Ausbruch aus der Zeitschleife?
Das Ende des Modells Deutschland, der Egoismus der
Gewerkschaften und die Chancen des grünen Reformmotors (1)
Helmut Wiesenthal
Die Lage ist mehr als kritisch – so sieht
es unser Autor. Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Bildung, Sozialkassen, Forschung,
gesellschaftliche Perspektiven – das Modell Deutschland steckt in einer tiefen
Strukturkrise. Das Schlagwort Reformstau ist schon alt. Doch die
Reformangebote, ob Agenda 2010 des Bundeskanzlers, ob Vorschläge der
Opposition, greifen zu kurz, ganz zu schweigen von der Blockadehaltung der
Gewerkschaften, die das Ende des Modells Deutschland nicht wahrhaben wollen.
Der akkumulierte Reformbedarf überfordert jede Regierung. Ein Wechsel des Weltbildes,
das sich in den Neunzigerjahren gründlich verändert hat, wäre vonnöten. Damit
verbunden sollte die Einsicht in eine reformpolitische „Durststrecke“ sein, die
im Lichte späterer Gewinne durchaus lohnt. Doch nützt es nichts, nur an den
Symptomen der aktuellen Krise herum zu schustern. Helmut Wiesenthal zieht einen
großen Diskussionsrahmen um das Modell D und plädiert für eine Neujustierung
des sozialpolitischen Systems. Notwendig sind Strukturreformen des Sozialstaats
und des Bildungssystems zusammen mit einer signifikanten Ausweitung unternehmerischer
Freiheits- und Flexibilitätsspielräume. Reformkompetenz kommt derzeit am
ehesten den Grünen zu als „rationale Universalisten“, nicht nur in einer
SPD-Koalition.
1. »Reformpolitik« in der
politischen Systemkrise
Ein halbes Jahr nach ihrer Wiederwahl steht die rot-grüne
Regierung vor nicht zu bewältigenden Aufgaben. Wohl sieht es so aus, als hätten
die politischen Eliten des Landes zu einem bislang ungekannten Maß an
Übereinstimmung gefunden, was die Notwendigkeit tiefgreifender Reformen angeht.
Doch stoßen diese nach wie vor auf die Gegnerschaft jener
»Nichtregierungsorganisationen«, die schon in der Vergangenheit allenfalls
Symptomkuren duldeten. Es waren auch nur die Grünen und nicht die
Sozialdemokraten, die sich im Wahlkampf als dezidierte Reformer präsentierten.
Sieht man von den wahlentscheidenden »Glücksfällen« der Flutkatastrophe und der
amerikanischen Kriegsvorbereitung ab, so wurde die SPD überwiegend als Bewahrer
und Beschützer vor drohenden Veränderungen (wieder-)gewählt. Sie profitierte in
ungewöhnlich hohem Maße von Wählern, die in wettbewerbsgeschützten Wirtschaftssektoren
arbeiten oder ihre Existenz – als Empfänger von Subventionen beziehungsweise
Lohnersatzleistungen – vom Staat gewährleistet sehen. Von ihnen wird die
Regierung keine Unterstützung bei der Anpassung des Institutionensystems an
unabweisbare Herausforderungen erfahren.
Der Umstand, dass es keinen Wählerauftrag für das
Reformprogramm der rot-grünen Regierung gibt, ist nur ein Teil der akuten
Schwierigkeiten. Problematisch ist auch, dass selbst jene Gruppen, die auf
längere Sicht von den Reformen profitieren sollen, nicht ohne kurz- und
mittelfristige Nachteile davonkommen. Für Sinn und Notwendigkeit einer
reformpolitischen »Durststrecke«, die im Lichte späterer Gewinne durchaus
lohnt, gibt es in Deutschland wenig Kredit. Die Eliten der beiden politischen
Lager haben Reformpolitik bislang nur in kurzfristigen Zeithorizonten und im
Schielen auf das ihnen wichtige Klientel betrieben. Mit selbstgefälligen
Selbstbildern pufferten sie sich gegen alle Ansätze zur nüchternen Diagnose ab.
Wie anders sollte man sich das gleichzeitige Bejammern und Dulden der seit mehr
als einem Vierteljahrhundert bestehenden Arbeitsmarktkrise erklären? So ist
auch der Opportunismus des Kanzlers, sein Lavieren zwischen widersprüchlichen
Referenzsystemen – mal dem der Wirtschaft, mal dem der Gewerkschaften, mal dem
der Grünen, mal dem der Geopolitik – bloß ein Symptom der aktuellen Krise.
Und nicht allein die Regierungspartei SPD, sondern das ganze
Parteiensystem, ja das politische System selbst, das der Logik von
Parteienwettbewerb und parlamentarischen Regierungen gehorcht, steckt in der
Krise. Angelegt war die Systemkrise schon in den Dilemmata der Finanz-,
Wirtschafts- und Sozialpolitik gegen Ende der 1970er-Jahre. Eine signifikante
Verschärfung erfuhr sie durch den Modus und die Folgen der deutschen Einheit.
Damals wurde ein ganzes Set von Institutionen, deren externe Garanten längst
zerbrochen waren, auf die neuen Bundesländer übertragen. Das hatte die fatale
Konsequenz, dass institutionelle Modernisierung im vereinten Deutschland nicht
nur dringlicher, sondern auch schwieriger geworden ist.
Um die Botschaft dieses Artikels vorwegzunehmen: Angesichts
der Diskrepanz zwischen Problemstand und institutioneller Ordnung greift auch
die »Agenda 2010« zu kurz. Umso notwendiger ist es, den Gegnern solcher
Reformprojekte Paroli zu bieten. Dennoch dürfte der akkumulierte Reformbedarf
Deutschlands jede Regierung, wie auch immer ihre Zusammensetzung sein mag,
überfordern. Damit sind auch die Grünen mit dem Risiko konfrontiert, den gerade
erst erlangten Ruf als erstrangiger Reformmotor wieder einzubüßen. Dem können
sie auf zwei Wegen begegnen: Indem sie ihr Profil als »rationaler Universalist«
im Parteiensystem weiter ausbauen. Und indem sie die Reformbereitschaft auf
solche Institutionen lenken, von denen die weitere Anpassungs- und
Lernfähigkeit des politischen Systems abhängt.
Zunächst sei jedoch das Grundmuster der Systemkrise in zwei
Schritten skizziert. Danach werden die Gewerkschaften als gewichtigster Teil
der Reformopposition gewürdigt. Die folgenden Teile beschäftigen sich mit den
Konsequenzen der Bundestagswahl 2002 für die SPD und den Optionen, welche die
Grünen als Partner einer Reformregierung und als Reformkraft eigenen Charakters
haben.
2. Das Ende der
Nachfrageillusion – Testfall neue Bundesländer
Entgegen der Ansicht, dass sich die akute Krise
ausschließlich den Kosten der Einheit und einer ungünstigen Weltkonjunktur
verdankt, schält sich in jüngster Zeit die Auffassung von einem Systemfehler im
»Modell Deutschland« heraus.(2) Günstige äußere Umstände halfen lange Zeit, ihn
zu übersehen beziehungsweise zu kompensieren – bis der Mismatch der
Institutionen im Zuge ihrer Übertragung auf den Osten offenkundig wurde und
sich in eine Krise des politischen Systems übersetzte. Zwei Faktoren
waren dafür entscheidend. Zum einen hatte man sich 1990 wider besseres Wissen
entschlossen, die reformbedürftigen Regelwerke des Wirtschaftens und Verteilens
in Ostdeutschland wirksam werden zu lassen. Mit dem Verzicht auf einen
Sonderstatus der neuen Länder, der den neuen Wählern nur mühsam zu erklären
gewesen wäre, sicherte sich die Kohl-Regierung ihre Wiederwahl. Zum anderen
sind in den Neunzigerjahren die letzten generellen Stellgrößen einer nationalen
Wirtschaftspolitik entfallen – als Folge der restlichen Öffnung der
EU-Binnenmärkte und der Schaffung einer Gemeinschaftswährung. Von all den Indikatoren
der Auflösung der nationalen Volkswirtschaft in die durch Bits und Bytes integrierte
Weltwirtschaft erlangte nur die Einführung des Euro nennenswerte Aufmerksamkeit.
Die Parteieliten unterstellten trotz aller Integrations- und Globalisierungsrhetorik,
dass das Modell Deutschland auch unter den drastisch veränderten Bedingungen
ein Aktivposten des Landes bleiben würde, statt sich als Handikap herauszustellen.
Tatsächlich wäre in den Neunzigerjahren ein kompletter
Weltbildwechsel angebracht gewesen. Weil Ländergrenzen ihre Funktion als
Schutzwall des nationalen Wirtschaftsraums verloren haben (was nicht nur die
EU-Länder, sondern faktisch alle am Welthandel beteiligten Volkswirtschaften
betrifft), ist es zu einer signifikanten Umgewichtung der Optionen von
Konsumenten und Produzenten gekommen. So entfällt die konsumtive Verwendung des
Volkseinkommens zu einem erheblichen Teil auf importierte Güter, ohne dass
Regierungen noch die Möglichkeit haben, einheimische Produzenten nach Maßgabe
ihrer wirtschafts- oder sozialpolitischen Ziele zu privilegieren. Folglich
haben auf die Binnennachfrage zielende Politiken ihre Wirksamkeit verloren. Sie
machen nur noch dort Sinn, wo der Anteil des Außenhandels am Sozialprodukt
relativ gering ist (wie etwa in den USA und China).
Man muss den Wandel der Realitäten schon sehr entschieden
ignorieren, um weiterhin einer Rückkehr zur Nachfragepolitik das Wort zu reden,
wie es deutsche Gewerkschaften und der ehemalige SPD-Vorsitzende Lafontaine
tun. Vielleicht ist es auch nur naive Freude an dem Explosionsszenario, was die
Befürworter des Irrealen motiviert: Würden die Reallöhne ordentlich erhöht, so
stiegen automatisch auch die Umsätze und Gewinne der deutschen Unternehmen, so
dass der Staat mehr Steuern zur Finanzierung von Staatsaufgaben einnehmen und
die Gewerkschaften wiederum höhere Löhne durchsetzen könnten. Diese würden, so
ist unterstellt, auch in der nächsten und allen folgenden Runden zu steigenden
Umsätzen, Gewinnen und Steuereinnahmen führen. Folglich erlebte die
Volkswirtschaft ein immer rasanteres Win-win-Spiel, bei dem es keinen Verlierer
gibt. Kritische Gemüter mögen dann zwar den gesteigerten Flächen- und
Naturverbrauch beklagen, doch selbst die unangenehmen Nebenfolgen hätten etwas
Gutes: Sie verschafften den Grünen eine lohnende Daueraufgabe.
Dass die »Massenkaufkrafttheorie« immer noch Anhänger
findet, ist ihrer interessenpolitischen Schlagseite zuzuschreiben, die da
heißt: Erst einmal Löhne und Staatsausgaben steigern, das Weitere wird sich
schon finden. Die »Theorie« taugt als Wahlkampfparole, da sie vielen Wählern
eine kurzfristige Einkommensverbesserung verspricht. Im praktischen
Anwendungsfall würde sie zur Ursache eines schwungvollen »political business
cycle«. Dass sie in einer offenen Wirtschaft an groben Unfug grenzt, belegen
die Erfahrungen mit der deutschen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Im
Juli 1990 empfing die DDR-Bevölkerung bekanntlich das ihr Konsuminteresse
honorierende Geschenkpaket eines enormen Kaufkraftgewinns. Es bestand nicht nur
aus der Aufwertung der Währung um bis zu 400 Prozent, sondern enthielt auch die
Umstellung der Erwerbs- und Sozialeinkommen im Verhältnis von 1 zu 1 sowie das
Versprechen, die Einkommen so bald wie möglich dem westdeutschen Niveau
anzugleichen.
Wenn es je einen repräsentativen Test auf die Tauglichkeit
der »Kaufkrafttheorie« für offene Wirtschaftsräume gab, dann ist es dieser
»Sieg« der politischen über die wirtschaftliche Vernunft. Selbst zwölf Jahre
»danach« hat die Wirtschaftsleistung der neuen Länder noch nicht mit dem Niveau
der gesponserten Kaufkraft gleichgezogen. Vielmehr sank die Wachstumsrate in
den nachfragepolitischen Musterländern unter jene der Länder, aus deren
Wirtschaftsleistung die Subventionen finanziert werden. Warum das so kam, wird
auf die Überlegenheit der westdeutschen Anbieter zurückgeführt. Das ist wohl
wahr. Tatsächlich richtet sich ein erheblicher Teil der Nachfrage im Osten wie
im Westen auf externe Angebote. Denn diese gehören zu den quantitativen und
qualitativen Garanten des weltmarktvermittelten Wohlstands. Der Nachfrage-,
sprich: Arbeitsplatzeffekt des Konsums ist also international breit verteilt.
Aber die Kosten, sprich: Nachteile nationaler Konsumförderungsprogramme fallen
national konzentriert an. Das geht nur gut, wenn ein ähnlich großer Teil der
einheimischen Produktion ins Ausland geht. Das dafür notwendige Niveau an
internationaler Wettbewerbsfähigkeit entsteht aber gerade nicht als Ergebnis
von Nachfrageförderung, sondern kann nur aus effizienten Produktions- und
entsprechend günstigen Angebotsbedingungen resultieren. Genau diese wurden in
den neuen Ländern dem Postulat der Nachfragepolitik geopfert.
Ein paar Jahre lang wurden diese Zusammenhänge unter dem
Stichwort Standortwettbewerb diskutiert. Nicht wenigen erschien die Konsequenz,
das Augenmerk von der Nachfrageseite auf die Ansiedlungs- und Investitionsneigungen
des Kapitals zu verlegen, als Ausdruck partikulärer Interessenpolitik. Diese
mögen manche Befürworter der Angebotspolitik auch im Sinn gehabt haben. Hätte
aber nicht auch jedes rationale Bemühen, die Wirtschaft unter Bedingungen
offener Märkte anzukurbeln und die Wähler mit positiven Wachstumsraten zu
beeindrucken, dieselbe Richtung nehmen müssen?
Wenn die Steigerung der konsumierbaren Einkommen nur sehr
gedämpften Widerhall in der Binnennachfrage findet, gibt es einen zwingenden
Grund, die Perspektive von der Konsumtion auf die Produktion, von der
Einkommensverteilung zur Einkommensentstehung, von der Nachfrageseite der
Gütermärkte zur Angebotsseite zu lenken. Denn nicht mehr dort, wo konsumiert
wird, sondern nur dort, wo investiert und produziert wird, entstehen Einkommen
und Arbeitsplätze. Folglich gibt es keine Alternative zu kluger
Angebotspolitik, wenn es gilt, die positiven Externalitäten des privaten
Wirtschaftens in einem bestimmten Sozialraum, also Orten und Regionen, wirksam
werden zu lassen. Das ist die unvermeidliche Konsequenz der transnationalen
Wirtschaftsintegration. Gewiss sind die Unternehmen die primären Nutznießer der
angebotspolitischen Wende. Doch wäre es absurd, deswegen die positiven Sekundäreffekte
auf Beschäftigung und Einkommen gering zu achten. Die »Alternative« der
kreditfinanzierten Nachfrageförderung ist keinen Deut praktikabler als die ehrenhaft-unsinnige
Absicht, allen Bürgern ein überdurchschnittliches Einkommen zu verschaffen.
3. Modell Deutschland – die
Konjunktur eines Systemfehlers
Die Neigung, wirtschaftspolitische Realitäten zu verkennen,
war nicht erst in den 1990er-Jahren entstanden. Sie datiert fast so weit zurück
wie die Rede vom Modell Deutschland (im Folgenden: Modell D). Modell D – das
meinte nichts Geringeres als die Überlegenheit der deutschen Wirtschafts- und
Sozialordnung im internationalen Vergleich. Das gefühlte »Systemglück« hatte
bis zur ersten Ölpreiskrise 1973 eine halbwegs reale Basis. Damals erschien das
Bild einer besonders vorteilhaften Wirtschaftsverfassung noch als bruchlos: Die
»soziale Marktwirtschaft« mit wieder erstarkten Großunternehmen und eine harte,
unterbewertete Währung gewährleisten einen stetig steigenden Volkswohlstand.
Dem Wettbewerb waren straffe Zügel angelegt und dem Kapital die Gegenmacht der
Gewerkschaften gegenüberstellt, die wiederum durch korporatistische
Verhandlungssysteme gezähmt und als Träger einer effizienzsteigernden
Hochlohnpolitik akzeptiert waren. Der wohl organisierte (»rheinische«), das
heißt vertrags- statt konkurrenzbasierte Kapitalismus half nicht nur, das Elend
der Nachkriegszeit rasch zu vergessen und Deutschland zu einer der stärksten
Exportnationen zu machen, sondern auch, die Nationalidentität von tradierten
Chauvinismen zu lösen und an rein ökonomische Erfolgsindikatoren, etwa die
»Härte« der DM, zu binden.
Die institutionelle Basis des Modells D war ein teils
gesetzlich fixiertes, teils als informelle Verfassungswirklichkeit verstandenes
Regelwerk. Es handelt sich dabei um (erstens) das System der industriellen
Beziehungen mit dem tarifvertraglichen Verhandlungssystem, betrieblichen
Interessenvertretungen und differenzierten Formen gewerkschaftlicher
Mitbestimmung in Aufsichtsräten, der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen
und weiteren gesellschaftlichen Repräsentationsforen; (zweitens) die durch
Lohnabzüge finanzierten Sozialversicherungen mit beitragsabhängigen Ansprüchen
und bescheidenen Solidareffekten; (drittens) das von Wirtschaftsverbänden und
Gewerkschaften verwaltete duale System der Berufsbildung und schließlich
(viertens) die Delegation eines Teils des gesellschaftlichen Regelungsbedarfs
an korporatistische Steuerungsgremien der organisierten Interessenten.
Der nüchterne Blick auf dieses Geflecht von staatlichen und
gesellschaftlichen Institutionen findet schwerlich einen Beleg für die Ansicht,
hier hätten geniale Institutionenplaner die Grundlagen für immerwährenden
Wohlstand, soziale Harmonie und kompetitive Exzellenz geschaffen. Das
Wirtschafts- und Sozialsystem, das maximal ein Vierteljahrhundert florierte,
ist vielmehr eine emergente Mischung aus zwei gegensätzlichen Prinzipien: zum
einen der im Kaiserreich und seiner merkantilistischen Vorgeschichte
entstandenen Tradition des staatsinduzierten, -privilegierten und -regulierten
Großunternehmertums mit einer vom Marktmodell abweichenden Form der
Unternehmenssteuerung (»corporate governance«). Bankenkredite und
-beteiligungen sowie komplexe Kapitalverflechtungen machten die Unternehmensführungen
weitgehend unabhängig vom Kapitalmarkt und dem an kurzfristiger Rendite
interessierten Aktionärspublikum. Diesem Muster der korporativen
Zentralisierung folgte nach dem Zweiten Weltkrieg auch der Wiederaufbau der Wirtschaftsverbände
und Gewerkschaften.
Zum Zweiten profitierte Nachkriegsdeutschland von Elementen
der angelsächsischen Wettbewerbswirtschaft, die dem Lande von den Siegermächten
aufgenötigt worden waren: eine liberale, rechtsstaatlich fixierte
Wirtschaftsverfassung; die unabhängige, auf die Wahrung des Geldwerts
festgelegte Zentralbank und schließlich die ausgeprägte Zurückhaltung des
Staates gegenüber keynesianischen Wachstumskonzepten. Insofern ist das Modell D
alles andere als konzeptuell homogen.(3) In vielen politischen Konflikten
machen sich die gegensätzlichen Leitprinzipien bemerkbar: die Position des dem
Marktwettbewerb verpflichteten, aber institutionell flankierten Ordoliberalismus
und die Position des auf staatlicher Interventionsbereitschaft beruhenden
»managed capitalism«. Letzterer reicht von staatlich regulierten Ladenöffnungszeiten
über wettbewerbsschädliche Fusionsgenehmigungen bis zu wahltaktischen Überlebenshilfen
für insolvente Bau- und Mobilfunkunternehmen.
Die Leitidee des organisierten (»managed«) Kapitalismus
hatte ihren Popularitätsgipfel zur Hochzeit der »fordistischen«
Massenproduktion. Dennoch ist es falsch, sie als Ursache des deutschen
Wirtschaftswunders zu betrachten. Das verdankt sich vielmehr dem
Zusammentreffen einer vorteilhaften Währungsrelation mit einer anhaltend hohen
Auslandsnachfrage und der vom Wiederaufbau angetriebenen Binnenkonjunktur.
Damals musste das knappe Arbeitsangebot sogar durch Arbeitsimmigranten
aufgebessert werden. Und die Knappheit an Arbeitskraft mündete in die – vom Kapital
als Rationalisierungspeitsche geschätzte – Hochlohnpolitik der Gewerkschaften.
Indem das Lohnniveau der konfliktstarken Facharbeiterschaft zum Anspruchsniveau
aller Beschäftigtengruppen (auch des öffentlichen Dienstes) wurde, blieb die
Spannweite der Löhne relativ gering.
Schon Ende der 1970er-Jahre, als sich Arbeitslosenzahlen in
Millionenhöhe abzeichneten, wurde erkennbar, dass das Modell D nicht
ausschließlich positive Effekte hat. Das Tarifvertragssystem war unfähig, dem
Ziel der Beschäftigungsausweitung Priorität zu geben. Eine Konsequenz ist die
bis heute ausgesprochen niedrige Beschäftigungsquote. Sie beträgt in
Deutschlands rund 60 Prozent, während in den skandinavischen Ländern und den
USA um oder über 70 Prozent der erwerbsfähigen Erwachsenen Arbeitseinkommen
beziehen. Daran vermochten weder Phasen bewusster Lohnzurückhaltung etwas zu
ändern noch die Verringerung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden und weniger.
Vielmehr kam es zur Plünderung der Sozialkassen durch die Tarifpartner, die
sich in den Achtziger- und Neunzigerjahren auf drittfinanzierte
Frühverrentungsprogramme einigten. Diese symbolisieren den strukturellen Bias
des Produktions- und Beschäftigungssystems: Es zieht in den traditionellen
Wirtschaftssektoren eine fast unüberwindliche Trennlinie zwischen Insidern und
Outsidern, während die Entwicklung der Arbeitsnachfrage in neuen
(Dienstleistungs-)Sektoren durch die Fixierung der industriellen Lohnstruktur
und die geringe Lohnspreizung behindert ist.(4)
Während der seit nunmehr dreißig Jahren bestehenden
Massenarbeitslosigkeit(5) wurden auch die Schwächen des Sozialstaatsmodells
sichtbar: auf der einen Seite die Exklusion großer Bevölkerungsgruppen und
insbesondere vieler Frauen, die keinen Zugang zu versicherungspflichtiger
Erwerbsarbeit finden und deshalb keinen ausreichenden Rentenanspruch erwerben;
auf der anderen Seite die enormen Kosten der von Staat, Arbeitgebern und
Gewerkschaften betriebenen Kompensationspolitik in Gestalt von Frühverrentungs-
und Arbeitsförderungsprogrammen. Da die Hochlohnpolitik bei rückläufigen
Wachstumsraten fortgeführt wurde, trug der Anreiz zur Ersetzung von
Arbeitskraft durch Maschinenintelligenz weiter Früchte. Und weil die wachsende
Reservearmee der Arbeitslosen durch Lohnabzüge bei den Beschäftigten finanziert
wurde, mussten sich die Kosten menschlicher Arbeit weiter erhöhen. Die
kumulierten Folgen bedingen das Elend des korporativen Sozialstaats: eine
Lohnkosten-Arbeitslosigkeits-Einnahmendefizit-Spirale.
Eine Zeit lang schien es, als besäße das Modell D im
Bildungssystem einen Mechanismus, der die sozialen Nachteile hoher Lohnkosten
neutralisieren würde. Doch das ist nicht (mehr) der Fall. Das Schulsystem, die
duale Berufsausbildung und das Hochschulwesen produzieren neben qualifiziertem
Nachwuchs auch eine beträchtliche Zahl von Drop-outs, von denen viele ins Lager
der Langzeitarbeitslosen abgedrängt werden.(6) Die Schwächen des deutschen Schulsystems
sind heute dank der OECD-Studie (PISA) weitgehend bekannt. Allerdings scheuen
sich die Bildungspolitiker, offen von der Wurzel der meisten Übel zu sprechen,
die nicht in heterogenen Klassenstrukturen oder den unterschiedlichen
Schulsystemen der Länder liegt, sondern in der Pseudowissenschaftlichkeit
veralteter Lehrerstudiengänge, im unzulänglichen Professionsverständnis der
Lehrerschaft und dem Wirklichkeitsverlust der Bildungsbürokratie. Letztere
zögert noch immer, den Schulleitungen die notwendige Autonomie bei der
Realisierung der Bildungsziele zu gewähren.(7) Bislang vermochte die
Bildungspolitik mit ihrem Fokus auf Kapazitäts- und Stellenpläne der Qualitätsfrage
auszuweichen. Während die Schülerschicksale in Durchschnittsdaten aufgehen,
sorgt sie sich vorrangig um das Wohl der Beschäftigten, nämlich der in den Parteien
überrepräsentierten Lehrerschaft. Jede Steigerung der Bildungsausgaben lief auf
höhere Ausgaben für Personal hinaus, nur der geringste Teil diente der Verbesserung
von Lernmilieus und -medien.(8)
Die viel gelobte Berufsbildung steht nicht besser da. So
spiegeln die meisten der 344 anerkannten Lehrberufe nur noch die Technik- und
Branchenstruktur der Vergangenheit wider. Rund zwei Drittel aller
Auszubildenden entfallen auf die schrumpfenden Branchen des herstellenden
Gewerbes und des Handwerks. Den wachsenden Bedarf an breiten
Basisqualifikationen und Kompetenzen im Umgang mit Informationstechnologien
haben die Berufsverwalter der Kammern und Traditionsverbände glatt verschlafen.
Selbst Ostdeutschlands Defizit an innovativen und zukunftstauglichen
Unternehmen konnte sie nicht veranlassen, mehr Flexibilität zu erlauben und das
antiquierte Meisterprivileg zu opfern.
Nun ist auch noch der Glanz des deutschen
Universitätssystems verblasst, das unter dem Ruf der Mittelmäßigkeit leidet und
zu wenig Absolventen mit international kompetitiven Qualifikationen produziert.
Angesichts des raschen Tempos der Wissenschafts- und Technologieentwicklung und
des unterschiedlichen Engagements der Disziplinen in Frontforschung und
Nachwuchsförderung sind bundeseinheitliche Struktur- und Verwaltungsstandards
ebenso überholt wie die Dienstherrenschaft von Landesministern. Es ist höchste
Zeit, den Hochschulen volle Budget- und Personalverantwortung zu übertragen und
sie in den Wettbewerb um Studierende und Nachwuchstalente zu entlassen – und
zwar gerade dann, wenn man die Studierenden weiterhin vor kostendeckenden Studiengebühren
bewahren will. Weiterzumachen wie bisher, wie es die Vertreter der
universitären Statusgruppen fordern, heißt im Klartext, die Unis nurmehr als
staatsgeschützte Spielwiese für Erwachsene zu betrachten.
Natürlich ist das Modell D nicht von einem Tag auf den
anderen dysfunktional geworden. Während einzelne Elemente in einem
schleichenden Prozess an Funktionsfähigkeit einbüßten und Wandlungsresistenz
entwickelten, wurden wenige andere zum Objekt isolierter Reformen. Am weitesten
fortgeschritten scheint der Veränderungsprozess bei der Unternehmenssteuerung.
Die auf Stabilität, Vertragsnetzwerke und Wettbewerbsverzicht gegründete
»rheinische« Variante der corporate governance ist dem rapiden Wandel
von Technologien und Wissensbeständen zum Opfer gefallen. Gleichzeitig haben
kompetitive Weltmärkte und die beeindruckende Modernisierungswelle in den
Industrieländern Asiens mit den ökonomischen Vorzügen der deutschen
Wirtschafts- und Sozialordnung aufgeräumt. Im technologischen Wandel ging auch
der spezifische Vorteil der großbetrieblichen Unternehmensnetzwerke mit ihrem
bankengestützten Finanzierungsmodus verloren. Kleine und mittelgroße Unternehmen
zeigten sich in der Entwicklung und Anwendung neuer Technologien oft als
kreativer denn viele Konzerne. Dem trug die Wirtschaftspolitik mit ihrem
traditionellen Großbetriebsbias nur unzureichend Rechnung. Selbst als die
ostdeutsche Großbetriebsstruktur komplett kollabierte, schreckte man vor
durchgreifenden Erleichterungen für die Gründung, Finanzierung und Besteuerung
von neuen Unternehmen zurück.(9) Kein noch so umfangreicher Katalog von
Investitionsprämien und Kreditprogrammen vermag den Mangel an einem gründer-
und innovationsfreundlichen Umfeld zu kompensieren.
Die letzte Bundesregierung konnte zwar in Erfüllung von
EU-Richtlinien mit einigen Auswüchsen des wettbewerbsfeindlichen Systems
aufräumen. Doch vom Prinzip der korporatistischen Interessenvermittlung mochte
sie sich nicht verabschieden. Man respektierte die Tabuisierung der Lohnpolitik
im »Bündnis für Arbeit« und bewahrte die Gewerkschaften vor der Erkenntnis,
dass betriebliche Tarifpolitik in Zukunft eher die Regel als eine Ausnahme vom
Prinzip der verbandlichen Tarifautonomie sein wird. Und gänzlich illusionär
wurde die Hoffnung, anderen Ländern die Vorzüge von Wettbewerb und
Dezentralität ausreden und ihnen stattdessen das Modell D aufschwatzen zu
können. Heute besteht innerhalb der politischen Eliten praktisch keine
Differenz mehr über Richtung und Tiefe der notwendigen Strukturreformen. Meinungsverschiedenheiten
betreffen nurmehr Fragen der Durchführbarkeit, das heißt der Konsensbeschaffung.
4. Einflussreiche
Partikularisten – Gewerkschaften heute
Kaum zu glauben, aber wahr: In den ersten Jahrzehnten der
Bundesrepublik, als das »Wirtschaftswunder« noch seinem Höhepunkt zustrebte,
verfochten die Gewerkschaften das Ziel einer sozialistischen Staatswirtschaft.
Erst in den Krisen der 1970er-Jahre, die im Rückblick geradezu harmlos wirken,
begannen sie, ihren Frieden mit Marktwirtschaft und Privatunternehmertum zu
machen. Es bedurfte der Erfahrung von Stagnation und Rezession, um das
Austauschverhältnis zwischen Arbeit und Kapital als Nichtnullsummenspiel zu
begreifen und eine gewisse Mitverantwortung für die Entwicklung der
Volkswirtschaft anzuerkennen.
Mit dem Ausbau der Sozialversicherungen zu tragenden Säulen
des Wohlfahrtsstaates war auch die Festschreibung eines umfangreichen
»außertariflichen« Aufgabenpakets der Gewerkschaften einhergegangen. Mit
öffentlich-rechtlichen Befugnissen ausgestattet, die sie in Arbeitsgerichten
und Schlichtungsausschüssen, den Vorständen der Arbeitsämter und
Sozialversicherungsträger, in Rundfunkräten sowie zahlreichen Gremien der
Ministerien wahrnehmen, waren sie aktive Teilnehmer an der staatlichen Sozial-,
Arbeits- und Kulturpolitik geworden. Auch wirkten sie maßgeblich an der
sozialverträglichen Gestaltung des Strukturwandels mit, etwa in regionalen
Entwicklungsgremien des Ruhrgebiets und der neuen Bundesländer. Die Verringerung
der Wochenarbeitszeit, der weitgehende Kündigungsschutz, tarifvertragliche
Verdienst- und Qualifikationssicherungen, aber auch die relativ hohen Lohnersatzleistungen
des Sozialstaats, erinnern an eine ungewöhnlich erfolgreiche Ära der gewerkschaftlichen
Vertretung von Beschäftigteninteressen.
Gleichwohl blieb das Verhältnis der Gewerkschaften zum
sozioökonomischen Wandel widersprüchlich und konfliktbelastet. Seit Ende der
1970er-Jahre sehen sich die Gewerkschaften fast nur noch in der
Defensivposition. Erfolglos setzten sie auf staatliche Maßnahmen zur
Wiederherstellung der Vollbeschäftigung, während sie sich auf die Vertretung
der Lohn- und Statusinteressen der Beschäftigten konzentrierten. Dank der
Segmentierung des Arbeitsmarktes war die Tarifpolitik nicht ernsthaft durch die
zunehmende Arbeitslosigkeit belastet. So verfestigte sich ein gewerkschaftliches
Politikverständnis, demzufolge man selbst für die Steigerung der Reallöhne und
die Erhaltung der in der Boomzeit entstandenen Lohnstruktur zuständig sei,
während der Staat die steigende Zahl von Arbeitslosen mit Sozialeinkommen und
Arbeitsförderungsprogrammen zu versorgen habe. Den Dritten im Bunde, den
Unternehmen, war stillschweigend zugestanden, auf steigende Lohnkosten mit Automatisierung
und Produktionsverlagerung zu reagieren. Die gewerkschaftliche Mitverantwortung
für die Arbeitsmarktmisere ließ sich mit rhetorischen Kraftakten zum 1. Mai
kaschieren, deren Wahrheitsgehalt niemand bestreitet: Staat und Wirtschaft tun
einfach nicht genug zur »Bekämpfung« der Arbeitslosigkeit.
Nach dreißig Jahren Massenarbeitslosigkeit ist nicht zu
übersehen, dass die Gewerkschaften nicht so sehr Opfer, wie sie selbst
behaupten, sondern Mitverursacher der gravierenden Schieflage des Arbeitsmarkts
sind. Ihr kämpferischer Einsatz für Beschäftigungsprogramme, gegen die Kürzung
der Ansprüche auf Arbeitslosengeld und -hilfe sowie gegen befristete
Arbeitsverträge, die Lockerung des Kündigungsschutzes und den Niedriglohnsektor
ist am allerwenigsten von Sorge um die Ausgegrenzten und Zukurzgekommenen
getragen. Er ist in erster Linie Ausdruck des Selbstinteresses der
Gewerkschaften in Zeiten nachlassender Beitritts- und Beitragsbereitschaft. Man
drängt auf möglichst hohe Lohnersatzeinkommen, weil anderenfalls die etablierte
Lohnstruktur und das Lohnniveau auf die Diskrepanz zwischen Arbeitsangebot und
-nachfrage reagieren müssten. Das würde zwar Unternehmensgründern helfen, ihre
Ideen mit geringerem Risiko zu testen, und dazu führen, dass weniger Menschen
sich nutzlos und ausgegrenzt fühlen, aber den Gewerkschaften einen hohen Preis
abverlangen: die Abwanderung der Tarifpolitik aus den Gewerkschaftszentralen
auf die Betriebsebene. Letzten Endes verlören auch die Vorsitzenden ihren
privilegierten Status als außerparlamentarische Politiker.
Weil die Gewerkschaften auf diese Situation und eine
entsprechende Reform ihres Funktionsspektrums nicht vorbereitet sind,
verteidigen sie den Fortbestand der zu Boomzeiten für geschlossene Märkte
entwickelten Tarifpolitik. Doch diese ist strukturell »unpassend«, wenn
Unternehmen derselben Branche nicht mehr wie früher mit einheitlichen
Wettbewerbsbedingungen zu tun haben. Heute mag die eine Firma dem harten
Preiswettbewerb globaler Anbieter ausgesetzt sein und unter enormem Kostendruck
stehen, während eine andere des selben Industriezweigs im Innovationswettbewerb
vorne liegt und ihre Mitarbeiter durch hohe (so genannte Effizienz-)Löhne zu
motivieren versucht. Verbindliche überbetriebliche Normen machen unter diesen
Bedingungen nur noch für die Regelung von Mindestbedingungen Sinn.
Den Gewerkschaften geht nicht nur ihre privilegierte
Position als Regulator der Arbeitsbeziehungen verloren, sondern auch ihre
Reputation als Vertreter einer emanzipatorischen Gesellschaftspolitik. Wie
wenig sensibel die Mixtur aus organisatorischen Eigeninteressen und politischer
Ambition auf veränderte Problemlagen und gesellschaftliche Entwicklungen
reagiert, zeigt sich regelmäßig beim Aufkommen neuer Themen. Als die einstmals
»neuen« Themen Umwelt, Kernenergie, Frauen, Ausländer, Minderheitenschutz und
so weiter aufkamen, war die erste Reaktion der Gewerkschaften ausgesprochen
negativ. Erst nach einer mehrjährigen Phase der Abwehr und Problemverleugnung
gelangte die neue Sicht über basisnahe Aktivisten in den »Apparat«. Dieser
münzte sie schließlich in doktrinäre Forderungen an Dritte um und bemühte sich,
ein Abfärben auf das eigene Organisationsverständnis zu verhindern.
So repräsentieren die Gewerkschaften mit ihrer entschiedenen
Ablehnung der Reformagenda 2010 weder den »Zeitgeist« noch die Mehrheit der
abhängig Erwerbstätigen. Sind doch ihre Mitglieder zum überwiegenden Teil in
traditionellen oder staatlich geschützten, auf jeden Fall quantitativ an
Bedeutung verlierenden Bereichen beschäftigt. Arbeitnehmer in technologisch
modernen und dem internationalen Wettbewerb ausgesetzten Branchen finden nur
noch selten zur Gewerkschaft. Und für den kampfstarken Kern der Mitgliedschaft,
die relativ gut verdienenden Facharbeiter, ist die Organisation längst nicht
mehr der bevorzugte Weltbildlieferant. Man schätzt sie als Lohnmaschine, aber
pfeift auf ihr Deutungsangebot. Das gilt auch für die über 6 Millionen
registrierten oder der »stillen Reserve« zugerechneten Erwerbslosen, die immer
öfter als »Preis« der Tarifautonomie identifiziert werden. Das von führenden
Gewerkschaftern demonstrierte Problem- und Selbstverständnis, aus dem heraus
regelmäßig Konjunkturprogramme gegen die längst strukturell gewordene Arbeitslosigkeit
empfohlen werden, hat somit nur eine minoritäre Basis in der Gesellschaft.
Der kritische Blick auf die Rolle der Gewerkschaften in
Politik und Gesellschaft(10) gibt keine Veranlassung, ihre Existenzberechtigung
als Interessenvertretung von Arbeitnehmern in Frage zu stellen. Er begründet
jedoch den systematischen Zweifel an ihrer Fähigkeit, die sozioökonomische
Wirklichkeit zutreffend wahrzunehmen und problemadäquat mitzugestalten. Dem
steht die den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts verhaftete
Organisationsidentität entgegen, wie sie sich im Rhythmus der immer gleichen
Forderungen – nach staatlichen Mehrausgaben, Beschäftigungsprogrammen und
höheren Unternehmenssteuern – ausdrückt. Was dem Kollektivakteur vor allem
mangelt, ist die Fähigkeit, Kosten und Nutzen alternativer Strategien auch in
einem längeren Zeithorizont zu kalkulieren. Heute etwas vom Status quo
zu opfern, um morgen mehr Sicherheit oder Einkommen zu genießen, ist der von keinerlei
Klassenbewusstsein motivierten Mitgliedschaft schwer zu vermitteln. Niemand
möchte als Gegenleistung für den monatlichen Mitgliedsbeitrag einen Status quo
minus bekommen.
Gleichwohl muss sich eine den Realitäten angepasste
Reformpolitik um ein nüchternes Verhältnis zu den Gewerkschaften bemühen. Es
geht nicht darum, ihren Handlungsrahmen nach dem Vorbild von Margaret Thatcher
zu beschneiden, sondern sich dem Ansinnen zu widersetzen, die Politik müsse den
engen Wahrnehmungs- und Handlungshorizont der Gewerkschaften teilen. Da deren
Problemverständnis nicht die ganze Gesellschaft zu fassen vermag, können
Gewerkschaftsforderungen auch nicht den Status politischer Konzepte
beanspruchen. Ihr populistisches Flair verleiht ihnen sogar einen tendenziell
antidemokratischen Charakter, an den die Organisationsführung gelegentlich
anknüpft. So etwa, wenn die IG-Metall der demokratisch gewählten Regierung
androht, die Vermögenssteuer notfalls auf eigene Faust »durchzusetzen«. Oder
wenn der DGB-Vorsitzende verkündet, die Behandlung von Reformplänen im
Bundestag statt im Bündnis für Arbeit sei ein »undemokratischer« Akt.
Letzten Endes ist es eine Folge gewerkschaftlicher Simplifizierungs-
und Blockadepolitik, dass die heute notwendigen Reformen schmerzhafter
ausfallen müssen als das, was man einst von einer Mitte-rechts-Regierung
befürchtete. Weil man sich dagegen erfolgreich zu wehren wusste, hat sich der
Handlungsspielraum für moderate und »sozial ausgewogene« Eingriffe verringert.
Dank des funktionierenden Sozialstaats hätte man sich in den 1980er- und
90er-Jahren eine weitgehende Flexibilisierung des Arbeitsmarktes mit der
Konsequenz geringerer Arbeitslosigkeit und Budgetdefizite leisten können. So
hätte sich in der Vergangenheit auch der Spielraum für unternehmerische
Initiativen sozialverträglich ausweiten lassen. Flexibilität beim Einsatz von
Arbeitskraft und soziale Sicherheit außerhalb des Beschäftigungsverhältnisses
standen nicht immer gegeneinander. Doch schon das »Flexicurity«-Konzept der
ersten rot-grünen Regierung kam um ein Jahrzehnt zu spät.
Nüchtern betrachtet, besteht die Chance auf eine
grundlegende Besserung der Situation nur noch dann, wenn die Regierung die Strukturreformen
des Sozialstaats und des Bildungssystems zusammen mit einer signifikanten
Ausweitung unternehmerischer Freiheits- und Flexibilitätsspielräume realisieren
würde. Davon ist die »Agenda 2010« weit entfernt. Das überwiegend auf
Symptombekämpfung abgestellte Konzept, die erwartbaren Abstriche im
Gesetzgebungsprozess und die allfälligen Umsetzungshindernisse lassen nur
Problemlinderung und damit eine weitere Runde in der Zeitschleife der deutschen
Reformpolitik erwarten. Auch scheint die Diagnosefähigkeit großer Teile der
Sozialdemokratie nicht besser entwickelt zu sein als die der Gewerkschaften. So
nachvollziehbar und sympathisch manches Argument gegen diesen oder jenen
Einzelaspekt der Strukturreformen auch sein mag, die Reformkoalition muss sich
dazu durchringen, ihre Opponenten als das zu charakterisieren, was sie sind:
Vertreter partikulärer Interessen ohne Weitblick und ohne Willen und Fähigkeit,
die soziale Verantwortung für die Folgen ihres Handels zu übernehmen. Damit
sind wir bei der Frage nach den Erfolgsaussichten der rot-grünen Reformkoalition.
5. Die SPD nach der Wahl –
kraftlos im Dilemma
Trotz glaubwürdiger Antikriegshaltung und dem unverhofften
Bonus als Flutfolgenmanager fiel das Wahlergebnis der SPD denkbar knapp aus.
Die erste rot-grüne Bundesregierung hatte sich keinen ausreichenden Kredit für
eine zweite Runde besorgt. Sieht man von den Projekten mit grüner Handschrift
ab, der Reform des Staatsbürgerschafts- und Zuwanderungsrechts, dem
Atomausstieg und einigen ökologisch inspirierten Interventionen, so hat die
Regierung ihren hoch angesetzten Modernisierungsanspruch nicht hinreichend
eingelöst. Im Problemfeld Nummer 1, der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und
Sozialpolitik, hatten Kanzler und Kabinett drei Jahre lang die Vogel Strauß-Option
verfolgt und auf Gevatter Zufall gesetzt: eine wenig wahrscheinliche Belebung
der Weltkonjunktur.
Wäre der Statistikbetrug der Bundesanstalt für Arbeit
unentdeckt geblieben, hätte es keine Umstrukturierung der Anstalt und keine
Hartz-Kommission gegeben. Dass erst Hartz für eine erweiterte Perspektive auf
die Arbeitsmarktmisere sorgte und damit einer Rürup-Kommission das Feld
bereitete, macht den dilatorischen Charakter der Regierungsarbeit unübersehbar.
Bis Anfang 2002 war man weder willens noch fähig, der Bevölkerung die Situation
des Landes begreiflich zu machen. Darunter leidet nun die Reputation des
Kanzlers wie die Legitimität der Agenda 2010. Die Begründung ihrer
Notwendigkeit ist nicht ohne Selbstkritik zu haben: Man hatte weder die vorangegangene
Legislaturperiode ausreichend genutzt noch den Wählern reinen Wein
eingeschenkt. Da auch von einer vollständigen Umsetzung der Agenda 2010 keine
Wunder zu erhoffen sind, muss man sich fragen, wie die rot-grüne Regierung auf
eine zweite Wiederwahl hinarbeiten will.
Die Schröder-SPD hat vermutlich nur zwei Optionen.
Optimisten mögen auf weiter fallende Ölpreise und einen breiten
Konjunkturaufschwung hoffen, der es erlaubt, auf die sonst notwendige
Fortsetzung des »unsozialen« Reformkurses zu verzichten. Die Pessimisten setzen
vermutlich auf weitere Wahlerfolge des Mitte-rechts-Lagers und den Übergang der
Reformverantwortung auf den Bundesrat, also die CDU/CSU-geführten
Landesregierungen. Dann könnte die Bundesregierung die Moderatorenrolle
übernehmen und ihre Wähler vor dieser oder jener »rechten Gemeinheit« bewahren.
Wiederum blieben etliche unverzichtbare Strukturreformen auf der Strecke, aber
es bestünde eine gewisse Wiederwahlchance: Man würde an die staatsabhängigen
Teile der Wählerschaft appellieren und sich für die Nutzung eines hinreichend
unglücklichen Naturereignisses bereithalten. Die Haarnadelkurve auf der
Zeitschleife wäre zu schaffen.
Weitere Skepsis an der Reformkompetenz der Sozialdemokratie
stellt sich ein, wenn man den Wandel der Wählerbasis von Rot-Grün zwischen 1998
und 2002 betrachtet. Die Bundestagswahl 1998 wurde vor allem durch Gewinne der
SPD in Westdeutschland (+ 4,8 Prozentpunkte; im Osten + 3,6 Prozentpunkte)
entschieden. Für den Regierungswechsel sorgten Wähler, die von CDU/CSU und FDP
enttäuscht waren. Ein Gutteil von ihnen hatte auf die von der SPD versprochene
Modernisierung gesetzt, zumal man damals ausdrücklich eine »Neue Mitte«
adressierte. Die zweite rot-grüne Bundesregierung weist eine erheblich
veränderte Wählerbasis auf. Ihre Wiederwahl war nicht mehr von Reformhoffnungen,
sondern im Gegenteil von Reformängsten getragen. Wieder konnte die SPD Gewinne
verbuchen. Doch diese stammen allein aus Ostdeutschland (+ 4,7 Prozentpunkte),
während man im Westen glatt 4 Prozentpunkte verlor. Die Grünen blieben von
diesem Umschwung in der Wählerschaft verschont: Im Westen gewannen sie noch
2,1, im Osten 0,6 Prozentpunkte hinzu.
Der Wandel des wahlentscheidenden Segments ihrer
Wählerschaft stellt die SPD vor ein Dilemma. Ihre Wiederwahl verdankt sie vor
allem den Ängsten und Sorgen von Wählern aus den neuen Bundesländern, einem
staatlich protegierten Wirtschaftsraum mit überdurchschnittlicher Abhängigkeit
von Sozialtransfers. Besonders viel verlor man dagegen in Regionen mit
wettbewerbs- beziehungsweise exportstarken Wirtschaftssektoren, das heißt in
Baden-Württemberg, Bayern und in den florierenden Teilen des Ruhrgebiets.(11)
Das heißt gut verdienende Arbeiter und Angestellte in modernen Industrien
wandten sich von der SPD ab, einige wählten die Grünen, die meisten votierten
für CDU/CSU oder FDP. Die Wählerwanderung betraf auch gewerkschaftlich
organisierte Arbeiter (– 7,0 Prozentpunkte).(12) Der Trend setzte sich im
Februar 2003 in den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen fort. Und nichts
spricht für die Annahme, dass die abgewanderten Wähler glaubten, von CDU und
FDP besser vor einem »Sozialabbau« beschützt zu werden. Die Wählerwanderungen
sind vielmehr eine Reaktion auf die Handlungsschwäche der SPD. Ihr Wählerpotenzial
droht, auf die Gruppe der Schutz Suchenden zusammenzuschnurren.
Folglich besitzt die SPD im Unterschied zu den
Bündnisgrünen, die auch von vielen Reformbefürwortern ohne »grüne«
Parteiidentifikation gewählt wurden, kein Mandat für tiefgreifende
Reformen. Die Schröder-Regierung ist deshalb zu einem riskanten Spagat
genötigt. Um verlorene Wähler zurückzugewinnen und die Reputation der
Sozialdemokratie nicht gänzlich zu verspielen, muss sie auf Reformkurs bleiben.
Doch dieser vertreibt genau jene Wähler, die ihr zur Wiederwahl verhalfen. Und
zwar umso rascher und gründlicher, je konsequenter das vorgestellte Reformpaket
umgesetzt wird. Es ist deshalb nicht unwahrscheinlich, dass die SPD-Führung
bereit ist, sich den Reformkurs im Vorfeld der nächsten Wahlschlachten verwässern
zu lassen – eine dankbare Funktion für die Parteilinke. Da es ohnehin mehrere
Jahre dauern wird, bis sich der Reformerfolg an Wachstums- und Arbeitslosenraten
ablesen lässt, kann sich die rot-grüne Regierung im Wahlkampf 2006 mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht als bewährte Reformkraft
präsentieren.
Der absehbar unzulängliche Erfolg des 2003 eingeschlagenen Reformkurses
droht auch die mittlerweile erhebliche Reputation der Grünen zu beschädigen.
Einerseits können die grünen Regierungsmitglieder ihre Loyalität zum Partner
SPD nicht in Frage stellen, wenn dieser sie so dringend als Mitverantwortlichen
für notwendige Übel benötigt. Andererseits zwingen die Handlungsschwäche der
SPD und die sozioökonomische Situation des Landes zur nüchternen Abwägung:
Sollen sich die Grünen als eigenständiger politischer Akteur für die
Ausarbeitung und Bewältigung des ebenso anspruchsvollen wie dringlichen
Reformprojekts empfehlen oder sich auch in Zukunft damit begnügen, das
ökologische und libertäre Gewissen einer SPD-geführten Regierung zu spielen?
Vor einer Antwort auf diese Frage lohnt ein Blick auf die aktuelle
Wettbewerbssituation der Grünen.
6. Die Situation der Grünen
– Handikap mit Chancen
Vom Tag ihrer Gründung bis zur deutschen Einheit besaßen die
Grünen eine Art Profilmonopol, nämlich das Alleinstellungsmerkmal, mit
ökologisch-libertären Themen die »postmaterialistischen« Wähler anzusprechen.
Doch schon in den 1990er-Jahren hat der Wettbewerbswert dieses Merkmals
deutlich abgenommen. Nicht alle, aber etliche der ökologisch-libertären Themen
gewannen über das gesamte Parteienspektrum hinweg an Bedeutung. Damit hat sich,
bildlich ausgedrückt, die Hauptachse des Parteienwettbewerbs um etwa 45 Grad im
Uhrzeigersinn gedreht; der »linke« Pol hat sich dem »libertären« Pol genähert.
Im Umgang mit ökologischen und libertären Themen unterscheiden sich die
verschiedenen Parteien nicht mehr prinzipiell, sondern nur noch graduell.
Gewiss sind die Grünen die links-libertäre Partei par excellence geblieben. Aber
auch in den anderen Parteien gibt es mehr oder weniger große Segmente, die
einige der ursprünglich »grünen« Positionen vertreten. Das darf man gern als
den gesellschaftlichen Erfolg der Grünen betrachten. Doch ist es ein Erfolg,
der künftige Erfolgschancen beeinträchtigt, wenn man ihn nicht in eine neue
Währung einzutauschen versteht.
Es sind aber nicht nur Teile der grünen Programmatik – etwa
auf den Feldern Umwelt, Frieden, Dritte Welt, Frauengleichstellung,
partizipative Demokratie – politisches Gemeingut geworden, sondern einige
wurden auch mehr oder weniger erfolgreich abgearbeitet. Der Atomausstieg und
die Liberalisierung des Ausländer- und Einwanderungsrechts sind praktisch
erledigt; die Vorstellung von Friedenspolitik als unbedingte Absage an militärische
Gewalt wurde durch das Prinzip humanitärer Abwägung im Einzelfall ersetzt. Und
aktuellere Themen wie Globalisierung, Bio- und Gentechnologie,
Reproduktionsgenetik und so weiter eignen sich nur wenig zur parteipolitischen
Profilierung, sind doch alle wichtigen Positionen parteiübergreifend quer verteilt.
Angesichts der schwindenden Differenzen zu anderen Parteien
kam die Frage auf, inwieweit sich die Grünen durch eine schärfere Artikulation
der liberalen Momente im libertären Profil neu definieren könnten. Die Antwort
ist ein entschiedenes Jein. Nein, denn Liberalität ist eine Eigenschaft des
ganzen Parteiensystems. Sie taugt nicht als Erkennungszeichen einer einzelnen
Partei (worunter die FDP seit langem leidet). Ja, weil die Analyse grüner
Politikerfahrungen mit realer Illiberalität einen Weg zeigt, wie eine
abstraktere Definition des grünen Wertekanons und damit des politischen Profils
der Partei aussehen könnte.
Konfrontiert mit dem Gegensatz »autoritär/libertär« beziehen
die Grünen traditionell die libertäre Position. Sie widersprechen den
autoritären Spielarten staatlicher Aufgabenerfüllung wie der bürokratischen
Administration von Lebensformen. Statt autoritärer Werte und stereotyper
Gruppendefinitionen vertreten sie das Recht auf individuelle Selbstbestimmung
und egalitäre Chancen. Als unabdingbar vorausgesetzt sind Handlungs- und
Willensfreiheit – auch und gerade, weil individuelle Ziele und Wünsche sehr
verschieden ausfallen. Das impliziert nicht nur Toleranz gegenüber der sozialen
und kulturellen Vielfalt der modernen Gesellschaft, sondern auch das zur
Persönlichkeitsentfaltung notwendige Maß an staatlichen Garantien, einschließlich
des Schutzes vor existenzieller Not.
Die libertären Elemente im Profil der Grünen haben in der
Regierungspraxis an Bedeutung gewonnen. Nicht selten mussten Grüne das
gesamtgesellschaftlich etablierte Maß an Liberalität beim Koalitionspartner
einklagen. Ihre Politikvorschläge reagieren auf den verringerten
Handlungsspielraum des Nationalstaats und die gestiegene Skepsis gegenüber
staatlichen Regulationsansprüchen und dem Leistungsvermögen der Bürokratie.
Während die FDP in Sachen Staatsaufgaben eine scheinbar verwandte Position
vertritt, haben die Grünen die libertären Elemente ihres Profils in
überzeugender Weise mit sozialen und emanzipatorischen Werten verbunden. Diese
Verbindung ist alles andere als eine Mesalliance. Sie ist vielmehr die logische
Synthese des individuellen Freiheitsanspruchs und des in der industriellen
Moderne entstandenen Verständnisses von Staatsaufgaben im Sinne
gesellschaftlicher Freiheitsvoraussetzungen. Es gibt guten Grund anzunehmen,
dass wachsende Teile der Wählerschaft ihr politisches Anliegen in dieser
Synthese wiedererkennen.
Prosperitäts- versus Krisenerfahrungen – ein neuer Zwiespalt?
Bekanntlich lässt sich die Wählerschaft heute weniger denn
je anhand der klassischen Merkmale sozialer Schichtung – wie soziale Herkunft,
Bildung, Beruf und Einkommen – in Gruppen mit übereinstimmenden politischen
Ansichten einteilen. Unterschiedliche, überwiegend kulturell definierte Milieus
und die mehr oder weniger zufällige Zugehörigkeit zu einem der verbreiteten
Weltbildlager sind an die Stelle objektiver Gruppenmerkmale getreten.
Betrachtet man das letzte Bundestagswahlergebnis, so zeichnet sich allerdings
wieder die Bedeutung eines objektiven Merkmals ab: nämlich die Lokalisierung
der Wähler in der regional-sektoralen Chancenstruktur. Danach scheinen
die politischen Präferenzen der Individuen eng mit ihren im engen Sinne
räumlich-ökonomischen Erfahrungen zusammenzuhängen.
Ist die Erfahrungswelt eine Region mit überwiegend
marktexponierten Unternehmen, also solchen der technologisch moderneren
Industrien mit hohem Exportanteil, so drücken die Wähler andere sozial- und
wirtschaftspolitische Präferenzen aus als jene in Regionen, wo das individuelle
Einkommen überwiegend in »geschützten« beziehungsweise staatsnahen Sektoren
erzielt wird, das heißt im öffentlichen Dienst oder in einem dem
internationalen Wettbewerb (noch) nicht gewachsenen Wirtschaftsraum (wie in
großen Teilen Ostdeutschlands). Während die Erstgenannten Strukturreformen
erwarten, die den Prosperitätschancen moderner Unternehmen Rechnung tragen,
richten sich die Präferenzen der anderen verständlicherweise auf die schützende,
lenkende und verteilende Hand des Staates.
Wegen der ökonomischen Dynamik und der ungleichen
Wertschöpfungspotenz traditioneller respektive moderner Wirtschaftssektoren ist
mit dem weiteren Wachstum der marktexponierten Sektoren bei gleichzeitig
zunehmendem Subventionsbedarf der »geschützten« Sektoren zu rechnen. Diese
Entwicklung dürfte unabhängig von der Richtung etwaiger politischer
Interventionen anhalten. Zwei mutmaßliche Konsequenzen sind in unserem
Zusammenhang wichtig. Zum einen ist jedwede Sozialpolitik von der Prosperität
der moderneren und dynamischen Sektoren abhängig, da nur diese die
Einnahmeseite des Staatshaushalts zu speisen vermögen. Zum anderen ist mit der
Zunahme von Wählern zu rechnen, die eine stärkere Marktorientierung und
geringere Neigung haben, nach der schützenden Hand des Staats zu rufen. Dieses
Wählersegment ist aber nicht per se konservativ eingestellt. Im Gegenteil,
gerade in den jüngeren Alterskohorten konvergieren liberale und libertäre
Werte, also ein positives Verhältnis zu Marktwettbewerb und Unternehmertum bei
gleichzeitiger Wertschätzung von Toleranz, Minderheitenschutz, Umweltpolitik
und Multikulturalismus. Individuen mit dieser Einstellung stört es nicht,
sondern sie schätzen es, in einer »globalisierten« Welt zu leben.
Weniger klar ist, ob und wie rasch sich der Anteil von
Wählern mit einer ausgeprägt etatistischen Sozialstaatspräferenz vermindern
wird. Davon hängt unter anderem ab, wann die Mitgliedschaft von SPD und die
Gewerkschaften einen nachhaltigen Realitätsschub erfahren. Eines steht
allerdings fest: Die politischen Präferenzen dieses Segments der Wählerschaft
zu bedienen, hieße nichts anderes, als die wirtschafts- und finanzpolitischen
Voraussetzungen des Sozialstaats weiter erodieren zu lassen. Denn eine nur auf
»soziale Gerechtigkeit« pochende Verteidigung des Status quo weiß keine Antwort
auf die Frage nach der Sicherung der Wertquellen. Ihr heimliches Ideal scheint
der Merkantilismus des frühen 19. Jahrhunderts zu sein, das heißt eine
Volkswirtschaft, die vom internationalen Handel parasitär profitieren will und
in der wettbewerbliche Anreize durch Staatsintervention ersetzt sind. Doch das
kann in der auf wechselseitigen Verpflichtungen gegründeten EU-, OECD- und
WTO-Welt nicht funktionieren. Ebenso wenig trifft es zu, dass ein deutlich
gesteigertes Niveau staatlicher Umverteilung ohne Rückwirkung auf das Volumen
der Reichtumserzeugung bleibt. Vielmehr ist jeder unvorsichtige Schritt in
diese Richtung mit spürbaren Sozialprodukt-, sprich: Wohlstandseinbußen
verbunden.
Grüne als »rationale Universalisten«
Zurück zur Situation der Grünen. Sie verfügen über sehr gute
Chancen, jene Wähler zu erreichen, die ihre libertären Präferenzen nicht mit
krassem Marktliberalismus vermengt sehen, aber ebenso wenig die
Sozialdemokratie auf dem Weg vom Etatismus zum Attentismus begleiten möchten.
»Moderat liberal, entschieden libertär« – so lässt sich das entsprechende
Wählersegment charakterisieren. Welche Schnittstellen dieser Teil der
Wählerschaft im grünen Profil findet, wurde bereits an anderer Stelle
diskutiert.(13) Als Repräsentanten eines rationalen, also nicht ausschließlich
gefühlsbasierten Universalismus können die Grünen auf zwei Eigenschaften Bezug
nehmen.
Erstens gründen sie ihre Identität als einzige Partei
Deutschlands nicht auf eine exklusive, mit historischen Reminiszenzen
aufgeladene Weltanschauung, die womöglich noch mit einer obsoleten Ideologie
verwoben ist. Die letzten Reste an ideologisch befrachteten Denkfiguren aus der
Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts musste man spätestens in der Vereinigung
mit Teilen der ostdeutschen Bürgerbewegung aufgeben. Zweitens entbehrt die
Partei eines programmatisch verpflichtenden und die politische Praxis
beschränkenden Klientelbezugs. Sie muss weder den Forderungen bestimmter
sozialer Gruppen noch dem Bestandsinteresse institutionalisierter
Organisationen (etwa der Verwaltungs-, Bildungs- oder Sozialbürokratie) nachkommen.
Exakt aufgrund dieser doppelten «Mangelsituation” sind die Grünen besser als
alle ihre Konkurrenten gerüstet, ein auf Sachprobleme bezogenes
Politikverständnis zu entwickeln und für informierte politische Debatten zu
sorgen. Sie besitzen überdurchschnittliche Fähigkeiten zur diskursiven
Klärung politischer Optionen.
Die maßgebliche Unterscheidungsdimension ist mit »Universalismus-Partikularismus«
angemessen zu beschreiben. Was die Grünen als Platzhalter des
universalistischen Pols – neben demokratisch-prozeduraler Normtreue (d. h. Zuverlässigkeit
in allen Verfahrensfragen) – auszeichnet, ist eine Rationalitätsverpflichtung
in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht:(14) In sachlicher Hinsicht
geht es um eine stets exakte Diagnose der in Frage stehenden Sachverhalte und
Probleme, also um die abwägende Betrachtung aller sachlich gebotenen
Antworten. »Sachlich« heißt vor allem Vollständigkeit der Wahrnehmung und
Diagnose. Die zur Problembearbeitung in Frage kommenden Alternativen dürfen
nicht anhand historisch-ideologischer Vorbehalte gefiltert sein. Damit kein
potenziell nützlicher Gedanke übersehen bleibt, gilt es, den ungeschmälerten
gesellschaftlichen Sachverstand zu mobilisieren, einschließlich dessen, was
anderenorts an Ideen produziert und verwirklicht wurde.
In zeitlicher Hinsicht haben die Grünen von Anfang an die
Berücksichtigung der langfristigen Folgen politischer Entscheidungen und
gesellschaftlicher Entwicklungen eingeklagt. Das war und ist der Kern des
umweltpolitischen Engagements. Inzwischen hat es einen positiven Ausdruck im
Begriff der Nachhaltigkeit gefunden. In zeitlicher Hinsicht rational
beziehungsweise »gerecht« zu handeln, bedeutet aber auch, die eigene Politik
nicht gänzlich der Logik des Parteienwettbewerbs und dem kurzfristigen
Zeithorizont von Legislaturperioden zu unterwerfen. Die Opfer an Zeitrationalität,
welche die Demokratie einfordert, sind vielmehr bewusst zu halten, um sie
begrenzen zu können.
Sozial rational ist die verantwortungsvolle, systematische
Sondierung der sozialen Konsequenzen politischer Entscheidungen unter
dem Gesichtspunkt sozialer Inklusion – im nationalen wie im internationalen
Rahmen. Dafür ist es nötig (und nicht selten schon gute Praxis), das
Bewusstsein von den Exklusionstendenzen vieler Institutionen und mancher
reformpolitischer Innovationen wach zu halten. Auch wenn sich soziale
Differenzierungen und Exklusionen nicht immer vermeiden lassen, so bedürfen sie
doch stets der Überprüfung auf ihre Zumutbarkeit und Vertretbarkeit, so dass
unter Umständen für faire Kompensation gesorgt werden kann.
Dass die Grünen in der Lage sind, dem so umrissenen
Verständnis eines rationalen Universalismus Ausdruck zu verleihen, haben sie im
Umgang mit manchen politischen Streitthemen bewiesen. In einigen Fällen führten
sie die Debatte über Problemdiagnosen und politische Antworten stellvertretend
für die ganze Gesellschaft, etwa anlässlich der militärischen Beteiligung
Deutschlands am Kosovokonflikt. Andere Parteien zeigten sich nicht annähernd so
gut in der Lage, die Kriterien sachlicher, zeitlicher und sozialer Rationalität
zu vertreten. Üblich ist vielmehr, sich unter dem Druck des Parteienwettbewerbs
zur polemischen Abwertung der Politikvorschläge anderer hinreißen zu lassen,
selbst wenn bessere Rezepte gar nicht verfügbar sind. Zudem sind die beiden
Großparteien und ihre Konkurrenten FDP und PDS noch Denktraditionen verhaftet,
die zu Fehldeutungen und populistischen Ausbrüchen anstiften.
Es braucht also kein Übermaß an Optimismus, um den Grünen zu
bescheinigen, dass sie im Stande sind, ihr Profil von den restlichen
Eierschalen der frühen Jahre, nämlich einem Katalog konkreter und instrumentell
vorkodierter Politikvorschläge, zu lösen, um es im Einklang mit prominenten
Werten ihrer Geschichte auf einer abstrakteren Ebene neu zu begründen. Der
differenzierte Gerechtigkeitsbegriff des Grundsatzprogramms von 2002 beweist,
dass dabei, entgegen allen Unkenrufen, kein Verlust an moralischer
Verpflichtung eintreten muss. Als eine Partei, die weder durch ihre Geschichte
noch durch die Sozialstruktur ihrer Wählerschaft zu partikulärer
Klientelpolitik genötigt ist, besitzen die Grünen einen privilegierten Zugriff
auf die Sachdimension der politischen Themen. Gleichzeitig bilden die
Prinzipien der Nachhaltigkeit und der sozialen Inklusion das moralische
Fundament der Kriterien für politische Entscheidungen. Wiederkehrende
Selbstzweifel und eine (noch ausbaufähige) Zurückhaltung gegenüber Selbstlob
und Selbstidealisierung können helfen, sich diesen Sonderstatus im
Parteiensystem zu erhalten. Wenn es der Partei gelingt, die Prinzipien des
rationalen Universalismus im Umgang mit den wechselnden Themen des politischen
Alltagsbetriebs transparent zu halten, dürfte ihre Einflussposition in Politik
und Gesellschaft gesichert bleiben.
Grüne als Motor und Katalysator der Reformen
Für jeden politischen Akteur existieren einige Grundregeln
und Prinzipien der Positionsbestimmung, die nur um den Preis des
Identitätsverlustes oder der Selbstzerstörung missachtet werden können. Für die
beiden Volksparteien SPD und CDU/ CSU zählen dazu die ökonomischen Interessen
der als »politische Mitte« titulierten Wählerschaft, die als überwiegend
»reformavers« eingeschätzt wird. Meinungsumfragen belegen, dass eine Mehrheit
der Befragten keinen hinreichenden Grund sieht, sich mit den notwendigen
Sozialreformen anzufreunden. Allenfalls ein Viertel der aktiven Wählerschaft
ist als dezidiert reformfreundlich zu betrachten (und neigt z. Zt. den
Oppositionsparteien und den Grünen zu). Das heißt, auch eine CDU/CSU-geführte
Regierung fände keine einhellige Unterstützung für tiefgreifende Reformen.
Vielmehr müsste jede Reformregierung gegen die Interessen eines Großteils ihrer
Wähler handeln und sich einem erhöhten Wiederwahlrisiko aussetzen, von den
Anreizen für innerparteiliche Opposition und dem Identitätsrisiko der
Regierungspartei ganz abgesehen.
Angesichts des Defizits an Wähler-Unterstützung dürfte keine
Bundesregierung im Stande sein, das Notwendige mit der erfolgsnotwendigen
Stringenz zu tun. Ob es sich um eine rot-grüne oder eine schwarz-gelbe
Regierung handelt, die Rollenverteilung innerhalb der Koalition ist damit
vorbestimmt: Der kleinere Partner muss nolens volens die Rolle des
Herausforderers übernehmen und dem größeren Partner so viel Reformbereitschaft
und Leidensfähigkeit abtrotzen, wie dessen innerparteiliche Kräfteverhältnisse
zulassen. Eine Alleinregierung durch CDU/CSU (immerhin denkbar) oder SPD
(einigermaßen unwahrscheinlich) hätte es deshalb keineswegs leichter, fehlte
ihr doch ein Partner für das Spiel »guter Polizist, böser Polizist«. Nachdem
man über Jahrzehnte hinweg das Ausmaß des Reformbedarfs verleugnet hat, wäre
auch eine große Koalition kaum in der Lage, mehr Gewicht auf die Waage zu bringen.
Landtagswahlen und der Wettlauf um eine günstige Position für den Bundestagswahlkampf
würden die »Reformer« beider Seiten zur Mäßigung anhalten.
Die Konsequenzen für die Grünen liegen auf der Hand. Wenn
sie den eingeschlagenen Weg der Profilierung als »rationale Universalisten«
weitergehen, sind sie auf eine aktive Rolle bei der Konzeptualisierung und
Propagierung des Reformprojekts festgelegt. Es gibt keine Möglichkeit, sich als
Opposition gegen allzu tiefgreifende Reformpolitiken zu profilieren und seine
Reputation als ernst zu nehmender Reformakteur zu behalten. Ihrem
sozial-libertären Profil entsprechend wären sie die Letzten, die bei der
Diagnose der Probleme und der Auswahl von Politiken Abstriche machen und
ungünstige Kräfteverhältnisse vorwegnehmen dürften. Es versteht sich von
selbst, dass ein klarer Positionsbezug beim Reformprogramm nicht mit einer
Vorfestlegung auf die SPD als Regierungspartner verträglich ist. Gibt es
genügend Übereinstimmung in der Sache, muss auch eine schwarz-grüne
Reformkoalition möglich sein.
Allerdings wäre die Rolle der Grünen als Partner einer
christdemokratisch geführten Regierung nicht dieselbe wie neben einem
sozialdemokratischen Kanzler. Die Funktion des konzeptionell starken
Reformmotors und Advokaten der Zukunft wäre ihnen wohl in beiden Fällen sicher.
Aber sie wäre durch eine je besondere Katalysatorrolle zu ergänzen. Als Partner
der Sozialdemokraten werden die Grünen genötigt bleiben, der »sachlichen«
Rationalität das Wort zu reden, also für vollständige Problemdiagnosen
und die Abwägung aller in Frage kommenden Instrumente zu sorgen. Als
Partner einer CDU-Regierung werden sie ihr Augenmerk vor allem auf die
»soziale« Rationalität der Reformen zu richten haben. Das heißt nicht, den
Sozialausschüssen zur Seite zu stehen, sondern den Anliegen der vielen
quantitativ minoritären Gruppen Beachtung zu verschaffen, die gemeinhin den
soziokulturellen Vorlieben deutscher Konservativer zum Opfer fallen.
Entgegen manch früherer Selbstkritik der Grünen besteht kein
Zweifel, dass sie einen wichtigen und konstruktiven Beitrag zur Modernisierung
des deutschen Institutionensystems leisten können. Die Erfahrungen, die das
politische Personal in Parlamenten, Ausschüssen und Regierungsämtern gesammelt
hat, und die Beiträge einiger Grüner zu den wichtigsten
gesellschaftspolitischen Debatten weisen sie für eine reformpolitische
Initiatorenrolle als intellektuell und moralisch hinreichend qualifiziert aus. Allerdings
besteht eine deutliche Diskrepanz zwischen dem politischen und diagnostischen
Know-how der Aktiven auf Bundes- und Landesebene einerseits und dem
Urteilsvermögen vieler Mitglieder an der »Basis«. Die Rekrutierungsbedingungen
von Parteien, ihre Angewiesenheit auf Emotionen und Ideologien, bedingen sogar
ein gewisses Kompetenzgefälle zwischen Wählern und Mitgliedern: Nicht selten
war die grüne Wählerschaft der lokalen Mitgliedschaft um Jahre voraus, wenn es
um die sachliche Einschätzung politischer Optionen ging.
Differenzen zwischen überwiegend pragmatischen Wählern und
der tradierten Kollektividentität der Grünen wird es auch in Zukunft geben.
Neuralgische Punkte sind die Ersetzung des kritischen durch ein dynamisches
Wirtschaftsverständnis und der Zugang zu arbeitsunabhängigem Einkommen. In
beiden Fällen kollidiert die Reformpolitik mit Programmzielen der frühen Jahre.
Die beschäftigungs- und einkommenspolitische Notwendigkeit des Übergangs von
der Nachfrage- zur Angebotsförderung wurde bereits oben (im Abschnitt 2)
dargelegt. Der Perspektivenwechsel impliziert jedoch mehr. Er bedeutet die
endgültige Abkehr von der Vorstellung, die »an sich« willkommenen
Unternehmerinitiativen ließen sich ex ante in gesellschaftlich erwünschte
Bahnen lenken.
Die notwendige Liberalisierung der Unternehmertätigkeit muss
keineswegs das Ende der »Politisierung der Produktion«(15) bedeuten. Und zwar
dann nicht, wenn es gelingt, Problemverständnis und Institutionen für die
effektive Ex-post-Regulation weiterzuentwickeln. Das hieße, Technik- und
Wirtschaftsentwicklung weder als quasi naturwüchsig noch als Ergebnis
politischer Planung zu begreifen, sondern als einen gesellschaftlichen Evolutionsprozess:
Wenn günstige Rahmenbedingungen die kreative Erprobung von Ideen und Chancen
(im Sinne des Evolutionsmechanismus »Variation«) ermöglichen, kommt es darauf
an, die inakzeptablen Hervorbringungen (im Sinne von »Selektion«) zu
identifizieren, um ihnen per politischer Entscheidung die Chance der
Reproduktion (im Sinne von »Retention«) zu nehmen. Das war, genau besehen, die
einzige Weise, in der sich gesellschaftliche Wirkungen des privatwirtschaftlichen
Entscheidens bislang kontrollieren ließen. Projekte der Innovationslenkung (von
der Kernenergie und dem Transrapid bis zur, sorry, teuer subventionierten
Windkraft) endeten regelmäßig in Investitionsruinen und/oder Mitnahmeeffekten.
Heute ist es allemal lohnender, die politische Kreativität auf bessere
Institutionen der Ex-post-Evaluation und -Intervention zu lenken.
Nicht minder gravierend für das Selbstverständnis der Grünen
sind die in der Sozialpolitik anstehenden Reformen. Wurde in den 1980er-Jahren
erwogen, das Ziel Vollbeschäftigung gegen das eines allgemeinen Grundeinkommens
einzutauschen, so steht heute – unter der Parole »Fordern und Fördern« – die Wiedereingliederung
der Sozialeinkommensbezieher in den Arbeitsmarkt an – einen Markt, der durch
»Angebotsüberhang« gekennzeichnet ist. Nachdem aber das Zeitfenster für sozial
ausgewogene Politiken ungenutzt verstrichen ist, bleibt nur die Möglichkeit,
die unvermeidlichen Einsparungen mit langfristig sinnvollen Strukturinnovationen
zu verbinden. Das geschah ansatzweise mit der bedarfsabhängigen Grundsicherung
für alte Menschen und Erwerbsunfähige. Derselben Logik folgen verbesserte Zuverdienstmöglichkeiten
für Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose sowie überhaupt jeder Schritt, der in
die Richtung einer nichtdiskriminierenden Existenzsicherung auf Mindestniveau
weist und Eigenverantwortung fördert. Auch hier besteht keine Veranlassung, die
Leitidee der Entkoppelung der Existenzgarantie von der Konjunktur des
Beschäftigungssystems aufzugeben. Es gilt aber, die Zyklizität der
politökonomischen Konjunkturen in Rechnung zu stellen und für günstigere Zeiten
gerüstet zu sein.
Gleichwohl bildet die unzureichende Vermittlung politischer
Erfahrungen und Überlegungen aus der Bundespolitik in die Kreisverbände immer
noch die Achillesferse des Reformakteurs Grüne. Käme man dem Verlangen von
Teilen der Basis nach, sich auf eine Defensivrolle zu beschränken, so ginge
unweigerlich der Kontakt zu jenem Teil der Wählerschaft verloren, der den
Grünen zutraut, der institutionellen Modernisierung Deutschlands ein
sozial-libertäres Profil zu verleihen. Folglich werden die Grünen als Partei
und Bundestagsfraktion, sei es an der Regierung oder in der Opposition, noch
beträchtliche Anstrengungen zur internen Vermittlung von Problemdiagnosen und
Politikvorschlägen unternehmen müssen.
7. Ausweg Verfassungsreform
In diesem Beitrag wurden zwei Problemkreise behandelt, die
nicht notwendig miteinander verschränkt zu sein scheinen: zum einen die
Ablösung des Modells D durch ein modernes und sozial akzeptables
Institutionensystem und zum anderen die Re-Fundierung des Profils der Grünen
durch ein neues, in ihrer Geschichte begründetes Alleinstellungsmerkmal.
Tatsächlich sind beide Problemkreise für die Grünen enger miteinander
verknüpft, als es auf den ersten Blick scheint. Denn die Institutionenreform
ist keine kontingente Aufgabe, die ebenso gut unbearbeitet bleiben könnte. Und
die Grünen erlitten einen gravierenden Ansehensverlust, würden sie bei der
Konzeptualisierung der Reformen und ihrer Umsetzung abseits stehen.
Doch macht es einen Unterschied, ob sich die Grünen an
risikoreichen Reformprojekten beteiligen oder nicht? Die Antwort ist Ja. Es ist
von erheblicher Bedeutung, ob die Kriterien des rationalen Universalismus, das
heißt nüchterner Sachverstand, langfristige Folgenabschätzung und
nachdrückliche Orientierung am Gebot sozialer Inklusion, vertreten sind oder unterrepräsentiert
bleiben. Nur die Grünen kommen als unvoreingenommene Träger dieser Kriterien in
Betracht. Sie sind die einzige im Bundestag vertretene Partei, die nicht mit
Gruppeninteressen verschwägert oder obsoleten Ideologemen verpflichtet ist.
Denn die Crux sozialdemokratischer wie konservativ-liberaler Reformpolitik ist,
dass sie das, was richtig und geboten ist, nicht zu trennen vermag von dem, was
sie einer partikularistisch gesinnten Wählerklientel schuldig zu sein glaubt.
Das als Modell Deutschland apostrophierte
Institutionensystem hat nicht nur seine Blütezeit weit hinter sich gelassen, es
ist inzwischen zu einem Hindernis der sozialen Integration und
gesellschaftlichen (Selbst-)Steuerung geworden. Die geltenden Spielregeln
setzen den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entscheidungsträgern
perverse Anreize, indem sie zu Problemverdrängung und zur Vertagung notwendiger
Entscheidungen anhalten. Die Dinge zu lassen, wie sie sind, hieße, eine
Verschlechterung in allen relevanten sozioökonomischen Dimensionen des Landes
zu dulden. Glücklicherweise wird jede Entwicklung zum Schlechteren unweigerlich
den politischen Eliten zugerechnet, die sich deshalb zu mehr oder weniger
problemadäquaten Aktionen herausgefordert sehen.
Per Saldo ist jedoch nicht damit zu rechnen, dass die
Modernisierung des Institutionensystems in hinreichend großen Schritten
vorankommt. Die Logik des vom Parteienwettbewerb durchwachsenen Föderalismus
und die Vielzahl institutionalisierter Vetopunkte im korporatistischen System
der Interessenvermittlung weisen jedes anspruchsvolle Reformpaket als
unrealisierbar aus. Weil auch die Agenda 2010 bestenfalls ungünstige
Entwicklungen zu stoppen, aber nicht zu kurieren geeignet ist, kreist die
Regierungspolitik nach wie vor in der Zeitschleife des reproduktiven Symptommanagements.
Die Zeitschleife – als ständige Wiederkehr von strukturell analogen
Problemlagen bei Variation der Begleitumstände – ist womöglich schon zum bevorzugten
Orientierungsrahmen der politischen Eliten wie ihres Fußvolks in den Parteien
geworden.(16) Der Ausbruch könnte nur solchen Akteuren gelingen, die
politischen Realitätssinn mit »transzendenten« Zielen zu verbinden und das
Risiko des Weitermachens ebenso gut zu kalkulieren wissen wie das Wagnis der
Innovation.
Eine »rationale« Positionsbestimmung der Grünen gegenüber
dem aktuellen Reformprojekt muss also die Risiken des Scheiterns der
regierungsamtlichen Ambition wie auch des Ungenügens der Konzeption selbst in
Rechnung stellen. Das impliziert ein erhebliches Risiko für die Grünen. Es
sollte Grund genug sein, einen Augenblick innezuhalten und den Alternativenraum
noch einmal vorbehaltlos zu inspizieren. Er enthält mindestens eine Option, die
den genannten Risiken Rechnung zu tragen erlaubt: die Konzentration auf eine
Reform der politischen Kompetenz- und Entscheidungsordnungen. Eine moderate und
überzeugend begründete Variante hat Fritz W. Scharpf vorgestellt.(17) Anstelle
ausgedehnter und hochkontroverser Debatten über die zur Wirtschaftsbelebung
erforderlichen Maßnahmen plädiert Scharpf dafür, das Grundgesetz durch eine
Experimentierklausel zu ergänzen. Würde diese hinreichend großzügig formuliert,
so könnte sie den Ländern erhebliche Spielräume öffnen, um dezentrale
Innovations- und Reformfähigkeiten zu entwickeln, die wiederum potenziell
verallgemeinerbare Lösungen ans Licht bringen. Ungünstige beziehungsweise
unerwünschte Folgen ließen sich durch Befristung der Experimente und Evaluationspflichten
meistern.
Seit längerem sind auch anspruchsvollere Varianten einer
Reform des deutschen Föderalismus im Angebot. An diese erinnerte die
Bundesjustizministerin Zypries im April 2003. Ihr Vorschlag sieht eine
Neuverteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern vor. Diese und eine
Entflechtung der Finanzbeziehungen könnten unter anderem Bewegung in die
Beamtenrechtsreform und den Ländern eine konkurrenzfreie Zuständigkeit für
Hochschulen, öffentlichen Dienst, Naturschutz und so weiter bringen. Eine
derartige Neuordnung des Bundesstaates mag noch vieler Diskussionen bedürfen,
um im Einzelnen konsensfähig zu werden. Aber das Projekt hat einen
entscheidenden Vorteil gegenüber den absehbar unzureichenden materiellen Reformen
einer Bundesregierung ohne Bundesratsmehrheit: Es mobilisiert das Innovationsvermögen
der Landesregierungen und vermag deren Blockademacht im Bundesrat ins Positive
zu wenden. Es würde nicht nur der Handlungsspielraum der Landespolitik
erweitert, sondern auch ein fruchtbarer Wettbewerb zwischen den Ländern um die
Entwicklung ökonomisch zweckmäßiger und sozial akzeptabler Institutionen angeregt.
Damit ließe sich dem Regionalisierungskurs der EU sowie der faktischen Abhängigkeit
der regionalen Wirtschaft von globalen Märkten in angemessener Form Rechnung
tragen.
Es ist ein glücklicher Zufall, dass die Grünen das selbst
geschaffene Korsett der Trennung von Amt und Mandat noch für einige Zeit
erdulden müssen. Das räumt ihrem Parteivorstand die Möglichkeit ein, die
politische Tagesordnung nicht ausschließlich nach den Prioritäten der
Kanzlermehrheit zu gestalten, sondern auch Ideen und Projekte zu formulieren,
die das Arbeitspensum von Kabinett und Fraktion überschreiten. Vielleicht hilft
dieser Umstand, die Doppelaufgabe zu bewältigen: bis zur der nächsten
Bundestagswahl einen zuverlässigen Regierungspartner abzugeben, der dabei auch
sein Profil als innovative und über den Tag hinaus planende Reformkraft zu
schärfen versteht.
1
Für wertvolle Anregungen danke ich Andrea Goymann.
2
Vgl. den Einleitungsaufsatz von Herbert Kitschelt und
Wolfgang Streeck im Deutschland-Sonderheft von West European Politics
(erscheint Ende 2003).
3
Vgl. Kenneth Dyson: »The German Model Revisited: From
Schmidt to Schröder«, in: German Politics 10 (2/01), S. 135–154.
4
Vgl. Fritz W. Scharpf: »Wege zu mehr Beschäftigung«, in: Gewerkschaftliche
Monatshefte 48 (4/97), S. 203–217.
5
Vor genau 15 Jahren erschien der Aufsatz von Jürgen Kühl:
»15 Jahre Massenarbeitslosigkeit. Aspekte einer Halbzeitbilanz«, in: Aus
Politik und Zeitgeschichte B 33/1988, S. 3–15.
6
Mit fast 40 Prozent ist der Anteil derer, die ein Jahr lang
oder länger arbeitslos sind, höher als in anderen Ländern. In den USA liegt er
(u.<|>a. wegen der niedrigen Lohnersatzleistungen) bei nur 11 Prozent.
7
Vgl. Peter Daschner, Hans-Günter Rolff und Tom Stryck
(Hrsg.): Schulautonomie – Chancen und Grenzen. Impulse für die
Schulentwicklung, Weinheim: Juventa 1995.
8
Vgl. Manfred G. Schmidt: »Warum Mittelmaß? Deutschlands Bildungsausgaben
im internationalen Vergleich«, in: Politische Vierteljahresschrift 43
(1/02), S. 3–19.
9
Dabei ließe sich das Umfeld für Unternehmensgründungen
durchaus sozialverträglich gestalten, wenn anstelle der diversen handwerks- und
gewerberechtlichen Restriktionen einzig der Nachweis einer
Unternehmerhaftpflichtversicherung gefordert würde.
10
Vgl. den Beitrag von Ralf Clasen und Helmut Wiesenthal in:
Wolfgang Schroeder, Bernhard Weßels (Hrsg.): Die Gewerkschaften in Politik
und Gesellschaft der Bundesrepublik, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag
(erscheint im Sommer 2003).
11
Das zeigt die von Herbert Kitschelt (im
Deutschland-Sonderheft von West European Politics) vorgenommenen Analyse
der Wählerbewegungen.
12
Vgl. Richard Stöss und Gero Neugebauer: Mit einem blauen
Auge davon gekommen. Eine Analyse der Bundestagswahl 2002, Arbeitshefte aus
dem Otto-Stammer-Zentrum Nr. 7, Berlin: Freie Universität 2002.
13
Vgl. Helmut Wiesenthal: »Bündnisgrüne in der Lernkurve.
Erblast und Zukunftsoption der Regierungspartei«, in: Kommune, Heft
5/1999, S. 35-50, und ders.: »Profilkrise und Funktionswandel. Bündnis 90/Die
Grünen auf dem Weg zu einem neuen Selbstverständnis«, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte B5/2000, S. 22–29.
14
Der umgangssprachliche Sinn dieses Rationalitätskonzepts ist
im Begriff der Gerechtigkeit aufgehoben. Dass ein praxistaugliches
Gerechtigkeitskonzept auf typische Handlungsfelder und -probleme hin
ausdifferenziert sein muss, haben die Grünen in der Präambel zu ihrem
Grundsatzprogramm von 2002 dokumentiert.
15
Vgl. Herbert Kitschelt: »Materiale Politisierung der
Produktion. Gesellschaftliche Herausforderung und institutionelle Innovationen
in fortgeschrittenen kapitalistischen Demokratien«, in: Zeitschrift für Soziologie,
Heft 3/1985, S. 188–208.
16
In den letzten zehn Jahren waren Spielarten der Zeitschleife
– beziehungsweise von Tests kontrafaktischer Handlungsverläufe – in mindestens
drei Spielfilmen zu studieren: Groundhog Day (USA 1993), Retroactive
(USA 1997) und Lola rennt (Deutschland 1998).
17
Fritz W. Scharpf: »Mehr Freiheit für die Bundesländer. Der
deutsche Föderalismus im europäischen Standortwettbewerb«, in: FAZ,
7.4.01, S. 15. Siehe auch ders.: »Föderale Politikverflechtung: Was muss man
ertragen? Was kann man ändern?«, in: Konrad Morath (Hrsg.): Reform des
Föderalismus. Bad Homburg: Frankfurter Institut 1999, S. 23–36.