INTERVIEW

 

»Der Mensch ist ungleich mehr als nur Konsument ...«

 

Marko Martin im Gespräch mit Pascal Bruckner

 

Der Markt, nicht mehr als ein Mittel, sondern als das Maß aller Dinge, das nicht mehr hinterfragt werden darf: Darin sieht der bekannte französische Publizist Pascal Bruckner einen »Ökonomismus«, der den klassischen Liberalismus vulgarisiert, vereinseitigt und das Diktat des Konsumismus über die Diversität der bürgerlichen Werte stellt. Dieser totalitären Tendenz müsse begegnet werden.

 

Monsieur Bruckner, in Ihrem jüngsten Buch, das soeben unter dem Titel Ich kaufe, also bin ich. Mythos und Wirklichkeit der globalen Welt auch auf Deutsch erschienen ist, konstatieren Sie eine Rückkehr zum Feudalismus innerhalb der gegenwärtigen Marktwirtschaft. Was meinen Sie damit?

Pascal Bruckner: Nun, das Grundprinzip des Kapitalismus ist jenes der Konkurrenz, und bis dato galt immer, dass die Reichsten eben deshalb so reich sind, weil sie die meisten Risiken auf sich nehmen, am cleversten spielen und sich gegen andere durchsetzen. Das heißt, auf einem sehr hohem Niveau waren sie der gleichen Unsicherheit ausgesetzt wie alle anderen, die sich innerhalb der Marktstrukturen bewegen. Was wir dagegen jetzt beobachten, und zwar weltweit – Stichwort Enron in den USA, Vivendi in Frankreich, die italienischen Affären und die deutschen Konflikte um die gigantischen golden hand shakes für die Top-Manager bei Mannesmann oder Ron Sommer von der Telecom –, ist eine Art Sozialismus der Reichen, wo ab einer gewissen Gehaltsstufe eben jenes Konkurrenzprinzip außer Kraft gesetzt wird. Denkt man das zusammen mit George Bushs Steuergeschenken für die allerreichsten Amerikaner oder der französischen Tradition, den Absolventen der grandes ecoles den sofortigen Zugang zu allen möglichen Chefetagen zu garantieren, dann wird man Zeuge des Entstehens einer neuen Kaste, die für mich durchaus feudalistische Züge trägt. Deren exorbitante Gehälter und Trennungsgelder, auf die sie als Status-Geschenk ein nahezu gottgegebenes Recht zu haben glauben, sind natürlich völlig entkoppelt von ihren tatsächlichen Leistungen für das jeweilige Unternehmen – für jeden wirklichen Marktwirtschaftler ist diese Art Kumpelkapitalismus eine schallende Ohrfeige. Es kann ja wohl nicht sein, dass bei jeder drohenden Pleite nach Staatsbürgschaften – das heißt, nach unserem Geld – gerufen wird, während im Gegensatz dazu höchste Profite nicht mehr adäquat besteuert werden. Sichert man so Arbeitsplätze? Man verpackt die Jobs der Top-Manager in Watte, das ist alles. Außerdem: Wie will man denn Reformen in der Gesellschaft durchsetzen und glaubhaft einen Abschied vom traditionellen Sicherheitsdenken anmahnen, wenn an der Spitze dieser Klüngel steht, häufig unproduktiv und stets bereit, sich einander unter die Arme greifen, egal, was es kostet? Es wäre beruhigend, könnte man sagen, dass sich all dies vor allem auf Frankreich beziehe, ein Land mit einer langen aristokratischen Tradition, die auch in der Republik fortgeführt wurde, aber nein: Selbst die angelsächsischen, angeblich so ultraliberalen Länder werden auf höchster Ebene von dieser Piraterie heimgesucht, von Deutschland ganz zu schweigen. Von protestantischer Arbeitsethik ist jedenfalls bei jenen Zahllosen, die sie ihren Angestellten Tag für Tag eintrichtern, keine Spur mehr vorhanden.

 

Entdecken Sie angesichts dieser Ungerechtigkeiten den Charme des Antikapitalismus?

Nein, im Gegenteil. Es gilt, all die Vollmundigen an ihr liberales Credo zu erinnern, das sie tagtäglich verletzten. Das betrifft übrigens auch unsere Staaten, die von der Dritten Welt stets den Abbau von Handelsschranken fordern, gleichzeitig aber deren Produkte für unsere Märkte sperren – durch so genannte Schutzzölle oder marktverzerrende Subventionen zu Gunsten einheimischer Bauern oder, wie in den USA, einer künstlich am Leben gehaltenen Stahlindustrie. Was ist denn kürzlich beim WTO-Gipfel in Cancun geschehen? Die Entwicklungsländer, geführt von Brasilien, Indien und China, forderten lautstark den Abbau genau dieser Schranken. Sie forderten also mehr anstatt weniger Kapitalismus – direkt an die Adresse des reichen Nordens, der zwar überall Handelsliberalismus predigt, de facto aber protektionistisch agiert. Das heißt, wir leben im Inneren einer einzigen Heuchelei, zu deren Kern man freilich nur dann vordringt, wenn man es statt mit antikapitalistischer Rhetorik ausnahmsweise einmal mit konkreter Analyse versucht.

 

Gleichzeitig konstatieren Sie im Denken der reinen Marktideologen eine verblüffende Nähe zum Marxismus. Woher kommt das?

Nun, zuerst einmal braucht jede Macht eine Art Legitimation, eine Selbst-, oder besser noch, eine Fremdbegründung. Wenn sich also einst der König auf Gott berief, taten es die kommunistischen Herrscher mit dem Verweis auf die so genannten »objektiven Bewegungsgesetze der Geschichte«. Jene, die nun heute vom Markt alles Heil erwarten – was sie, siehe oben, jedoch nicht von mehr oder minder großen protektionistischen Verrätereien abhält – argumentieren ähnlich: Wie einst Gottes Ratschluss bei den Klerikern, die Geschichte bei Marx oder die volontée generale bei Rousseau wird nun der Markt zu jener Instanz, gegen die niemand Recht behalten darf – ganz einfach, weil sie existiert. Dabei ist diese metaphysische Überhöhung des Faktischen blanker Obskurantismus mit totalitärer Schlagseite. Denn muss man wirklich aus der Tatsache, dass die Ökonomie – in Marxscher Diktion: das Produktionsverhältnis – so vieles bestimmt, den ideologischen Kurzschluss ziehen, dass sie der Schlüssel zu allem darstellt? Wer nach der Logik des Kommunistischen Manifests im 19. Jahrhundert beim nachmittäglichen Jagen und Fischen sein Glück finden würde, dem soll zu Beginn des dritten Jahrtausends diese seelisch-finanzielle Dauer-Wellness nun durch ganztägliches Konsumieren, beziehungsweise wenn er Aktionär ist, durch nie nachlassendes Geldvermehren garantiert sein. Genau in der Ambivalenzlosigkeit dieser Vorstellung aber liegen Hybris und Gefahr. Selbst in seiner abgemilderten, prodemokratischen Form kommt es zu verhängnisvollen Selbsttäuschungen, als sei der Markt nicht nur Hilfe, sondern Basis und Garant friedlicher Zivilgesellschaften. Als Beispiel: Peking besitzt gegenwärtig die weltweit größte Dichte von McDonald’s-Restaurants, gleichzeitig existieren in keinem Land der Erde, bezogen auf deren Einwohnerzahl, mehr Arbeits- und Straflager als in China. In meinem Buch zitiere ich noch einmal die klugen Gedanken Milton Friedmans aus seinem Anfang der Sechzigerjahre erschienenen Werk Kapitalismus und Freiheit: »Italien oder Spanien zur Zeit des Faschismus, Deutschland in bestimmten Epochen der letzten 70 Jahre, Japan vor jedem der beiden Weltkriege, Russland vor 1914: All diese Gesellschaften kann man nicht als freie bezeichnen. Und doch war in allen diesen Ländern zur genannten Zeit das Privatunternehmertum die vorherrschende Form der wirtschaftlichen Organisation. Es ist also möglich, zutiefst kapitalistische Arrangements in politischen Konstellationen zu haben, die nicht frei sind.« Eine Geschichte, die sich heute in Putins Russland wiederholt.

 

Zur Abgrenzung zum klassischen Liberalismus bezeichnen Sie die jetzige Vulgär-Ideologie als »Ökonomismus«. Gleichzeitig halten Sie es für übertrieben, wenn Menschen meinen, dieser als alleingültige Lebensform daherkommenden Lehre hilflos ausgeliefert zu sein. Was Sie in Ihrem Buch nun jedoch als widerständige Formen des Sich-Entziehens vorschlagen, klingt – pardon – doch ein bisschen wie das säkulare Trost-Brevier eines urbanen Intellektuellen: Statt der Dauer-Berieselung durch Konsum und Fernsehen lieber ein gutes Buch, ein schmackhaft zubereitetes Essen, Reisen abseits des Massentourismus, die unbezahlbaren Wonnen der Erotik ... Was soll die sprichwörtliche Supermarktkassiererin, die abends nur abschalten will, um ihr modernes Galeerenleben zu vergessen, mit dieser Art Alternative anfangen?

Nun, sie muss ja nicht unbedingt Baudrillard lesen – was übrigens für uns alle eine ziemliche Zumutung darstellen würde. Aber ihr das real Mögliche des Reisens, Essens, Liebens als sozusagen »nicht klassenkompatibel« abzuerkennen, wäre doch ziemlicher intellektueller Hochmut – pardon. Was ich vorschlage, ist nämlich bei genauem Nachdenken realistischer, als es scheint. Natürlich kann man heute auch außerhalb von Gruppentarifen preiswert reisen. Natürlich finden sich inzwischen in den billigsten Supermärkten kostengünstige Delikatessen, und natürlich haben die meisten »kleinen Leute« Geld, selbst wenn sie es größtenteils nicht für qualitative Verfeinerungen, sondern für quantitativen Ramsch ausgeben. Genau das jedoch tun die mittleren, höheren und nicht zuletzt auch die quasi »gebildeten Schichten« ebenfalls. Die gleiche Falle, die gleichen Möglichkeiten – und ergo auch häufig die gleiche Fantasielosigkeit, diese Möglichkeiten effektiv für sich zu nutzen. Es gilt eben nicht nur, dem sympathischen Bill Clinton von 1992 zum Trotz: It’s the economy, stupid. Keinesfalls! Eigentlich hätte diese Idee ja schon 2000 mit dem Zusammenbruch des »neuen Marktes« zu Grabe getragen werden müssen. Es war eine Illusion, dass nach dem Ende des Kalten Krieges die Dinge der Ökonomie die Leidenschaften der Politik abgelöst hätten und nun langsam weltweit für ein stetiges Wachstum sorgen würden. Bosnien, Ruanda oder der Kosovo galten in dieser Sicht der Dinge nicht etwa als Menetekel, sondern lediglich als blutige Episoden aus der Peripherie des Geschehens, die schon bald von der neuen großen Erzählung des siegreichen Kapitalismus obsolet gemacht werden würden. Bei all unserer Desillusionierung dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass es sich hierbei um ein durchaus menschenfreundliches, um die friedliche Entwicklung des Individuums besorgtes Konzept handelte. Zu einer sträflichen Illusion wurde es wieder einmal allein durch die Unfähigkeit seiner Propagandisten, auch die Schattenseiten, Gefahren und unkalkulierbaren Risiken mitzudenken. Dass nämlich ein gewaltbereiter Nihilist und potenzieller Selbstmordattentäter schon durch die Tatsache, dass aus einer unwirtlichen Vorstadtbrache plötzlich ein konsum- und kinderfreundliches Wohnviertel wird, von seinem Fanatismus geheilt werden könnte, ist nur ein frommer Gedanke. Aber noch einmal: Ökonomische Überlegungen sind nicht einfach nur lächerlich, und sie so radikal zu verdammen wie es manche Antiglobalisierer tun, führt nicht nur in ideologische Sackgassen, sondern auch in die Armut – nichts schlimmer, als wenn die erwähnte Vorstadthölle sich nicht verändert oder die Auslagen der Läden leer bleiben. Ökonomie ist auch eine der Möglichkeiten menschlicher Emanzipation. Der Mensch ist ein Wesen mit Wünschen, mit dem Drang sich zu verbessern, Misslichkeiten abzuhelfen und Dinge zu perfektionieren – was ihm teilweise ja auch gelungen ist, wenn auch in größerem, sozial messbarem Ausmaß erst im 20. Jahrhundert und selbst da fast nur in den westlichen Gesellschaften. Jedenfalls wurde damit ein Traum der Aufklärung wahr. Was wir jedoch in den letzten Jahren beobachten, eben jenen Triumph des »Ökonomismus«, ist ein Verlust all der Nuancen, für welche die Philosophen des 18. Jahrhunderts gestritten haben: Überlegungen zur Würde, Lebensart und geistigen Unabhängigkeit, die sich eben nicht nur durch das Bankkonto und gesellschaftlichen Status ausdrückt. Die Komplexität des sozialen Lebens – der Mensch lebt nicht vom Brot allein – wird dabei völlig ignoriert, ganz so, als müsste nun nach dem Ende des Kommunismus schon wieder eine neue Ideologie durchgepeitscht werden. Wenn der Markt und permanentes Konsumieren angeblich glücklich machen und vom Fanatismus heilen – ein Lieblingsargument all der neuen Prediger, deren Kenntnis vom Wesen des Bösen gleich Null ist – wie ist dann zu erklären, dass der 11. September mit der finanziellen Hilfe der saudi-arabischen, ägyptischen und jemenitischen Großbourgeoisie ins Werk gesetzt wurde?

 

Kommen wir doch noch einmal auf die von Ihnen aufgezeigten individuellen Gegenstrategien zurück, die »berühmten anderen Werte« ...

... von denen Sie anscheinend glauben, sie wären nur für die Intellektuellen der Mittelklasse attraktiv und für die so genannten common people von minderem Nutzen, wenn überhaupt. Es kommt aber darauf an, welche Werte man propagiert, was man sich unter einem guten Leben vorstellt, welche Diversität man auch jenseits des Konsumierens zulässt. Ich wiederhole es noch einmal: Die materielle Basis dafür wäre da, denn gerade Arbeiter und Angestellte verfügen über unendlich mehr Freizeit, als man ihrer Klasse in früheren Zeiten zugestanden hatte. Wer sich also in dieser zusätzlich als persönliches Reservoir aufgetauchten Lebenszeit mit stupiden Fernseh-Serien und Junk-Food vollknallt, folgt zwar schafsartig einer Werbestrategie, die von anderen für ihn ausgetüffelt wurde, gleichzeitig ist es aber noch immer seine eigene Entscheidung, diese Art »Aktivität« zu wählen. Beides gehört zusammen und es wäre unredlich, diese Ambivalenz zwischen Fremdbestimmung und Wahlfreiheit zu leugnen. Natürlich möchte ich mit meinem Buch Letztere stärken und ein wenig Mut machen, sich ihrer auch wirklich zu bedienen. Ein Schlüssel dafür ist die Schule. Was erwarten wir von ihr? Die Produktion von lauter kleinen Konsumenten oder die Vermittlung von Kenntnissen der Kultur, Geschichte, Literatur oder Naturwissenschaft, die später auf dem Markt vielleicht keine sofort abrechenbaren Pluspunkte ergeben, sondern »nur« unser inneres Leben reicher gestalten? Es geht schlicht darum, das Lernen wieder als Luxus zu begreifen: Ja, es ist toll, zu wissen, wo Tibet liegt und wer Octavio Paz war, auch wenn mich das nicht sofort »beruflich weiterbringt«! Demgegenüber wird in den USA das Modell eines »just in time open learning« immer ausgreifender und populärer, wo man, vor allem per Internet, nur das lernt, was man im Rahmen eines speziellen Arbeitsmarkt-Profils zu benötigen glaubt. Gleichzeitig sponsern große Firmen die Schulen und verpflichten diese, deren Produkte wie zum Beispiel Computer nicht nur zu verwenden, sondern auch aggressiv dafür zu werben, was bis zu gesundheitsschädlichen, fett machenden Fastfood-Läden direkt im Schulgebäude führt. Der Mensch, reduziert auf seinen Status als Konsument, das riecht tatsächlich nicht nur für »Alt-Europäer« nach Totalitarismus. Dahinter steckt nämlich die Wahnidee, dass der Markt alles regeln und seinen Prinzipien alles untergeordnet sein müsse. Wenn dies tatsächlich so wäre, weshalb bräuchten wir dann noch Politiker und Parteien anstatt Firmen und Markennamen und überdies: Funktioniert dieses Programm eines pervertierten Individualismus dann auch bei Krankenschwestern, Lehrern oder Kindergärtnerinnen? Zum Glück gibt es im Menschen immer etwas, das sich diesen Anmaßungen und Vereinfachungen entzieht, den Moment, in dem er keine Maschine mehr sein will und sich den monokausalen Funktionsbefehlen verweigert. Ich bestehe darauf, dass jeder diese Chance hat, schließlich sind wir ja noch keine Roboter! Eine breit angelegte Untersuchung quer durch alle sozialen Klassen Frankreichs hat kürzlich gezeigt, dass im Guten wie im Schlechten klassenübergreifendes Verhalten zu beobachten ist: Das gleiche Junk-Food, das gleiche sinnlose Wissen über Seifenopern und deren Sternchen, über Dschungelcamps und Big Brother – leider nicht den von Orwell – aber eben auch über ernsthafte Bücher und Filme, die das Glück hatten, dass man über sie spricht. Pierre Bourdieu irrte also mit seiner Theorie über die sich immer mehr verfeinernden und verfestigenden sozialen Unterschiede im Geschmack; die Möglichkeit, zwischen Schund und wirklich Bereicherndem zu wählen, ist nicht abhängig vom Geldbeutel.

 

Führt die Pauschalkritik der Globalisierungsgegner mit ihrem polemischen Trommelfeuer demnach auf dialektischem Umweg nicht vielleicht doch dazu, dass die Bürger wieder bewusster werden und der Kapitalismus das zu tun gezwungen ist, was er seit jeher getan hat – sich durch flexibles Ernstnehmen der gegnerischen Argumente zu erneuern?

Ja, es sieht ganz danach aus, obwohl die Verfechter der reinen Attac-Lehre sicherlich einen Wutanfall bekommen würden, machten sie sich klar, welche List der Vernunft sich ihrer da bedient. Gleichzeitig stecken sie selbst tief in der Falle des Ökonomismus – wie ihre Gegner glauben sie fest daran, alles würde sich verbessern, wenn man nur den ökonomischen Rahmen verändert. Wenn man so will, ist das der gleiche Materialismus, nur reziprok oder spiegelverkehrt. In ihrem unnachgiebigen Pochen auf soziale und Umweltstandards, in ihrem weltweit aktiven Aufdeckungs-Impetus – auch das ein positives Ergebnis der verteufelten Globalisierung! – bringen sie jedoch die Mandarine in den Chefetagen gehörig zum Schwitzen, säen Misstrauen unter die träge Masse der Konsumistenlämmer, sensibilisieren sie die Öffentlichkeit, kurz: Trotz antikapitalistischer Rhetorik sorgen sie dafür, dass das System transparenter wird und nicht im Größenwahn erstarrt. Ich denke nicht daran, genau dem meine Sympathie zu versagen.

 

Genau diesen Schritt scheinen aber die liberalen Anti-Totalitären von André Glucksmann bis hin zu Jean-Francois Revel nicht gehen zu wollen. Nicht zu Unrecht konstatieren sie im Umfeld von Attac irrationalen Antiamerikanismus, apolitische Romantizismen aus dem 19. Jahrhundert und überdies völlige Gleichgültigkeit gegenüber den schrecklichen Verhältnissen in Ländern wie China, Nordkorea oder Tschetschenien.

Nichts von dem, was Sie hier als Kritik erwähnen, ist übertrieben – leider. Es gibt keinen Grund, die Augen davor zu verschließen. Mit ein bisschen Lebensweisheit kann man jedoch auch zu dem Schluss kommen, dass illusionäre Absichten – oder sagen wir es neutraler: überschäumende Vorstellungen – mitunter auch zu ganz passablen Resultaten führen, was freilich kein Naturgesetz ist. Das Jahr 1968 zum Beispiel hat trotz aller ideologischer Delirien die westlichen Gesellschaften insgesamt liberaler gemacht und wieder einmal ungleich attraktiver im Vergleich zu den kommunistischen Staaten, deren Geheimdienste diese Gefahr der gesteigerten Verführungskraft übrigens sehr deutlich sahen.

 

Eine abschließende Frage an den Essayisten und Romancier. In ersterem Genre analytisch so ganz ohne – pardon – das in Frankreich übliche poetisierende Rhetorik-Blabla, der Kraft stringenter Argumente vertrauend, in den Romanen wie dem von Roman Polanski verfilmten Bitter Moon dagegen ein nahezu dämonischer Meister des Dunklen und Vagen, der oszillierenden Welt der sexuellen Obsessionen. Mario Vargas Llosa, der Erzdemokrat, sagte einmal: Sobald ich einen Roman schreibe, werde ich zum Diktator und ordne Handlung und Figuren meiner Logik unter.

Das ist eine schöne Definition. In der Tat haben Ekstase, Naivität und dunkle Fantasien in zeitkritischen Essays nichts zu suchen, schließlich lehrt das 20. Jahrhundert auf schreckliche Weise, was passiert, wenn derlei dennoch geschrieben und vor allem gelesen und in der Praxis nachgeahmt wird. Gleichzeitig sind wir nicht in allen Lebens- und Körperlagen moderate Bürger, die dem common sense verpflichtet sein müssten. Schon die aufklärerischen Moralisten des 18. Jahrhunderts wie Diderot oder Voltaire besaßen ja ein berechtigtes Interesse an der faszinierenden und ewig konfliktbeladenen Verbindung zwischen Hirn, Herz und den südlicheren Körperregionen. In Frankreich hat darüber hinaus der literarische Essay Tradition, ebenso wie essayistische, reflektierende Elemente im Roman. Da liegt die Gefahr nahe, beides zu vermischen und in einem Strom unendlichen Räsonnierens – Sie sagen Blabla – untergehen zu lassen. Um das Sich-Entgrenzen innerhalb einer Romanhandlung zu halten, braucht es also durchaus begrenzende Strenge; ich hoffe, dass mir dies bis jetzt immer gelungen ist. Natürlich gibt es in der Literatur Mitteleuropas auch Beispiele einer Synthese wie etwa bei Hermann Broch oder Robert Musil.

 

Die kein Mensch mehr freiwillig liest.

Akademiker und unglückliche Germanistikstudenten tun es vielleicht immer noch. Aber zumindest in den gelungenen Romanen von Milan Kundera oder Philip Roth wird deutlich, dass Handlung durchaus in Reflexion übergehen kann und vice versa, nur folgt diese Reflexion dann eben nicht dem so genannten öffentlichen Interesse, sondern allein dem vom Autor entwickelten Strukturprinzip. Wenn man so will: Eine Diktatur zum permanenten Vergnügen des Lesers.

 

Aus dem Französischen von Marko Martin

 

Pascal Bruckner, geboren 1948, ist einer der prominentesten französischen Essayisten und Romanciers der Gegenwart. Studium der Philosophie an der Sorbonne, Promotion bei Roland Barthes. Auf Deutsch erschienen unter anderen Das Abenteuer gleich um die Ecke. Kleines Handbuch der Alltagsüberlebenskunst (1981) und Die neue Liebesordnung (1989, beide Bücher zusammen mit Alain Finkielkraut); Bruckners Abrechnung mit der Dritte-Welt-Ideologie Das Schluchzen des weißen Mannes (1984), die Essays Die demokratische Melancholie (1990), Ich leide, also bin ich (1996), Verdammt zum Glück (2000) sowie die Romane Bitter Moon (1981) und Diebe der Schönheit (1998). Die meisten von Bruckners Büchern sind im Berliner Aufbau-Verlag lieferbar, bei dem jetzt auch der im Gespräch erwähnte Essay Ich kaufe, also bin ich. Mythos und Wirklichkeit der globalen Welt (aus dem Französischen von Manfred Flügge, 233 S., 19,90 €) erschien.