EDITORIAL 3/2003

Michael Ackermann

 

Die dem dritten Golfkrieg vorangegangene Diskussion zeigt, dass die meisten der in extremo vorgetragenen Argumente der Wirklichkeit nicht standhielten. Das gilt für die forcierte Chaotisierungs- wie die Demokratisierungsthese gleichermaßen. Mehr Fragen als Antworten also. Da ist es schon wichtig zu verstehen, warum sich die »Neocons« in den USA durchsetzen konnten (Dick Howard) und welche Auswirkungen der Irak-Krieg etwa auf die Stellung Russlands hat (Erhard Stölting). In dieser Ausgabe der Kommune wird auch die Annahme überprüft, die »westliche Wertegemeinschaft« habe erst durch den Irak-Krieg Brüche erfahren. Tatsächlich sei, so Zoltan Szankay, die Zeit seit 1989 nun als die Illusion einer »feindlosen« gut zu erkennen. Das Auffliegen dieser Illusion deutete sich jedoch schon in den Jugoslawien-Kriegen an und wurde mit dem Terror des 11. September und dem Afghanistan- und Irak-Krieg unübersehbar. Jetzt gehen die verschiedenen Wahrnehmungen der Mächte auch mit eklatant verschiedenen praktischen Schlussfolgerungen einher – in den USA und in großen Teilen des »alten Europa«. Warum also sollte die US-Administration ein sich erweiterndes Europa nicht in ihrem Sinn aufmischen? Das »neue«, östlichere. liegt den Konfliktzonen sowieso näher als das »alte«, und dieser Administration ist es scheinbar egal, wenn sie damit innereuropäische Austarierungen erschwert (oder gar sprengt?).

Diesen Prozess politischer Erosion beleuchtet der italienische Philosoph Gianni Vattimo. Der Hannah-Arendt-Preisträger 2002 sieht im Vorgehen der USA die blanke Vorteilsnahme der weltweit größten Globalisierungsmacht (siehe die Dokumentation der Preisverleihung / Beilage). Der Globalisierungsprozess laufe auf die Schwächung des politischen Systems gegenüber dem ökonomischen hinaus. Dagegen setzt er den Gedanken eines »föderalen Weltstaates«, besteht auf einem »Gleichgewicht der Unterschiede« und, im Sinne Hannah Arendts, auf einer Autonomie der Politik. Damit komme man der »Wahrheit« Sozialismus wieder nahe: »Befreiung der Politik von den Gesetzen der Ökonomie«. Sozialismus wäre demnach »die Konzeption des Staates als Garanten der Vielfalt der Gemeinschaften, die ihn bilden«. Diese sympathische Umschreibung kollidiert allerdings mit den Problemen in den europäischen Demokratien. Diese haben alle mindestens unterschwellige oder offene »Modelldiskussionen«, in denen die Autonomie der Politik schwer zu erkennen ist.

An diesem neuralgischen Punkt setzt der Aufsatz von Helmut Wiesenthal über das »Ende des Modells Deutschland« ein (der uns ein paar Tage vor Redaktionsschluss erreichte und brennend diskussionswürdig ist). Für Wiesenthal befinden wir uns mitten in einer eklatanten Sozialstaatskrise. Diese brach schon Ende der Siebziger auf, ihre Symptome (dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit) wurden jedoch von allen politischen Kräften verdrängt beziehungsweise mit staatlichen Fördermaßnahmen kaschiert und mit noch erhöhten Kosten in die deutsche Einheit überführt. Wiesenthal greift auch die Grundannahme der Gewerkschaften an: Lohn schafft Konsum, Konsum schafft Arbeitsplätze. Diese Annahme habe nur für die Aufschwungjahre der Bundesrepublik Geltung gehabt. Der »Exportweltmeister« von einst besitze heute jedoch nur noch ein geringes Binnennachfragepotenzial. Dieses strukturelle Dilemma sei nicht annähernd durch die Maßnahmen der Agenda 2010 zu lösen, geschweige denn durch eine Frontstellung gegen sie. Eine »nur auf ›soziale Gerechtigkeit‹ pochende Verteidigung des Status quo weiß keine Antwort auf die Frage nach der Sicherung der Wertquellen«. An die Stelle eines »kritischen« soll ein »dynamisches« Wirtschaftsverständnis treten. In diesem Prozess könnten die liberal-libertären Grünen  am ehesten für die Einhegung sozialer Schlechterstellungen sorgen.

Die »Befreiung der Ökonomie« ist bei Wiesenthal als »gesellschaftlicher Evolutionsprozess« gedacht, der zudem von einem Plädoyer für eine föderale Verfassungsreform begleitet wird. Die Bundesländer sollen dabei in den Stand eines innenpolitischen Innovationswettbewerbs versetzt und zugleich eine jede Bundesregierung von der Fixierung auf die Bundesratsmehrheit (die durch stetige Wahlen immer prekär ist) befreit werden. Wiesenthal sieht also, im Gegensatz zu reiner Marktapologetik, einen erhöhten Bedarf an politischer Regulation. Allerdings auf Basis der Anerkennung von Veränderungen, die die weltwirtschaftlichen Verflechtungen für die nationalen Ökonomien hervorgebracht haben. Das folgt der Erkenntnis, dass die führenden (alten) Industriestaaten keineswegs als Globalisierungsgewinner feststehen. Im Neuen Jahrbuch Dritte Welt: Globalisierung und Entwicklungsländer (Leske u. Budrich, 2003) wird darauf verwiesen, dass die Weltmarktintegration einzelnen Entwicklungs- und Schwellenländern durchaus höhere Zuwachsraten als den Industrieländern beschert, und es wird die These vertreten, dass die Phase der unregulierten Marktdurchdringungen ihren Zenit bereits überschritten hat. Innerhalb der Weltwirtschaft zeichne sich die Tendenz zu einem dicht verregelten und verrechtlichten Institutionenrahmen ab, der nicht allein die Großen begünstige. Über die »soziale Frage« sagt das noch nichts aus, über eine »gute« Ökonomie wenig, über die Komplizierung der Situation allerdings viel.