformagenda 2010 weder den »Zeitgeist« noch die Mehrheit der abhängig Erwerbstätigen. Sind doch ihre Mitglieder zum überwiegenden Teil in traditionellen oder staatlich geschützten, auf jeden Fall quantitativ an Bedeutung verlierenden Bereichen beschäftigt. Arbeitnehmer in technologisch modernen und dem internationalen Wettbewerb ausgesetzten Branchen finden nur noch selten zur Gewerkschaft. Und für den kampfstarken Kern der Mitgliedschaft, die relativ gut verdienenden Facharbeiter, ist die Organisation längst nicht mehr der bevorzugte Weltbildlieferant. Man schätzt sie als Lohnmaschine, aber pfeift auf ihr Deutungsangebot. Das gilt auch für die über 6 Millionen registrierten oder der »stillen Reserve« zugerechneten Erwerbslosen, die immer öfter als »Preis« der Tarifautonomie identifiziert werden. Das von führenden Gewerkschaftern demonstrierte Problem- und Selbstverständnis, aus dem heraus regelmäßig Konjunkturprogramme gegen die längst strukturell gewordene Arbeitslosigkeit empfohlen werden, hat somit nur eine minoritäre Basis in der Gesellschaft.

Der kritische Blick auf die Rolle der Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft(10) gibt keine Veranlassung, ihre Existenzberechtigung als Interessenvertretung von Arbeitnehmern in Frage zu stellen. Er begründet jedoch den systematischen Zweifel an ihrer Fähigkeit, die sozioökonomische Wirklichkeit zutreffend wahrzunehmen und problemadäquat mitzugestalten. Dem steht die den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts verhaftete Organisationsidentität entgegen, wie sie sich im Rhythmus der immer gleichen Forderungen – nach staatlichen Mehrausgaben, Beschäftigungsprogrammen und höheren Unternehmenssteuern – ausdrückt. Was dem Kollektivakteur vor allem mangelt, ist die Fähigkeit, Kosten und Nutzen alternativer Strategien auch in einem längeren Zeithorizont zu kalkulieren. Heute etwas vom Status quo zu opfern, um morgen mehr Sicherheit oder Einkommen zu genießen, ist der von keinerlei Klassenbewusstsein motivierten Mitgliedschaft schwer zu vermitteln. Niemand möchte als Gegenleistung für den monatlichen Mitgliedsbeitrag einen Status quo minus bekommen.

Gleichwohl muss sich eine den Realitäten angepasste Reformpolitik um ein nüchternes Verhältnis zu den Gewerkschaften bemühen. Es geht nicht darum, ihren Handlungsrahmen nach dem Vorbild von Margaret Thatcher zu beschneiden, sondern sich dem Ansinnen zu widersetzen, die Politik müsse den engen Wahrnehmungs- und Handlungshorizont der Gewerkschaften teilen. Da deren Problemverständnis nicht die ganze Gesellschaft zu fassen vermag, können Gewerkschaftsforderungen auch nicht den Status politischer Konzepte beanspruchen. Ihr populistisches Flair verleiht ihnen sogar einen tendenziell antidemokratischen Charakter, an den die Organisationsführung gelegentlich anknüpft. So etwa, wenn die IG-Metall der demokratisch gewählten Regierung androht, die Vermögenssteuer notfalls auf eigene Faust »durchzusetzen«. Oder wenn der DGB-Vorsitzende verkündet, die Behandlung von Reformplänen im Bundestag statt im Bündnis für Arbeit sei ein »undemokratischer« Akt.

Letzten Endes ist es eine Folge gewerkschaftlicher Simplifizierungs- und Blockadepolitik, dass die heute notwendigen Reformen schmerzhafter ausfallen müssen als das, was man einst von einer Mitte-rechts-Regierung befürchtete. Weil man sich dagegen erfolgreich zu wehren wusste, hat sich der Handlungsspielraum für moderate und »sozial ausgewogene« Eingriffe verringert. Dank des funktionierenden Sozialstaats hätte man sich in den 1980er- und 90er-Jahren eine weitgehende Flexibilisierung des Arbeitsmarktes mit der Konsequenz geringerer Arbeitslosigkeit und Budgetdefizite leisten können. So hätte sich in der Vergangenheit auch der Spielraum für unternehmerische Initiativen sozialverträglich ausweiten lassen. Flexibilität beim Einsatz von Arbeitskraft und soziale Sicherheit außerhalb des Beschäftigungsverhältnisses standen nicht immer gegeneinander. Doch schon das »Flexicurity«-Konzept der ersten rot-grünen Regierung kam um ein Jahrzehnt zu spät.

Nüchtern betrachtet, besteht die Chance auf eine grundlegende Besserung der Situation nur noch dann, wenn die Regierung die Strukturreformen des Sozialstaats und des Bildungssystems zusammen mit einer signifikanten Ausweitung unternehmerischer Freiheits- und Flexibilitätsspielräume realisieren würde. Davon ist die »Agenda 2010« weit entfernt. Das überwiegend auf Symptombekämpfung abgestellte Konzept, die erwartbaren Abstriche im Gesetzgebungsprozess und die allfälligen Umsetzungshindernisse lassen nur Problemlinderung und damit eine weitere Runde in der Zeitschleife der deutschen Reformpolitik erwarten. Auch scheint die Diagnosefähigkeit großer Teile der Sozialdemokratie nicht besser entwickelt zu sein als die der Gewerkschaften. So nachvollziehbar und sympathisch manches Argument gegen diesen oder jenen Einzelaspekt der Strukturreformen auch sein mag, die Reformkoalition muss sich dazu durchringen, ihre Opponenten als das zu charakterisieren, was sie sind: Vertreter partikulärer Interessen ohne Weitblick und ohne Willen und Fähigkeit, die soziale Verantwortung für die Folgen ihres Handels zu übernehmen. Damit sind wir bei der Frage nach den Erfolgsaussichten der rot-grünen Reformkoalition.

 

5. Die SPD nach der Wahl – kraftlos im Dilemma

Trotz glaubwürdiger Antikriegshaltung und dem unverhofften Bonus als Flutfolgenmanager fiel das Wahlergebnis der SPD denkbar knapp aus. Die erste rot-grüne Bundesregierung hatte sich keinen ausreichenden Kredit für eine zweite Runde besorgt. Sieht man von den Projekten mit grüner Handschrift ab, der Reform des Staatsbürgerschafts- und Zuwanderungsrechts, dem Atomausstieg und einigen ökologisch inspirierten Interventionen, so hat die Regierung ihren hoch angesetzten Modernisierungsanspruch nicht hinreichend eingelöst. Im Problemfeld Nummer 1, der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik, hatten Kanzler und Kabinett drei Jahre lang die Vogel Strauß-Option verfolgt und auf Gevatter Zufall gesetzt: eine wenig wahrscheinliche Belebung der Weltkonjunktur.

Wäre der Statistikbetrug der Bundesanstalt für Arbeit unentdeckt geblieben, hätte es keine Umstrukturierung der Anstalt und keine Hartz-Kommission gegeben. Dass erst Hartz für eine erweiterte Perspektive auf die Arbeitsmarktmisere sorgte und damit einer Rürup-Kommission das Feld bereitete, macht den dilatorischen Charakter der Regierungsarbeit unübersehbar. Bis Anfang 2002 war man weder willens noch fähig, der Bevölkerung die Situation des Landes begreiflich zu machen. Darunter leidet nun die Reputation des Kanzlers wie die Legitimität der Agenda 2010. Die Begründung ihrer Notwendigkeit ist nicht ohne Selbstkritik zu haben: Man hatte weder die vorangegangene Legislaturperiode ausreichend genutzt noch den Wählern reinen Wein eingeschenkt. Da auch von einer vollständigen Umsetzung der Agenda 2010 keine Wunder zu erhoffen sind, muss man sich fragen, wie die rot-grüne Regierung auf eine zweite Wiederwahl hinarbeiten will.

Die Schröder-SPD hat vermutlich nur zwei Optionen. Optimisten mögen auf weiter fallende Ölpreise und einen breiten Konjunkturaufschwung hoffen, der es erlaubt, auf die sonst notwendige Fortsetzung des »unsozialen« Reformkurses zu verzichten. Die Pessimisten setzen vermutlich auf weitere Wahlerfolge des Mitte-rechts-Lagers und den Übergang der Reformverantwortung auf den Bundesrat, also die CDU/CSU-geführten Landesregierungen. Dann könnte die Bundesregierung die Moderatorenrolle übernehmen und ihre Wähler vor dieser oder jener »rechten Gemeinheit« bewahren. Wiederum blieben etliche unverzichtbare Strukturreformen auf der Strecke, aber es bestünde eine gewisse Wiederwahlchance: Man würde an die staatsabhängigen Teile der Wählerschaft appellieren und sich für die Nutzung eines hinreichend unglücklichen Naturereignisses bereithalten. Die Haarnadelkurve auf der Zeitschleife wäre zu schaffen.

Weitere Skepsis an der Reformkompetenz der Sozialdemokratie stellt sich ein, wenn man den Wandel der Wählerbasis von Rot-Grün zwischen 1998 und 2002 betrachtet. Die Bundestagswahl 1998 wurde vor allem durch Gewinne der SPD in Westdeutschland (+ 4,8 Prozentpunkte; im Osten + 3,6 Prozentpunkte) entschieden. Für den Regierungswechsel sorgten Wähler, die von CDU/CSU und FDP enttäuscht waren. Ein Gutteil von ihnen hatte auf die von der SPD versprochene Modernisierung gesetzt, zumal man damals ausdrücklich eine »Neue Mitte« adressierte. Die zweite rot-grüne Bundesregierung weist eine erheblich veränderte Wählerbasis auf. Ihre Wiederwahl war nicht mehr von Reformhoffnungen, sondern im Gegenteil von Reformängsten getragen. Wieder konnte die SPD Gewinne verbuchen. Doch diese stammen allein aus Ostdeutschland (+ 4,7 Prozentpunkte), während man im Westen glatt 4 Prozentpunkte verlor. Die Grünen blieben von diesem Umschwung in der Wählerschaft verschont: Im Westen gewannen sie noch 2,1, im Osten 0,6 Prozentpunkte hinzu.

Der Wandel des wahlentscheidenden Segments ihrer Wählerschaft stellt die SPD vor ein Dilemma. Ihre Wiederwahl verdankt sie vor allem den Ängsten und Sorgen von Wählern aus den neuen Bundesländern, einem staatlich protegierten Wirtschaftsraum mit überdurchschnittlicher Abhängigkeit von Sozialtransfers. Besonders viel verlor man dagegen in Regionen mit wettbewerbs- beziehungsweise exportstarken Wirtschaftssektoren, das heißt in Baden-Württemberg, Bayern und in den florierenden Teilen des Ruhrgebiets.(11) Das heißt gut verdienende Arbeiter und Angestellte in modernen Industrien wandten sich von der SPD ab, einige wählten die Grünen, die meisten votierten für CDU/CSU oder FDP. Die Wählerwanderung betraf auch gewerkschaftlich organisierte Arbeiter (– 7,0 Prozentpunkte).(12) Der Trend setzte sich im Februar 2003 in den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen fort. Und nichts spricht für die Annahme, dass die abgewanderten Wähler glaubten, von CDU und FDP besser vor einem »Sozialabbau« beschützt zu werden. Die Wählerwanderungen sind vielmehr eine Reaktion auf die Handlungsschwäche der SPD. Ihr Wählerpotenzial droht, auf die Gruppe der Schutz Suchenden zusammenzuschnurren.

Folglich besitzt die SPD im Unterschied zu den Bündnisgrünen, die auch von vielen Reformbefürwortern ohne »grüne« Parteiidentifikation gewählt wurden, kein Mandat für tiefgreifende Reformen. Die Schröder-Regierung ist deshalb zu einem riskanten Spagat genötigt. Um verlorene Wähler zurückzugewinnen und die Reputation der Sozialdemokratie nicht gänzlich zu verspielen, muss sie auf Reformkurs bleiben. Doch dieser vertreibt genau jene Wähler, die ihr zur Wiederwahl verhalfen. Und zwar umso rascher und gründlicher, je konsequenter das vorgestellte Reformpaket umgesetzt wird. Es ist deshalb nicht unwahrscheinlich, dass die SPD-Führung bereit ist, sich den Reformkurs im Vorfeld der nächsten Wahlschlachten verwässern zu lassen – eine dankbare Funktion für die Parteilinke. Da es ohnehin mehrere Jahre dauern wird, bis sich der Reformerfolg an Wachstums- und Arbeitslosenraten ablesen lässt, kann sich die rot-grüne Regierung im Wahlkampf 2006 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht als bewährte Reformkraft präsentieren.

Der absehbar unzulängliche Erfolg des 2003 eingeschlagenen Reformkurses droht auch die mittlerweile erhebliche Reputation der Grünen zu beschädigen. Einerseits können die grünen Regierungsmitglieder ihre Loyalität zum Partner SPD nicht in Frage stellen, wenn dieser sie so dringend als Mitverantwortlichen für notwendige Übel benötigt. Andererseits zwingen die Handlungsschwäche der SPD und die sozioökonomische Situation des Landes zur nüchternen Abwägung: Sollen sich die Grünen als eigenständiger politischer Akteur für die Ausarbeitung und Bewältigung des ebenso anspruchsvollen wie dringlichen Reformprojekts empfehlen oder sich auch in Zukunft damit begnügen, das ökologische und libertäre Gewissen einer SPD-geführten Regierung zu spielen? Vor einer Antwort auf diese Frage lohnt ein Blick auf die aktuelle Wettbewerbssituation der Grünen.

 

6. Die Situation der Grünen – Handikap mit Chancen

Vom Tag ihrer Gründung bis zur deutschen Einheit besaßen die Grünen eine Art Profilmonopol, nämlich das Alleinstellungsmerkmal, mit ökologisch-libertären Themen die »postmaterialistischen« Wähler anzusprechen. Doch schon in den 1990er-Jahren hat der Wettbewerbswert dieses Merkmals deutlich abgenommen. Nicht alle, aber etliche der ökologisch-libertären Themen gewannen über das gesamte Parteienspektrum hinweg an Bedeutung. Damit hat sich, bildlich ausgedrückt, die Hauptachse des Parteienwettbewerbs um etwa 45 Grad im Uhrzeigersinn gedreht; der »linke« Pol hat sich dem »libertären« Pol genähert. Im Umgang mit ökologischen und libertären Themen unterscheiden sich die verschiedenen Parteien nicht mehr prinzipiell, sondern nur noch graduell. Gewiss sind die Grünen die links-libertäre Partei par excellence geblieben. Aber auch in den anderen Parteien gibt es mehr oder weniger große Segmente, die einige der ursprünglich »grünen« Positionen vertreten. Das darf man gern als den gesellschaftlichen Erfolg der Grünen betrachten. Doch ist es ein Erfolg, der künftige Erfolgschancen beeinträchtigt, wenn man ihn nicht in eine neue Währung einzutauschen versteht.

Es sind aber nicht nur Teile der grünen Programmatik – etwa auf den Feldern Umwelt, Frieden, Dritte Welt, Frauengleichstellung, partizipative Demokratie – politisches Gemeingut geworden, sondern einige wurden auch mehr oder weniger erfolgreich abgearbeitet. Der Atomausstieg und die Liberalisierung des Ausländer- und Einwanderungsrechts sind praktisch erledigt; die Vorstellung von Friedenspolitik als unbedingte Absage an militärische Gewalt wurde durch das Prinzip humanitärer Abwägung im Einzelfall ersetzt. Und aktuellere Themen wie Globalisierung, Bio- und Gentechnologie, Reproduktionsgenetik und so weiter eignen sich nur wenig zur parteipolitischen Profilierung, sind doch alle wichtigen Positionen parteiübergreifend quer verteilt.

Angesichts der schwindenden Differenzen zu anderen Parteien kam die Frage auf, inwieweit sich die Grünen durch eine schärfere Artikulation der liberalen Momente im libertären Profil neu definieren könnten. Die Antwort ist ein entschiedenes Jein. Nein, denn Liberalität ist eine Eigenschaft des ganzen Parteiensystems. Sie taugt nicht als Erkennungszeichen einer einzelnen Partei (worunter die FDP seit langem leidet). Ja, weil die Analyse grüner Politikerfahrungen mit realer Illiberalität einen Weg zeigt, wie eine abstraktere Definition des grünen Wertekanons und damit des politischen Profils der Partei aussehen könnte.

Konfrontiert mit dem Gegensatz »autoritär/libertär« beziehen die Grünen traditionell die libertäre Position. Sie widersprechen den autoritären Spielarten staatlicher Aufgabenerfüllung wie der bürokratischen Administration von Lebensformen. Statt autoritärer Werte und stereotyper Gruppendefinitionen vertreten sie das Recht auf individuelle Selbstbestimmung und egalitäre Chancen. Als unabdingbar vorausgesetzt sind Handlungs- und Willensfreiheit – auch und gerade, weil individuelle Ziele und Wünsche sehr verschieden ausfallen. Das impliziert nicht nur Toleranz gegenüber der sozialen und kulturellen Vielfalt der modernen Gesellschaft, sondern auch das zur Persönlichkeitsentfaltung notwendige Maß an staatlichen Garantien, einschließlich des Schutzes vor existenzieller Not.

Die libertären Elemente im Profil der Grünen haben in der Regierungspraxis an Bedeutung gewonnen. Nicht selten mussten Grüne das gesamtgesellschaftlich etablierte Maß an Liberalität beim Koalitionspartner einklagen. Ihre Politikvorschläge reagieren auf den verringerten Handlungsspielraum des Nationalstaats und die gestiegene Skepsis gegenüber staatlichen Regulationsansprüchen und dem Leistungsvermögen der Bürokratie. Während die FDP in Sachen Staatsaufgaben eine scheinbar verwandte Position vertritt, haben die Grünen die libertären Elemente ihres Profils in überzeugender Weise mit sozialen und emanzipatorischen Werten verbunden. Diese Verbindung ist alles andere als eine Mesalliance. Sie ist vielmehr die logische Synthese des individuellen Freiheitsanspruchs und des in der industriellen Moderne entstandenen Verständnisses von Staatsaufgaben im Sinne gesellschaftlicher Freiheitsvoraussetzungen. Es gibt guten Grund anzunehmen, dass wachsende Teile der Wählerschaft ihr politisches Anliegen in dieser Synthese wiedererkennen.

 

Prosperitäts- versus Krisenerfahrungen – ein neuer Zwiespalt?

Bekanntlich lässt sich die Wählerschaft heute weniger denn je anhand der klassischen Merkmale sozialer Schichtung – wie soziale Herkunft, Bildung, Beruf und Einkommen – in Gruppen mit übereinstimmenden politischen Ansichten einteilen. Unterschiedliche, überwiegend kulturell definierte Milieus und die mehr oder weniger zufällige Zugehörigkeit zu einem der verbreiteten Weltbildlager sind an die Stelle objektiver Gruppenmerkmale getreten. Betrachtet man das letzte Bundestagswahlergebnis, so zeichnet sich allerdings wieder die Bedeutung eines objektiven Merkmals ab: nämlich die Lokalisierung der Wähler in der regional-sektoralen Chancenstruktur. Danach scheinen die politischen Präferenzen der Individuen eng mit ihren im engen Sinne räumlich-ökonomischen Erfahrungen zusammenzuhängen.

Ist die Erfahrungswelt eine Region mit überwiegend marktexponierten Unternehmen, also solchen der technologisch moderneren Industrien mit hohem Exportanteil, so drücken die Wähler andere sozial- und wirtschaftspolitische Präferenzen aus als jene in Regionen, wo das individuelle Einkommen überwiegend in »geschützten« beziehungsweise staatsnahen Sektoren erzielt wird, das heißt im öffentlichen Dienst oder in einem dem internationalen Wettbewerb (noch) nicht gewachsenen Wirtschaftsraum (wie in großen Teilen Ostdeutschlands). Während die Erstgenannten Strukturreformen erwarten, die den Prosperitätschancen moderner Unternehmen Rechnung tragen, richten sich die Präferenzen der anderen verständlicherweise auf die schützende, lenkende und verteilende Hand des Staates.

Wegen der ökonomischen Dynamik und der ungleichen Wertschöpfungspotenz traditioneller respektive moderner Wirtschaftssektoren ist mit dem weiteren Wachstum der marktexponierten Sektoren bei gleichzeitig zunehmendem Subventionsbedarf der »geschützten« Sektoren zu rechnen. Diese Entwicklung dürfte unabhängig von der Richtung etwaiger politischer Interventionen anhalten. Zwei mutmaßliche Konsequenzen sind in unserem Zusammenhang wichtig. Zum einen ist jedwede Sozialpolitik von der Prosperität der moderneren und dynamischen Sektoren abhängig, da nur diese die Einnahmeseite des Staatshaushalts zu speisen vermögen. Zum anderen ist mit der Zunahme von Wählern zu rechnen, die eine stärkere Marktorientierung und geringere Neigung haben, nach der schützenden Hand des Staats zu rufen. Dieses Wählersegment ist aber nicht per se konservativ eingestellt. Im Gegenteil, gerade in den jüngeren Alterskohorten konvergieren liberale und libertäre Werte, also ein positives Verhältnis zu Marktwettbewerb und Unternehmertum bei gleichzeitiger Wertschätzung von Toleranz, Minderheitenschutz, Umweltpolitik und Multikulturalismus. Individuen mit dieser Einstellung stört es nicht, sondern sie schätzen es, in einer »globalisierten« Welt zu leben.

Weniger klar ist, ob und wie rasch sich der Anteil von Wählern mit einer ausgeprägt etatistischen Sozialstaatspräferenz vermindern wird. Davon hängt unter anderem ab, wann die Mitgliedschaft von SPD und die Gewerkschaften einen nachhaltigen Realitätsschub erfahren. Eines steht allerdings fest: Die politischen Präferenzen dieses Segments der Wählerschaft zu bedienen, hieße nichts anderes, als die wirtschafts- und finanzpolitischen Voraussetzungen des Sozialstaats weiter erodieren zu lassen. Denn eine nur auf »soziale Gerechtigkeit« pochende Verteidigung des Status quo weiß keine Antwort auf die Frage nach der Sicherung der Wertquellen. Ihr heimliches Ideal scheint der Merkantilismus des frühen 19. Jahrhunderts zu sein, das heißt eine Volkswirtschaft, die vom internationalen Handel parasitär profitieren will und in der wettbewerbliche Anreize durch Staatsintervention ersetzt sind. Doch das kann in der auf wechselseitigen Verpflichtungen gegründeten EU-, OECD- und WTO-Welt nicht funktionieren. Ebenso wenig trifft es zu, dass ein deutlich gesteigertes Niveau staatlicher Umverteilung ohne Rückwirkung auf das Volumen der Reichtumserzeugung bleibt. Vielmehr ist jeder unvorsichtige Schritt in diese Richtung mit spürbaren Sozialprodukt-, sprich: Wohlstandseinbußen verbunden.

 

Grüne als »rationale Universalisten«

Zurück zur Situation der Grünen. Sie verfügen über sehr gute Chancen, jene Wähler zu erreichen, die ihre libertären Präferenzen nicht mit krassem Marktliberalismus vermengt sehen, aber ebenso wenig die Sozialdemokratie auf dem Weg vom Etatismus zum Attentismus begleiten möchten. »Moderat liberal, entschieden libertär« – so lässt sich das entsprechende Wählersegment charakterisieren. Welche Schnittstellen dieser Teil der Wählerschaft im grünen Profil findet, wurde bereits an anderer Stelle diskutiert.(13) Als Repräsentanten eines rationalen, also nicht ausschließlich gefühlsbasierten Universalismus können die Grünen auf zwei Eigenschaften Bezug nehmen.

Erstens gründen sie ihre Identität als einzige Partei Deutschlands nicht auf eine exklusive, mit historischen Reminiszenzen aufgeladene Weltanschauung, die womöglich noch mit einer obsoleten Ideologie verwoben ist. Die letzten Reste an ideologisch befrachteten Denkfiguren aus der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts musste man spätestens in der Vereinigung mit Teilen der ostdeutschen Bürgerbewegung aufgeben. Zweitens entbehrt die Partei eines programmatisch verpflichtenden und die politische Praxis beschränkenden Klientelbezugs. Sie muss weder den Forderungen bestimmter sozialer Gruppen noch dem Bestandsinteresse institutionalisierter Organisationen (etwa der Verwaltungs-, Bildungs- oder Sozialbürokratie) nachkommen. Exakt aufgrund dieser doppelten «Mangelsituation” sind die Grünen besser als alle ihre Konkurrenten gerüstet, ein auf Sachprobleme bezogenes Politikverständnis zu entwickeln und für informierte politische Debatten zu sorgen. Sie besitzen überdurchschnittliche Fähigkeiten zur diskursiven Klärung politischer Optionen.

Die maßgebliche Unterscheidungsdimension ist mit »Universalismus-Partikularismus« angemessen zu beschreiben. Was die Grünen als Platzhalter des universalistischen Pols – neben demokratisch-prozeduraler Normtreue (d. h. Zuverlässigkeit in allen Verfahrensfragen) – auszeichnet, ist eine Rationalitätsverpflichtung in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht:(14) In sachlicher Hinsicht geht es um eine stets exakte Diagnose der in Frage stehenden Sachverhalte und Probleme, also um die abwägende Betrachtung aller sachlich gebotenen Antworten. »Sachlich« heißt vor allem Vollständigkeit der Wahrnehmung und Diagnose. Die zur Problembearbeitung in Frage kommenden Alternativen dürfen nicht anhand historisch-ideologischer Vorbehalte gefiltert sein. Damit kein potenziell nützlicher Gedanke übersehen bleibt, gilt es, den ungeschmälerten gesellschaftlichen Sachverstand zu mobilisieren, einschließlich dessen, was anderenorts an Ideen produziert und verwirklicht wurde.

In zeitlicher Hinsicht haben die Grünen von Anfang an die Berücksichtigung der langfristigen Folgen politischer Entscheidungen und gesellschaftlicher Entwicklungen eingeklagt. Das war und ist der Kern des umweltpolitischen Engagements. Inzwischen hat es einen positiven Ausdruck im Begriff der Nachhaltigkeit gefunden. In zeitlicher Hinsicht rational beziehungsweise »gerecht« zu handeln, bedeutet aber auch, die eigene Politik nicht gänzlich der Logik des Parteienwettbewerbs und dem kurzfristigen Zeithorizont von Legislaturperioden zu unterwerfen. Die Opfer an Zeitrationalität, welche die Demokratie einfordert, sind vielmehr bewusst zu halten, um sie begrenzen zu können.

Sozial rational ist die verantwortungsvolle, systematische Sondierung der sozialen Konsequenzen politischer Entscheidungen unter dem Gesichtspunkt sozialer Inklusion – im nationalen wie im internationalen Rahmen. Dafür ist es nötig (und nicht selten schon gute Praxis), das Bewusstsein von den Exklusionstendenzen vieler Institutionen und mancher reformpolitischer Innovationen wach zu halten. Auch wenn sich soziale Differenzierungen und Exklusionen nicht immer vermeiden lassen, so bedürfen sie doch stets der Überprüfung auf ihre Zumutbarkeit und Vertretbarkeit, so dass unter Umständen für faire Kompensation gesorgt werden kann.

Dass die Grünen in der Lage sind, dem so umrissenen Verständnis eines rationalen Universalismus Ausdruck zu verleihen, haben sie im Umgang mit manchen politischen Streitthemen bewiesen. In einigen Fällen führten sie die Debatte über Problemdiagnosen und politische Antworten stellvertretend für die ganze Gesellschaft, etwa anlässlich der militärischen Beteiligung Deutschlands am Kosovokonflikt. Andere Parteien zeigten sich nicht annähernd so gut in der Lage, die Kriterien sachlicher, zeitlicher und sozialer Rationalität zu vertreten. Üblich ist vielmehr, sich unter dem Druck des Parteienwettbewerbs zur polemischen Abwertung der Politikvorschläge anderer hinreißen zu lassen, selbst wenn bessere Rezepte gar nicht verfügbar sind. Zudem sind die beiden Großparteien und ihre Konkurrenten FDP und PDS noch Denktraditionen verhaftet, die zu Fehldeutungen und populistischen Ausbrüchen anstiften.

Es braucht also kein Übermaß an Optimismus, um den Grünen zu bescheinigen, dass sie im Stande sind, ihr Profil von den restlichen Eierschalen der frühen Jahre, nämlich einem Katalog konkreter und instrumentell vorkodierter Politikvorschläge, zu lösen, um es im Einklang mit prominenten Werten ihrer Geschichte auf einer abstrakteren Ebene neu zu begründen. Der differenzierte Gerechtigkeitsbegriff des Grundsatzprogramms von 2002 beweist, dass dabei, entgegen allen Unkenrufen, kein Verlust an moralischer Verpflichtung eintreten muss. Als eine Partei, die weder durch ihre Geschichte noch durch die Sozialstruktur ihrer Wählerschaft zu partikulärer Klientelpolitik genötigt ist, besitzen die Grünen einen privilegierten Zugriff auf die Sachdimension der politischen Themen. Gleichzeitig bilden die Prinzipien der Nachhaltigkeit und der sozialen Inklusion das moralische Fundament der Kriterien für politische Entscheidungen. Wiederkehrende Selbstzweifel und eine (noch ausbaufähige) Zurückhaltung gegenüber Selbstlob und Selbstidealisierung können helfen, sich diesen Sonderstatus im Parteiensystem zu erhalten. Wenn es der Partei gelingt, die Prinzipien des rationalen Universalismus im Umgang mit den wechselnden Themen des politischen Alltagsbetriebs transparent zu halten, dürfte ihre Einflussposition in Politik und Gesellschaft gesichert bleiben.

 

Grüne als Motor und Katalysator der Reformen

Für jeden politischen Akteur existieren einige Grundregeln und Prinzipien der Positionsbestimmung, die nur um den Preis des Identitätsverlustes oder der Selbstzerstörung missachtet werden können. Für die beiden Volksparteien SPD und CDU/ CSU zählen dazu die ökonomischen Interessen der als »politische Mitte« titulierten Wählerschaft, die als überwiegend »reformavers« eingeschätzt wird. Meinungsumfragen belegen, dass eine Mehrheit der Befragten keinen hinreichenden Grund sieht, sich mit den notwendigen Sozialreformen anzufreunden. Allenfalls ein Viertel der aktiven Wählerschaft ist als dezidiert reformfreundlich zu betrachten (und neigt z. Zt. den Oppositionsparteien und den Grünen zu). Das heißt, auch eine CDU/CSU-geführte Regierung fände keine einhellige Unterstützung für tiefgreifende Reformen. Vielmehr müsste jede Reformregierung gegen die Interessen eines Großteils ihrer Wähler handeln und sich einem erhöhten Wiederwahlrisiko aussetzen, von den Anreizen für innerparteiliche Opposition und dem Identitätsrisiko der Regierungspartei ganz abgesehen.

Angesichts des Defizits an Wähler-Unterstützung dürfte keine Bundesregierung im Stande sein, das Notwendige mit der erfolgsnotwendigen Stringenz zu tun. Ob es sich um eine rot-grüne oder eine schwarz-gelbe Regierung handelt, die Rollenverteilung innerhalb der Koalition ist damit vorbestimmt: Der kleinere Partner muss nolens volens die Rolle des Herausforderers übernehmen und dem größeren Partner so viel Reformbereitschaft und Leidensfähigkeit abtrotzen, wie dessen innerparteiliche Kräfteverhältnisse zulassen. Eine Alleinregierung durch CDU/CSU (immerhin denkbar) oder SPD (einigermaßen unwahrscheinlich) hätte es deshalb keineswegs leichter, fehlte ihr doch ein Partner für das Spiel »guter Polizist, böser Polizist«. Nachdem man über Jahrzehnte hinweg das Ausmaß des Reformbedarfs verleugnet hat, wäre auch eine große Koalition kaum in der Lage, mehr Gewicht auf die Waage zu bringen. Landtagswahlen und der Wettlauf um eine günstige Position für den Bundestagswahlkampf würden die »Reformer« beider Seiten zur Mäßigung anhalten.

Die Konsequenzen für die Grünen liegen auf der Hand. Wenn sie den eingeschlagenen Weg der Profilierung als »rationale Universalisten« weitergehen, sind sie auf eine aktive Rolle bei der Konzeptualisierung und Propagierung des Reformprojekts festgelegt. Es gibt keine Möglichkeit, sich als Opposition gegen allzu tiefgreifende Reformpolitiken zu profilieren und seine Reputation als ernst zu nehmender Reformakteur zu behalten. Ihrem sozial-libertären Profil entsprechend wären sie die Letzten, die bei der Diagnose der Probleme und der Auswahl von Politiken Abstriche machen und ungünstige Kräfteverhältnisse vorwegnehmen dürften. Es versteht sich von selbst, dass ein klarer Positionsbezug beim Reformprogramm nicht mit einer Vorfestlegung auf die SPD als Regierungspartner verträglich ist. Gibt es genügend Übereinstimmung in der Sache, muss auch eine schwarz-grüne Reformkoalition möglich sein.

Allerdings wäre die Rolle der Grünen als Partner einer christdemokratisch geführten Regierung nicht dieselbe wie neben einem sozialdemokratischen Kanzler. Die Funktion des konzeptionell starken Reformmotors und Advokaten der Zukunft wäre ihnen wohl in beiden Fällen sicher. Aber sie wäre durch eine je besondere Katalysatorrolle zu ergänzen. Als Partner der Sozialdemokraten werden die Grünen genötigt bleiben, der »sachlichen« Rationalität das Wort zu reden, also für vollständige Problemdiagnosen und die Abwägung aller in Frage kommenden Instrumente zu sorgen. Als Partner einer CDU-Regierung werden sie ihr Augenmerk vor allem auf die »soziale« Rationalität der Reformen zu richten haben. Das heißt nicht, den Sozialausschüssen zur Seite zu stehen, sondern den Anliegen der vielen quantitativ minoritären Gruppen Beachtung zu verschaffen, die gemeinhin den soziokulturellen Vorlieben deutscher Konservativer zum Opfer fallen.

Entgegen manch früherer Selbstkritik der Grünen besteht kein Zweifel, dass sie einen wichtigen und konstruktiven Beitrag zur Modernisierung des deutschen Institutionensystems leisten können. Die Erfahrungen, die das politische Personal in Parlamenten, Ausschüssen und Regierungsämtern gesammelt hat, und die Beiträge einiger Grüner zu den wichtigsten gesellschaftspolitischen Debatten weisen sie für eine reformpolitische Initiatorenrolle als intellektuell und moralisch hinreichend qualifiziert aus. Allerdings besteht eine deutliche Diskrepanz zwischen dem politischen und diagnostischen Know-how der Aktiven auf Bundes- und Landesebene einerseits und dem Urteilsvermögen vieler Mitglieder an der »Basis«. Die Rekrutierungsbedingungen von Parteien, ihre Angewiesenheit auf Emotionen und Ideologien, bedingen sogar ein gewisses Kompetenzgefälle zwischen Wählern und Mitgliedern: Nicht selten war die grüne Wählerschaft der lokalen Mitgliedschaft um Jahre voraus, wenn es um die sachliche Einschätzung politischer Optionen ging.

Differenzen zwischen überwiegend pragmatischen Wählern und der tradierten Kollektividentität der Grünen wird es auch in Zukunft geben. Neuralgische Punkte sind die Ersetzung des kritischen durch ein dynamisches Wirtschaftsverständnis und der Zugang zu arbeitsunabhängigem Einkommen. In beiden Fällen kollidiert die Reformpolitik mit Programmzielen der frühen Jahre. Die beschäftigungs- und einkommenspolitische Notwendigkeit des Übergangs von der Nachfrage- zur Angebotsförderung wurde bereits oben (im Abschnitt 2) dargelegt. Der Perspektivenwechsel impliziert jedoch mehr. Er bedeutet die endgültige Abkehr von der Vorstellung, die »an sich« willkommenen Unternehmerinitiativen ließen sich ex ante in gesellschaftlich erwünschte Bahnen lenken.

Die notwendige Liberalisierung der Unternehmertätigkeit muss keineswegs das Ende der »Politisierung der Produktion«(15) bedeuten. Und zwar dann nicht, wenn es gelingt, Problemverständnis und Institutionen für die effektive Ex-post-Regulation weiterzuentwickeln. Das hieße, Technik- und Wirtschaftsentwicklung weder als quasi naturwüchsig noch als Ergebnis politischer Planung zu begreifen, sondern als einen gesellschaftlichen Evolutionsprozess: Wenn günstige Rahmenbedingungen die kreative Erprobung von Ideen und Chancen (im Sinne des Evolutionsmechanismus »Variation«) ermöglichen, kommt es darauf an, die inakzeptablen Hervorbringungen (im Sinne von »Selektion«) zu identifizieren, um ihnen per politischer Entscheidung die Chance der Reproduktion (im Sinne von »Retention«) zu nehmen. Das war, genau besehen, die einzige Weise, in der sich gesellschaftliche Wirkungen des privatwirtschaftlichen Entscheidens bislang kontrollieren ließen. Projekte der Innovationslenkung (von der Kernenergie und dem Transrapid bis zur, sorry, teuer subventionierten Windkraft) endeten regelmäßig in Investitionsruinen und/oder Mitnahmeeffekten. Heute ist es allemal lohnender, die politische Kreativität auf bessere Institutionen der Ex-post-Evaluation und -Intervention zu lenken.

Nicht minder gravierend für das Selbstverständnis der Grünen sind die in der Sozialpolitik anstehenden Reformen. Wurde in den 1980er-Jahren erwogen, das Ziel Vollbeschäftigung gegen das eines allgemeinen Grundeinkommens einzutauschen, so steht heute – unter der Parole »Fordern und Fördern« – die Wiedereingliederung der Sozialeinkommensbezieher in den Arbeitsmarkt an – einen Markt, der durch »Angebotsüberhang« gekennzeichnet ist. Nachdem aber das Zeitfenster für sozial ausgewogene Politiken ungenutzt verstrichen ist, bleibt nur die Möglichkeit, die unvermeidlichen Einsparungen mit langfristig sinnvollen Strukturinnovationen zu verbinden. Das geschah ansatzweise mit der bedarfsabhängigen Grundsicherung für alte Menschen und Erwerbsunfähige. Derselben Logik folgen verbesserte Zuverdienstmöglichkeiten für Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose sowie überhaupt jeder Schritt, der in die Richtung einer nichtdiskriminierenden Existenzsicherung auf Mindestniveau weist und Eigenverantwortung fördert. Auch hier besteht keine Veranlassung, die Leitidee der Entkoppelung der Existenzgarantie von der Konjunktur des Beschäftigungssystems aufzugeben. Es gilt aber, die Zyklizität der politökonomischen Konjunkturen in Rechnung zu stellen und für günstigere Zeiten gerüstet zu sein.

Gleichwohl bildet die unzureichende Vermittlung politischer Erfahrungen und Überlegungen aus der Bundespolitik in die Kreisverbände immer noch die Achillesferse des Reformakteurs Grüne. Käme man dem Verlangen von Teilen der Basis nach, sich auf eine Defensivrolle zu beschränken, so ginge unweigerlich der Kontakt zu jenem Teil der Wählerschaft verloren, der den Grünen zutraut, der institutionellen Modernisierung Deutschlands ein sozial-libertäres Profil zu verleihen. Folglich werden die Grünen als Partei und Bundestagsfraktion, sei es an der Regierung oder in der Opposition, noch beträchtliche Anstrengungen zur internen Vermittlung von Problemdiagnosen und Politikvorschlägen unternehmen müssen.

 

7. Ausweg Verfassungsreform

In diesem Beitrag wurden zwei Problemkreise behandelt, die nicht notwendig miteinander verschränkt zu sein scheinen: zum einen die Ablösung des Modells D durch ein modernes und sozial akzeptables Institutionensystem und zum anderen die Re-Fundierung des Profils der Grünen durch ein neues, in ihrer Geschichte begründetes Alleinstellungsmerkmal. Tatsächlich sind beide Problemkreise für die Grünen enger miteinander verknüpft, als es auf den ersten Blick scheint. Denn die Institutionenreform ist keine kontingente Aufgabe, die ebenso gut unbearbeitet bleiben könnte. Und die Grünen erlitten einen gravierenden Ansehensverlust, würden sie bei der Konzeptualisierung der Reformen und ihrer Umsetzung abseits stehen.

Doch macht es einen Unterschied, ob sich die Grünen an risikoreichen Reformprojekten beteiligen oder nicht? Die Antwort ist Ja. Es ist von erheblicher Bedeutung, ob die Kriterien des rationalen Universalismus, das heißt nüchterner Sachverstand, langfristige Folgenabschätzung und nachdrückliche Orientierung am Gebot sozialer Inklusion, vertreten sind oder unterrepräsentiert bleiben. Nur die Grünen kommen als unvoreingenommene Träger dieser Kriterien in Betracht. Sie sind die einzige im Bundestag vertretene Partei, die nicht mit Gruppeninteressen verschwägert oder obsoleten Ideologemen verpflichtet ist. Denn die Crux sozialdemokratischer wie konservativ-liberaler Reformpolitik ist, dass sie das, was richtig und geboten ist, nicht zu trennen vermag von dem, was sie einer partikularistisch gesinnten Wählerklientel schuldig zu sein glaubt.

Das als Modell Deutschland apostrophierte Institutionensystem hat nicht nur seine Blütezeit weit hinter sich gelassen, es ist inzwischen zu einem Hindernis der sozialen Integration und gesellschaftlichen (Selbst-)Steuerung geworden. Die geltenden Spielregeln setzen den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entscheidungsträgern perverse Anreize, indem sie zu Problemverdrängung und zur Vertagung notwendiger Entscheidungen anhalten. Die Dinge zu lassen, wie sie sind, hieße, eine Verschlechterung in allen relevanten sozioökonomischen Dimensionen des Landes zu dulden. Glücklicherweise wird jede Entwicklung zum Schlechteren unweigerlich den politischen Eliten zugerechnet, die sich deshalb zu mehr oder weniger problemadäquaten Aktionen herausgefordert sehen.

Per Saldo ist jedoch nicht damit zu rechnen, dass die Modernisierung des Institutionensystems in hinreichend großen Schritten vorankommt. Die Logik des vom Parteienwettbewerb durchwachsenen Föderalismus und die Vielzahl institutionalisierter Vetopunkte im korporatistischen System der Interessenvermittlung weisen jedes anspruchsvolle Reformpaket als unrealisierbar aus. Weil auch die Agenda 2010 bestenfalls ungünstige Entwicklungen zu stoppen, aber nicht zu kurieren geeignet ist, kreist die Regierungspolitik nach wie vor in der Zeitschleife des reproduktiven Symptommanagements. Die Zeitschleife – als ständige Wiederkehr von strukturell analogen Problemlagen bei Variation der Begleitumstände – ist womöglich schon zum bevorzugten Orientierungsrahmen der politischen Eliten wie ihres Fußvolks in den Parteien geworden.(16) Der Ausbruch könnte nur solchen Akteuren gelingen, die politischen Realitätssinn mit »transzendenten« Zielen zu verbinden und das Risiko des Weitermachens ebenso gut zu kalkulieren wissen wie das Wagnis der Innovation.

Eine »rationale« Positionsbestimmung der Grünen gegenüber dem aktuellen Reformprojekt muss also die Risiken des Scheiterns der regierungsamtlichen Ambition wie auch des Ungenügens der Konzeption selbst in Rechnung stellen. Das impliziert ein erhebliches Risiko für die Grünen. Es sollte Grund genug sein, einen Augenblick innezuhalten und den Alternativenraum noch einmal vorbehaltlos zu inspizieren. Er enthält mindestens eine Option, die den genannten Risiken Rechnung zu tragen erlaubt: die Konzentration auf eine Reform der politischen Kompetenz- und Entscheidungsordnungen. Eine moderate und überzeugend begründete Variante hat Fritz W. Scharpf vorgestellt.(17) Anstelle ausgedehnter und hochkontroverser Debatten über die zur Wirtschaftsbelebung erforderlichen Maßnahmen plädiert Scharpf dafür, das Grundgesetz durch eine Experimentierklausel zu ergänzen. Würde diese hinreichend großzügig formuliert, so könnte sie den Ländern erhebliche Spielräume öffnen, um dezentrale Innovations- und Reformfähigkeiten zu entwickeln, die wiederum potenziell verallgemeinerbare Lösungen ans Licht bringen. Ungünstige beziehungsweise unerwünschte Folgen ließen sich durch Befristung der Experimente und Evaluationspflichten meistern.

Seit längerem sind auch anspruchsvollere Varianten einer Reform des deutschen Föderalismus im Angebot. An diese erinnerte die Bundesjustizministerin Zypries im April 2003. Ihr Vorschlag sieht eine Neuverteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern vor. Diese und eine Entflechtung der Finanzbeziehungen könnten unter anderem Bewegung in die Beamtenrechtsreform und den Ländern eine konkurrenzfreie Zuständigkeit für Hochschulen, öffentlichen Dienst, Naturschutz und so weiter bringen. Eine derartige Neuordnung des Bundesstaates mag noch vieler Diskussionen bedürfen, um im Einzelnen konsensfähig zu werden. Aber das Projekt hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber den absehbar unzureichenden materiellen Reformen einer Bundesregierung ohne Bundesratsmehrheit: Es mobilisiert das Innovationsvermögen der Landesregierungen und vermag deren Blockademacht im Bundesrat ins Positive zu wenden. Es würde nicht nur der Handlungsspielraum der Landespolitik erweitert, sondern auch ein fruchtbarer Wettbewerb zwischen den Ländern um die Entwicklung ökonomisch zweckmäßiger und sozial akzeptabler Institutionen angeregt. Damit ließe sich dem Regionalisierungskurs der EU sowie der faktischen Abhängigkeit der regionalen Wirtschaft von globalen Märkten in angemessener Form Rechnung tragen.

Es ist ein glücklicher Zufall, dass die Grünen das selbst geschaffene Korsett der Trennung von Amt und Mandat noch für einige Zeit erdulden müssen. Das räumt ihrem Parteivorstand die Möglichkeit ein, die politische Tagesordnung nicht ausschließlich nach den Prioritäten der Kanzlermehrheit zu gestalten, sondern auch Ideen und Projekte zu formulieren, die das Arbeitspensum von Kabinett und Fraktion überschreiten. Vielleicht hilft dieser Umstand, die Doppelaufgabe zu bewältigen: bis zur der nächsten Bundestagswahl einen zuverlässigen Regierungspartner abzugeben, der dabei auch sein Profil als innovative und über den Tag hinaus planende Reformkraft zu schärfen versteht.

 

1

Für wertvolle Anregungen danke ich Andrea Goymann.

2

Vgl. den Einleitungsaufsatz von Herbert Kitschelt und Wolfgang Streeck im Deutschland-Sonderheft von West European Politics (erscheint Ende 2003).

3

Vgl. Kenneth Dyson: »The German Model Revisited: From Schmidt to Schröder«, in: German Politics 10 (2/01), S. 135–154.

4

Vgl. Fritz W. Scharpf: »Wege zu mehr Beschäftigung«, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 48 (4/97), S. 203–217.

5

Vor genau 15 Jahren erschien der Aufsatz von Jürgen Kühl: »15 Jahre Massenarbeitslosigkeit. Aspekte einer Halbzeitbilanz«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 33/1988, S. 3–15.

6

Mit fast 40 Prozent ist der Anteil derer, die ein Jahr lang oder länger arbeitslos sind, höher als in anderen Ländern. In den USA liegt er (u.<|>a. wegen der niedrigen Lohnersatzleistungen) bei nur 11 Prozent.

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Vgl. Peter Daschner, Hans-Günter Rolff und Tom Stryck (Hrsg.): Schulautonomie – Chancen und Grenzen. Impulse für die Schulentwicklung, Weinheim: Juventa 1995.

8

Vgl. Manfred G. Schmidt: »Warum Mittelmaß? Deutschlands Bildungsausgaben im internationalen Vergleich«, in: Politische Vierteljahresschrift 43 (1/02), S. 3–19.

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Dabei ließe sich das Umfeld für Unternehmensgründungen durchaus sozialverträglich gestalten, wenn anstelle der diversen handwerks- und gewerberechtlichen Restriktionen einzig der Nachweis einer Unternehmerhaftpflichtversicherung gefordert würde.

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Vgl. den Beitrag von Ralf Clasen und Helmut Wiesenthal in: Wolfgang Schroeder, Bernhard Weßels (Hrsg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag (erscheint im Sommer 2003).

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Das zeigt die von Herbert Kitschelt (im Deutschland-Sonderheft von West European Politics) vorgenommenen Analyse der Wählerbewegungen.

12

Vgl. Richard Stöss und Gero Neugebauer: Mit einem blauen Auge davon gekommen. Eine Analyse der Bundestagswahl 2002, Arbeitshefte aus dem Otto-Stammer-Zentrum Nr. 7, Berlin: Freie Universität 2002.

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Vgl. Helmut Wiesenthal: »Bündnisgrüne in der Lernkurve. Erblast und Zukunftsoption der Regierungspartei«, in: Kommune, Heft 5/1999, S. 35-50, und ders.: »Profilkrise und Funktionswandel. Bündnis 90/Die Grünen auf dem Weg zu einem neuen Selbstverständnis«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B5/2000, S. 22–29.

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Der umgangssprachliche Sinn dieses Rationalitätskonzepts ist im Begriff der Gerechtigkeit aufgehoben. Dass ein praxistaugliches Gerechtigkeitskonzept auf typische Handlungsfelder und -probleme hin ausdifferenziert sein muss, haben die Grünen in der Präambel zu ihrem Grundsatzprogramm von 2002 dokumentiert.

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Vgl. Herbert Kitschelt: »Materiale Politisierung der Produktion. Gesellschaftliche Herausforderung und institutionelle Innovationen in fortgeschrittenen kapitalistischen Demokratien«, in: Zeitschrift für Soziologie, Heft 3/1985, S. 188–208.

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In den letzten zehn Jahren waren Spielarten der Zeitschleife – beziehungsweise von Tests kontrafaktischer Handlungsverläufe – in mindestens drei Spielfilmen zu studieren: Groundhog Day (USA 1993), Retroactive (USA 1997) und Lola rennt (Deutschland 1998).

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Fritz W. Scharpf: »Mehr Freiheit für die Bundesländer. Der deutsche Föderalismus im europäischen Standortwettbewerb«, in: FAZ, 7.4.01, S. 15. Siehe auch ders.: »Föderale Politikverflechtung: Was muss man ertragen? Was kann man ändern?«, in: Konrad Morath (Hrsg.): Reform des Föderalismus. Bad Homburg: Frankfurter Institut 1999, S. 23–36.