Mit gestrichen voller Hose

Lyrik in Zeiten des Krieges – Rundschau 2003

Wilhelm Pauli

 

Am 8.9.01 schrieb Friederike Mayröcker das Gedicht Luftseele undsoweiter. Am 18.9.01 haute sie gleich drei Kunstwerke heraus: Aspekte der Malerei; diese weißlichen Büsche vom Fenster aus; armes Luder kannst heut’ bei mir essen. Dazwischen, zwischen dem 8. und 18.9., ist nichts bekannt. Das entnehmen wir ihrem neuen Band Mein Arbeitstirol, woselbst die alterszentrierten Avantgardeperlen der letzten Jahre chronologisch aufs Schnürl gezogen sind. Die alte Avantgarde, in Kriegen aller Art gesintert, scheißt sich was, die fällt nicht auf jeden Schmäh herein. Zusätzlich bei der Mayröcker noch der Jandlverlust – habe niemand wo ich liegen kann wenn/ öffnen die Blumen wenn öffnen die Sterne der Mond/ habe niemand daß ich sprechen kann wie/ damals zu dir weil kein Wort ist zu jenen/ die noch am Leben. Kalt ist und einsam/ die Nacht, 1 wenig Ende der Lippenzauber/ in 1 Café – ein Abschiednehmen und ins Grab Hineinsprechen durchs ganze Buch, auch mich an den Rand alter europäischer Tränen zwingend. In Aspekte der Malerei gehts um ein auseinander blutendes Stillleben mit Tulpenrot im Milchglasfenster vis-à-vis, in den weißlichen Büschen darum, dass sich die Natur schon ein paar Arrangements einfallen lassen muss, wenn sie Dichterlob herauszuzeln will, und im armen Luder schabt sich die Zweisamkeit in der Verlassenheit und seufzt (vielleicht) die Doppeldeutung vom Wort »Geschirr« unter den Waldschatten. Das sind die Dinge, die bleiben: Moose, Monde, Munde, Mozart, Morellen, Mottenkugeln; dass wir auf Knöchelchen wandeln, weiß jedes Kind.

 

Wie leben und leiden denn willige und unwillige Poeten in dieser von der Politik zur Globalisierung zerrissenen, ja gemeuchelten Zeit? Die Fachzeitschrift Das Gedicht hat ihren 10. Jahrgang dem unsterblichen Thema »Politik und Poesie« gewidmet und sich zur Jubelfeier im zwangsläufig schwächelnden Essay-Teil »Fast ein Manifest« geleistet, in dem ein Kurt Marti, Träger des Tucholsky-Preises 1997, vollfett behauptet: »Poesie ist Moral.« Tucholsky hätte wahrscheinlich vor dem Umgang mit diesem Mann gewarnt. Die »Gedichte gegen Gewalt«, die zur rechten Zeit durch das Heft brettern und gutes Gewissen machen, zeigen aber, dass die Landschaft vom Agitprop, auch vom sozialdemokratischen Gefühlsagitprop der Übereinkunftslyrik, wie chemisch gereinigt ist. Die Lyriker zeigen uns kleine, verstörende Momentaufnahmen – ältere haben vielleicht noch was aufzuarbeiten –, malen uns bedrohliche Bilder oder stellen uns dunkle Rätsel. Sie sind gerade dadurch und nur so »politisch«: als Antitoxin gegen den Sprech- und Verschleierungssdurchfall des globalistischen Vorwärts- und Gleichschaltungsblödismus. In schöner Lakonik dreht Jürgen Theobaldy das allzu wahre Geplapper nur ein bisschen – ach, die Politiker reden ja in ihrer selbst verschuldeten Ratlosigkeit längst in der Sprache der Fußballtrainer zu uns: »Jetzt heißt es vorwärts schauen« – und bläst, bedenkt man es recht, dem bis auf weiteres gescheiterten Zivilisierungsprojekt die traurige Fanfare:

 

DAS LEBEN,

von dem ein jeder weiß,
dass es weitergeht,
geht tatsächlich weiter,

und tatsächlich sagt ein jeder,
das Leben gehe weiter,
und in der Tat sind alle,

die etwas ganz anderes
sagen könnten, tot.

 

Nur einer haut (wieder) voll auf die Kacke, und der Gedicht-Herausgeber Anton G. Leitner wird vor Glück geglüht haben, dass dieser eine sein Werk zu spät eingereicht hat, folglich er dasselbe auf je einem Blatt beilegen konnte, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass bei Beschickung und Versand möglichst viele sich verflüchtigen mögen, und dieser Eine ist die prallvolle Moraltüte Hochhut. Sein Beitrag heißt: AKTIEN STEIGEN, WENN ARBEITNEHMER FALLEN. Es enthält eine Vorrede, in der steht, dass Aktien steigen, wenn Arbeitnehmer fallen. Darauf erhält das Gedicht einen Vorspruch, Zitate aus Zeitungen, aus denen sich ergibt, dass Arbeitnehmer fallen, wenn Aktien steigen, und dann kommen endlich vier Vierzeiler, in denen steht, dass Aktien steigen, wenn Arbeitnehmer fallen. Die letzte Strophe: »Die SPD stützt, was die nebbichem ›Personal‹ zufügen,/ stellt sie steuerlich von jedem Gemeinsinn frei./ Da Genossen längst das Volk mit dem S betrügen,/ braucht Europa eine revolutionäre Partei!«

Da wendete sich dann selbst der Freund revolutionärer Parteien mit Grauen.

So entpolitisierend können »politische« Gedichte sein.

 

Der auch mit seinem Band Sondagen wieder towerhoch aus der durchschnittlichen Gedichtproduktion ragende Thomas Kling hat darin das »Gedichttableau« »Manhattan Mundraum« aus dem Band morsch (1996) fortgeschrieben und über die Stadt, als Schichtenflöz der Epochen und ihrer Irrtümer, die neuen Trümmer in gebotener Zurückhaltung gelegt, zurück- wie vorausahnend die Unendlichkeit des Stürzens. »Manhattan Mundraum«, die Stadt als Hallraum der Zivilisation auf ihren Barbarenfüßen, der Mund mit der verwundenen Zunge als Pforte zum Pförtner, durch den Verdauungstrakt.

 

8/ nahtlos rangezoomtes, zerkratzte satellitndinger. die/ nagelbettn dieser subwaypaare, subwaypassagiere. in/ kerbn, furchung, canyons schwarz: fast schwarz der/ schmutz der lack der stadt. die nagelschluchtn. horn-/ häute. hürnenes klammsystem. kreischn und erzittern.

 

Ein Stück aus Manhattan Mundraum (1996). Jetzt legt der gute Zukunftsarchäologe eine Schicht Totenmehl über den Schmutz:

 

13/ ACH der stumme finger ist der pilger, der vorüberhastet, der sich/ einzuschreiben/ weiß ins leise lack-zerkratzen, ins todten mehl, ach! in dies/ totnmehl hinein.

 

Ein Problem tut sich auf: Mich führt das Totenmehl, ein Synopsenknistern weiter, direkt zum aschenen Haar Sulamiths in der celanschen Todesfuge. Und gehört da doch nicht hin und nicht zusammen. Der Biss in die fett belegten Mythenburger bei Kling, oder Grünbein oder Gräf, erzeugt zunehmend einen etwas faden, undefinierbaren Geschmack von schöpferischer Beliebigkeit, ja musenbürgerlicher Fluchtbewegung. Und kann so leicht auch in die Irre führen. Kling gräbt wieder im Wald und auf der Heide im Moor und Gletscher nach Ötzis aller Art, ruft uns Beowulf auf, der Hexen Qual, Orakel, Antike und Antiquitäten, bestechend kauzig die Reise des Neandertaler-Forschers Fuhlrott mit der Eisenbahn durchs Neanderthal, mit dem Köfferchen mit den Neandertaler-Knochen auf den gekrümmten Knien zum Neandertaler-Kongress ... Ach, die Menschheits- plus Naturhistorie, sie bleibt ein unendlicher Fundus, ein unerschöpflicher Materialmustopf. Der reichte für dreitausend Jahre. Aber wollen wir wirklich ständig im Museum herumlungern? Glaubt denn jemand – außer den beruflich damit gestraften – dass es das kollektive Gedächtnis, tief eingegraben in die Hirnmodermasse wirklich gibt? Nein, wenn die Gattin erstarrt, weil der Göttergatte einen ziehen lässt, wird nicht der verschüttete Orpheus-Mythos evoziert. Und das Erhabene trennt vom Lächerlichen kein Schritt mehr, das Erhabene ist längst das Lächerliche. Was die Mythen wirklich bergen, erleben wir vor unseren Augen: Und der Herr sprach zu Dabbelju, hau’ die Heiden! Los machs du!

 

LEONIDAS II

Hier ist Klitos kleine bude
Hier sein kleines handtuchfeld
Hier sein winziger weinacker
Hier ist sein waldstückchen
Hier hat Klito achtzig jahre verbracht.

 

Zugegeben, das ist ein besonders hohles Beispiel. Zugegeben, niemand versteht es wie Kling, die abgesunkenen Schichten der Menschwerdung mit den aktuellen Katastrophen zu amalgamieren und mit Rückgriffen auf Partikel gesprochener Sprache zu entfeierlichen. Zugegeben, manchmal neigt man dazu, bewundernd zu rufen: Dieser Mann ist ein einziges Weltkulturerbe! UNESCO, übernehmen Sie! Aber dann meldet sich doch wieder die kritische Instanz und flüstert: Es ist mit dem ganzen ollen Plunder wie mit der Oper: Ein Fliehen, ein Distinktionsgewinn, eine Entlastung der gemeinen Verbrecherseele und ein Dazuschreiben in jene Bezirke, wo Brot noch gebuttert ist.

 

Der seit Jahren in der Kling-Klasse spielende Dieter M. Gräf hat in Westrand ein präzises Gedicht über den individuellen, intrapersonalen Täter-Opfer-Ausgleich veröffentlicht, »R.H.: ICH MUSSTE (ICH DURFTE NICHT)«, anhand der Aufzeichnungen von Rudolf Höss, ein überzeitliches und überparteiliches Konzentrat innerer Schurkenwirklichkeit. Es kann hier nur auszugsweise wiedergegeben werden:

 

aber i c h  d u r f t e  n i c h t
die geringste Rührung zeigen.
I c h  m u s s t e
alle Vorgänge mit ansehen.
I c h  m u s s t e,
ob Tag und Nacht,
beim Heranschaffen,
beim Verbrennen der Leichen
zusehen, m u s s t e
das Zahnausbrechen,
das Haarabschneiden,
all das Grausige
stundenlang mit ansehen.
I c h  m u s s t e
selbst bei der grausigen,
unheimlichen Gestank verbreitenden
Ausgrabung der Massengräber
und dem Verbrennen
stundenlang dabeistehen.
I c h  m u s s t e auch
Durch das Guckloch des Gasraums
den Tod selbst ansehen,
weil die Ärzte
mich darauf aufmerksam machten.
I c h  m u s s t e
dies alles tun –
weil ich derjenige war,
auf den alle sahen,
weil ich allen zeigen m u s s t e,
dass ich
nicht nur die Befehle erteilte,
die Anordnungen traf,
sondern auch bereit war,
selbst überall dabeizusein,
wie ich es
von den von mir Kommandierten
verlangen m u s s t e.

 

Gräf scheint in Westrand die Mythenkasperei ein bisserl flotter zu betreiben denn die Tiefenarchäologen Kling oder Grünbein, auch sind seine Verehrten durchschnittlich den Lebenden um ein paar Jahrhunderte näher als die der Verwandten; aber dann reist Gräf auch noch viel, und eigentlich sollten Dichter nicht so viel reisen. Sie kommen sonst nur zu Postkarten (und wir haben gegen das Fernweh das Fernsehn), und weil sie das merken, müssen sie in ihre Reiseergüsse allerlei Spezialwissen einwirken, damits knackt und knirscht – wie verlangt. Und dann brauchen sie zum Gedicht einen Apparat. Das verträgt und trägt so ein zartes Gebilde nur schwer. Da bricht es zusammen. Auch nähern wir uns hier empfindlich der Frage: Poesie oder Posing? Ein Gedicht sollte schon aus sich selbst heraus lesbar sein (was zumindest einen Verstehensanteil von 73 % bedeutet).

Aus dem Appendix zum Gräf-Gedicht »Plattenspieler«: »Zu sehen im Museum of Modern Art, New York, von Gerhard Richter gemalt, als Teil des Zyklus 18. Oktober 1977. – Die (cheruskische) Alraune lässt Heinrich von Kleist in seinem präfaschistischen Drama Die Herrmannschlacht auftreten, sie weissagt Varus seinen Untergang (V/4). Im selben Akt lockt Thusnelda, die hier Thusschen genannt wird, den römischen Legaten Ventidius, statt ihn zu ohrfeigen – er täuschte ihre Gefühle –, heimtückisch in eine Falle, in einen Park, in dem sie eine zu diesem Zweck ausgehungerte Bärin aussetzen ließ, die ihn zerfleischte ...«

Es folgen nach einigen interessanten Details Arminius, Klaus Theweleit, RAF, Berliner Ensemble, Reiner René Müller, Peter Schneider, Stefan Aust, Baader-Meinhof-Komplex, Bernward Vesper, Ursula März ... Alles, wie gesagt, zu »Plattenspieler«. Bilden kann ick mir in die VHS.

 

Manchmal ist auch schlicht nicht schlecht. Harald Hartung (Jahrgang 1932) dichtet sich noch einmal durch sein Leben, von Krieg zu Krieg. Damals:

 

Oesterwind

Am Morgen nach dem Luftangriff
kam das Brotauto, es hielt
wo es immer hielt vor dem Haus
das nicht mehr da war
Oesterwind stand auf der Hecktür
Als sie geöffnet wurde
schwamm ich im warmen Duft

 

Heute:

 

Snapshot

Ein paar einprägsame Fotos werden
immer geschossen aus solchem Anlaß
etwa an einer Straße wo dann zwei
Männer liegen wovon der eine noch
lebt während das Foto geschossen wird

 

Auch Gert Heidenreich erinnert in seinem großen Gedicht Von Geburt an Eberswalde 1944 ff.:

 

Nach dem Krieg kam der Krieg kam der Krieg
kam der Krieg, und mitten im Krieg aalte
der Frieden sich auf dem Balkon

 

Und er gedenkt darin auch einmal unserer lieben Frauen jenseits ihrer Opferrolle:

 

Krieg? Wie sehr Krieg? Die Väterlein: outside, von
Niflheim nicht mehr nach Haus. Die Mütter:
lautstill zogen sie Augen auf Fäden. Sie nähten
Särge aus Blech. Sie nähten und hörten
nimmermehr auf. Sie nähten den Knaben
die Finger zusammen, sie nähten zwei
Beine zu einem, sie nähten den Mädchen die
Lider zu, sie nähten den Söhnen Gewehre an
jede Hand drei. Die Blutstropfen sah ich
mein Lebtag im Fluß einander verfolgen.

 

Er ist ein kräftiger, farbechter, bestechend klarer Verseschreiber, er trauert durchs Buch um den Tod eines Sohnes, der ihm im Ammersee blieb, er ist auch ein großer Reisender und ein Spezialist für Mauern, wie es uns zusteht:

 

Vor einer irakischen Mauer

Über der alten Mauer blühen die
Äste des Kirschbaums.

Schwarzer Regen Kurdistans, die
klaffende Kinderkehle, da
brannte die Erde sich wund.

Dort über Steinen
die glänzenden Triebe, dort
halte das Weiß fest.

Der schwarze Regen Kurdistans, der
kleine zerbrochene Körper. Stumpf
eines Hauses. Ein braunroter Teller.

Hinter der Mauer ein
blühender Kirschbaum.

 

Matthias Hermann, 1958 in Bitterfeld geboren, debütierte 1989 mit dem hochgelobten Werk 72 Buchstaben, in dem er das Schicksal seines jüdischen Volkes durchleidet. Jetzt ist Der gebeugte Klang erschienen, frei von den Abstürzen der, damals an dieser Stelle wüst beschimpften, Agitationsausfälle der 72 Buchstaben, übergossen von Melancholie und der Ratlosigkeit ob der Rohheit des weittrampelnden Lebens, aber auch mit Resthoffnung für die kommenden Tage:

 

Klagemauer, Frauenseite

Dem Mädchen
Springt der Ball
Davon und rollt unter
Der Absperrung hindurch
Zu den Männern.

Kein Flehender
Achtet auf seine Bitte.

Neigte sich einer nur
Für Ball und Mädchen,
Vielleicht würde
Das Flehen
Erhört.

 

Ach, du naher, du mittlerer, du ferner Osten, all ihr verkleideten, zivilisationsfernen Menschen, die ihr noch beim Beten auf die Fresse fliegt! Beinahe hätten wir über eueren Aufführungen schon wieder vergessen, was in unserer Dienstbotenwohnung herumfault. Ludwig Laher, ein Herr aus dem nachbarlichen Linz, graust noch einmal vorm Südostflügel des europäischen Hauses, im Zyklus feuerstunde. gedichte aus nah und inferno.

 

XXIII
Vor dem brandruinierten haus
rußgeschwärzt und ohne dach
hängt ethnisch reine
flüchtlingswäsche
zum trocknen
der tränen:
das leben geht weiter
als man je für möglich hielt

 

Und Horst Samson, rumäniendeutscher Autor aus dem scheinbar unerschöpflichen Temesvarer Dichterpool, gewandert durch Heidelbergs Aussiedlerlager, entbirgt noch einmal das ganz sicher unerschöpfliche Heimweh, die Farben der angstdurchseuchten Heimatlosigkeit in einem Poem on Demand, »La Victoire«, geschrieben in Temesvar, Heidelberg, Leonberg, Hanau, Neuberg-Ravolzhausen. Allein, wer Hanau kennt, versteht seinen Schmerz.

 

ETWAS GEHT DURCHS DORF WIE DER SCHATTEN
Eines Wortes, marschiert durch

Die Pfützen. Der Traum, singt Jani,
Der Dorfnarr, ist ein anderes Land, singt er,
Ist ein windiger Knödel, der rudert
So spät durch die Einbrennsuppe. Und wir müssen so

Fort und auf der Stelle die Fliegen alle

Impfen, sonst sterben sie uns mit
Den Sternen schon vor Lerchenstieg auf

Und davon.

 

Manchmal geht die Gewalt ja auch vom Gedicht aus. Über so eine vormoderne Dichteraufschäumung, so ein unvermutetes Posing, einen verschärften Fall von Regression ist jetzt zu reden, weil dieses ganze großformatige und mit Schund-Art bebilderte Prachtwerk Messer wie ein Coup der angeblich Neuen, crossovernden Rechten herauskommt – und das bei Eichborn.

Till Lindemann (Leipzig) heißt der Dichter, der da ein bisserl Kinder schändet, Frauen aufbricht, sodomisiert, inzestelt, eben die ganze abgestandene Angeberbrühe. Der Prachtband wird von Fotos durchseucht, vom Herausgeber Gert Hof arrangiert oder inszeniert, die Lindemann im erdfarbenen Ganzkörperdress zwischen erdfarbenen Schaufensterpuppen zeigen. Der Mund manchmal serrr rrrot. Gähn! Lindemann ist der Sänger und Texter von Rammstein. Was ihm im Bodyzwickel herumkümmert, ist fern von Rammstein. Das Ganze ist sehr lächerlich. Musikalisch ist Rammstein im Reich überschätzt, was unter anderem daher rühren mag, dass die jungen Leute und die Musikjournalisten nicht wissen, auf welch fruchtbarem und gelegentlich rattenscharf riechendem Mist deren Musik gewachsen ist, und nichts kennen von dem, woher sie kommt. Lindemann kann durchaus Verse – und es handelt sich hier vorgeblich um eigenständige Lindemann-Verse –, die sich in der einheimischen Buchstabensuppe sehen lassen können:

 

Glück

Das Leben birgt auch gute Stunden
hab Fischaugen am Strand gefunden
werd sie auf meine Augen nähen
kann dich dann unter Wasser sehen
und all die bunten Wasserschlangen
aus deinem schönen Schädel fangen

 

Aber meistens kann er halt doch nicht anders, als die Geschäftsidee Lindemann/Rammstein:

 

Tot singt

Leise leise werd ich reiben
mein Diadem auf deinen Poren
will mein Schwanz in Scheiben schneiden
gezogen auf ein dünnes Holz
ihn langsam in dein Arschloch bohren
leise leise schält ein Geier
Hodenhaut aus seinen Fängen
kann jetzt deine fetten Eier
an meine toten Ohren hängen
leise leise kalter Frucht
die Nippel von den Titten reißen
dann werd ich dir mit voller Wucht
mitten in die Fresse scheißen
leise leise heult das Kind
Muttis Urne bleibt nicht leer
wenn sie doch gestorben sind
dann leben sie auch heut nicht mehr

 

Ich glaube nicht, dass man damit ein Kind schrecken oder verderben kann. Und wer hätte nicht schon einmal – wenn auch in glücklicheren Momenten – die Schnuller mehr strapaziert, als ihnen gut tat? Aber man kann so die vorherrschende Begeisterung der Enthirnungsgenossen für die gesellschaftliche Verrohung füttern. Und dann gibt es von dem Herausgeber, Rammstein- und Lindemann-Spezi Gert Hof (Leipzig), offenbar ein weltberühmter Bühnenpyromane, ein Vorwort, aus dem zitiert werden muss: »Lindemanns Gedichte sind verbale Hinrichtungen, poetischer Suizid, sie gleichen einem Fallbeil aus Worten.« Das ist schon fast nackerter Verbalfaschismus. »Es sind Wunden aus Verzweiflung und Hoffnung. Fluchtgedanken voller Einsamkeit aus einem Herzen voller Mut und Sehnsucht geschossen. Ein Florett gegen das Mittelmaß, gegen die Verlogenheit. Eine lyrische Abrechnung, eine Vollstreckung.« Das ist das stereotype faschistische Gegreine, dem die faschistische Propaganda auf dem Stiefel folgt: »Die moralische Überlegenheit besteht darin, dass sie für den Einzelnen keine Hoffnung haben. Vielleicht können sie Schmerzen vermitteln – der einzige Kamerad, der ein Leben lang die Treue hält.« »Sturm aus Flammen ... hoch aus dem Norden«, »Zeiten des Verrats«, »Blutkessel« … Manchmal sagen Worte mehr als tausend Worte. Dieses abgewichste Vorwort mit den hilflosen Gedichtkörpern plus die Verrottungsfotos, dieses Gesamtkunstwerk gehört zum Übelsten, was auf dem legalen Markt derzeit zu bekommen ist. Es hat das Zeug zum Kultbuch. Keine Frage.

 

Beruhigen wir uns mit einem andern Sachsen, Richard Pietraß, rauchen mit ihm eine letzte Zigarette und schleichen uns – im Sinne von: Schleich dich! – mit seiner Einsicht ins Unabänderliche. Pietraß hat, entnehme ich meinem Kritischen Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, das Leben recht gebeutelt. Aus der Nickelhütte gräbt er sich zu Lektoraten und Lyrikredakteursstellen, wird gefeuert, die Frauen sterben ihm weg, der Vater bringt sich um, und dennoch ist er dem Leben nicht lyrisch entflohen, gibt sich manchmal gar als etwas alberner Kenner des Alltags, der Alltagsränke, des Alltagsverschleißes im Brust- und Genitalbereich, an Biberelbe und Eisoderauen, in angenehmer Gelassenheit (Die Überschrift der Kriegslyrik-Rundschau haben wir diesmal, mit vorauseilendem Dank, aus seinem Gedicht Wie meine Tage vergehen geklaut):

 

Schattenwirtschaft

Ich sah den Arbeiter des Todes, kühl
an einen Baum gelehnt. Zwischen seinen schmalen
Lippen die Ewigkeit einer Zigarette.

Unter seinen Klumpenschuhen der Auswurf
eines Grabes, darin einer schon zu lang
gelegen, länger als bezahlt.

Noch war er nicht ganz Lehm geworden.
Doch drängte frisches Fleisch, eingekauft
ins Schattenreich, zu besserm Schwundstückspreis.

Schienbein, Wirbel, Schädelkapsel rollten
an die Resterampe. Ein Steinmetz trug das Mal davon
löscht und stellt es in die Reihe.

Der Gärtner rieb den schlimmen Finger. Nach Deckung
schrie der Sand. Der Pfaffe paraffiert
den Handel und macht das Kreuz mit fauler Hand.

Ich sah den Zuhälter des Todes. Er täufte
letzten Aufenthalt. Räumte die gekaufte Braut
und verschlug den Spalt.

 

Friederike Mayröcker: Mein Arbeitstirol, Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag) 2003 (215 S., 19,80 €)
Das Gedicht. 10. Jahrgang, Nr.10. Weßling (Anton G. Leitner Verlag) 2002 (176 S., 11,50 €)
Thomas Kling: Sondagen (mit CD), Köln (DuMont Verlag) 2002 (140 S., 19,90 €)
Dieter M. Gräf: Westrand, Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag) 2002 (159 S., 15,00 €)
Harald Hartung: Langsamer träumen, München (Hanser Verlag) 2002 (95 S., 13,90 €)
Matthias Hermann: Der gebeugte Klang, Tübingen (Verlag Klöpfer & Meyer) 2002 (116 S., 14,90 €)
Gert Heidenreich: Im Augenlicht, Stuttgart/München (DVA) 2002 (135 S., 16,80 €)
Ludwig Laher: Feuerstunde, Klagenfurt/Celovec (Wieser Verlag) 2003 (71 S., 16,80 €)
Horst Samson: La Victoire, München (Buch & medi@ GmbH/Books on Demand) 2003 (80 S., 9,50 €)
Till Lindemann: Messer, Frankfurt am Main (Eichborn Verlag) 2002 (143 S., Großformat mit Fotos von Jens Rötzsch, 29,90 €)
Richard Pietraß: Schattenwirtschaft, Leipzig (Verlag Faber & Faber) 2002 (93 S., 16,50 €)