Michael
Ackermann
Die dem
dritten Golfkrieg vorangegangene Diskussion zeigt, dass die meisten
der in extremo vorgetragenen Argumente der Wirklichkeit nicht standhielten. Das
gilt für die forcierte Chaotisierungs- wie die Demokratisierungsthese
gleichermaßen. Mehr Fragen als Antworten also. Da ist es schon wichtig zu
verstehen, warum sich die »Neocons« in den USA durchsetzen konnten (Dick
Howard) und welche Auswirkungen der Irak-Krieg etwa auf die Stellung Russlands
hat (Erhard Stölting). In dieser Ausgabe der Kommune wird auch die
Annahme überprüft, die »westliche Wertegemeinschaft« habe erst durch den
Irak-Krieg Brüche erfahren. Tatsächlich sei, so Zoltan Szankay, die Zeit seit
1989 nun als die Illusion einer »feindlosen« gut zu erkennen. Das Auffliegen
dieser Illusion deutete sich jedoch schon in den Jugoslawien-Kriegen an und
wurde mit dem Terror des 11. September und dem Afghanistan- und Irak-Krieg
unübersehbar. Jetzt gehen die verschiedenen Wahrnehmungen der Mächte auch mit
eklatant verschiedenen praktischen Schlussfolgerungen einher – in den USA und
in großen Teilen des »alten Europa«. Warum also sollte die US-Administration
ein sich erweiterndes Europa nicht in ihrem Sinn aufmischen? Das »neue«,
östlichere. liegt den Konfliktzonen sowieso näher als das »alte«, und dieser
Administration ist es scheinbar egal, wenn sie damit innereuropäische
Austarierungen erschwert (oder gar sprengt?).
Diesen
Prozess politischer Erosion beleuchtet der italienische Philosoph Gianni Vattimo.
Der Hannah-Arendt-Preisträger 2002 sieht im Vorgehen der USA die blanke
Vorteilsnahme der weltweit größten Globalisierungsmacht (siehe die
Dokumentation der Preisverleihung / Beilage). Der Globalisierungsprozess laufe
auf die Schwächung des politischen Systems gegenüber dem ökonomischen hinaus.
Dagegen setzt er den Gedanken eines »föderalen Weltstaates«, besteht auf einem
»Gleichgewicht der Unterschiede« und, im Sinne Hannah Arendts, auf einer Autonomie
der Politik. Damit komme man der »Wahrheit« Sozialismus wieder nahe: »Befreiung
der Politik von den Gesetzen der Ökonomie«. Sozialismus wäre demnach »die
Konzeption des Staates als Garanten der Vielfalt der Gemeinschaften, die ihn
bilden«. Diese sympathische Umschreibung kollidiert allerdings mit den
Problemen in den europäischen Demokratien. Diese haben alle mindestens
unterschwellige oder offene »Modelldiskussionen«, in denen die Autonomie der
Politik schwer zu erkennen ist.
An diesem
neuralgischen Punkt setzt der Aufsatz von Helmut Wiesenthal über das
»Ende des Modells Deutschland« ein (der uns ein paar Tage vor Redaktionsschluss
erreichte und brennend diskussionswürdig ist). Für Wiesenthal befinden wir uns
mitten in einer eklatanten Sozialstaatskrise. Diese brach schon Ende der
Siebziger auf, ihre Symptome (dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit) wurden jedoch
von allen politischen Kräften verdrängt beziehungsweise mit staatlichen
Fördermaßnahmen kaschiert und mit noch erhöhten Kosten in die deutsche Einheit
überführt. Wiesenthal greift auch die Grundannahme der Gewerkschaften an: Lohn
schafft Konsum, Konsum schafft Arbeitsplätze. Diese Annahme habe nur für die Aufschwungjahre
der Bundesrepublik Geltung gehabt. Der »Exportweltmeister« von einst besitze
heute jedoch nur noch ein geringes Binnennachfragepotenzial. Dieses strukturelle
Dilemma sei nicht annähernd durch die Maßnahmen der Agenda 2010 zu lösen,
geschweige denn durch eine Frontstellung gegen sie. Eine »nur auf ›soziale
Gerechtigkeit‹ pochende Verteidigung des Status quo weiß keine Antwort auf die
Frage nach der Sicherung der Wertquellen«. An die Stelle eines »kritischen«
soll ein »dynamisches« Wirtschaftsverständnis treten. In diesem Prozess könnten
die liberal-libertären Grünen am ehesten
für die Einhegung sozialer Schlechterstellungen sorgen.
Die
»Befreiung der Ökonomie« ist bei Wiesenthal als »gesellschaftlicher Evolutionsprozess«
gedacht, der zudem von einem Plädoyer für eine föderale Verfassungsreform
begleitet wird. Die Bundesländer sollen dabei in den Stand eines innenpolitischen
Innovationswettbewerbs versetzt und zugleich eine jede Bundesregierung von der
Fixierung auf die Bundesratsmehrheit (die durch stetige Wahlen immer prekär
ist) befreit werden. Wiesenthal sieht also, im Gegensatz zu reiner
Marktapologetik, einen erhöhten Bedarf an politischer Regulation. Allerdings
auf Basis der Anerkennung von Veränderungen, die die weltwirtschaftlichen
Verflechtungen für die nationalen Ökonomien hervorgebracht haben. Das folgt der
Erkenntnis, dass die führenden (alten) Industriestaaten keineswegs als
Globalisierungsgewinner feststehen. Im Neuen Jahrbuch Dritte Welt:
Globalisierung und Entwicklungsländer (Leske u. Budrich, 2003) wird darauf
verwiesen, dass die Weltmarktintegration einzelnen Entwicklungs- und
Schwellenländern durchaus höhere Zuwachsraten als den Industrieländern beschert,
und es wird die These vertreten, dass die Phase der unregulierten Marktdurchdringungen
ihren Zenit bereits überschritten hat. Innerhalb der Weltwirtschaft zeichne
sich die Tendenz zu einem dicht verregelten und verrechtlichten Institutionenrahmen
ab, der nicht allein die Großen begünstige. Über die »soziale Frage« sagt das
noch nichts aus, über eine »gute« Ökonomie wenig, über die Komplizierung der
Situation allerdings viel.