Dick Howard
Europa als politisches Projekt
Die
Hoffnungen auf einen »Dritten Weg« werden sich nicht erfüllen
Europa und Amerika sind schon seit ihren Revolutionen verschieden; sie
entwickelten unterschiedliche Arten des Liberalismus mit großen Folgen. Unser
Autor legt dar, wie sich gegenüber der republikanischen Demokratie in den USA
in Europa die demokratische Republik konstituiert, mit anderen strukturellen
Merkmalen und anfälliger für totalitäre Unternehmen. Der »dritte Weg« nach 1945
begann zwar zunächst als Wirtschaftsgesellschaft (»gemeinsamer Markt«), immer
deutlicher drängt sich nun seine Artikulation als politisches Projekt auf.
In den
Achtzigerjahren half ich einigen Freunden bei der Produktion einer Radiosendung
für den linken New Yorker Radiosender WBAI mit dem Titel »Europa-in-Formation«.
Dies war zu einer Zeit, lange bevor die fundamentale innere Schwäche der
Sowjetunion offenkundig geworden war und viele Linke noch immer auf einen
wahren oder guten oder geläuterten Sozialismus hofften. Unser Gedanke war, dass
das Modell einer Europäischen Union, die den Wohlfahrtsstaat ausdehnte und dem Realpolitik-Zynismus
einer im Namen der Bekämpfung des kommunistischen Feindes repressive Regimes
unterstützenden US-Regierung trotzte, politische Kritik ermutigen würde, die
noch links war, auch wenn sie schon einen Schuss Realismus enthielt. Der
Prozess, mit dem Europa ins Leben gerufen wurde, sollte als Inspiration für die
Schaffung einer Linken dienen, die gleichzeitig demokratisch und sozial war.
Zwei Jahrzehnte später ist das
Thema Europa noch immer relevant, doch die Herausforderung hat sich geändert.
War die Linke einst stursinniges Opfer ihrer eigenen ideologischen Träume oder
Hoffnungen gewesen, so gibt es heute, nach dem Ende des Kalten Krieges und mit
dem Sieg von Liberalismus und Kapitalismus, kein wirklich bedeutendes linkes
politisches Projekt mehr. Damals war die Linke voller Ideen, ersann immer neue
Projekte und verknüpfte die unbestreitbar wichtigen, aber immer nur partiellen
und zeitlich begrenzten Erfolge zu einer globalen Vision. Heute hat die Linke
wenig neue Ideen; ihre Politik besteht im Widerstand gegen die krassesten
Vertreter der freien Marktwirtschaftspolitik und die Versuche sozialer
Reaktionäre, die Errungenschaften der Moderne zurückzudrängen.
Die europäische Idee hat erheblich
an Attraktivität gewonnen, seitdem sogar in Ländern, die Verteidigungsminister
Rumsfeld zum »neuen« Europa rechnet, gesunde Mehrheiten aufgetaucht sind, um
dem präemptiven Unilateralismus der amerikanischen Außenpolitik
entgegenzutreten. Andererseits wurde jenes »alte« Europa – nicht ganz
unbegründet – als schwächliche »Venus« denunziert, deren Wohlergehen von der
Stärke des amerikanischen »Mars« abhänge. Hinzu kommt, dass zumindest in
einigen Ländern (wie z. B. Frankreich) beträchtliche Minderheiten im
Einflussbereich der Sozialistischen Partei ernsthaft erwogen haben, im Fall
eines Referendums gegen die Ratifizierung einer eventuellen europäischen
Verfassung zu stimmen. Europa schien für sie nur Vehikel für einen expandierten
Kapitalismus zu sein; seine Fortschritte auf dem Gebiet der Menschenrechte
stünden lediglich als eine Konzession an den Liberalismus. Aus einer solchen
Perspektive leidet Europa an einem »demokratischen Defizit«.
Um
zunächst eine Übersicht über Stand und Implikationen des
europäischen Modells heute zu bekommen, greife ich hier auf die frühere
Unterscheidung zwischen zwei Arten des Liberalismus zurück. Die Wurzeln dieser
Unterscheidung sind sowohl historischer als auch begrifflicher Natur, ihre
Erscheinungsformen kann man hingegen in der politischen Kultur von Europäern
und Amerikanern beobachten.
Ein viel versprechender Ansatz,
dem Unterschied zwischen den beiden Kulturen auf die Spur zu kommen, ist der
Vorschlag Pierre Hassners(1), die Verschiedenheit auf die Tatsache
zurückzuführen, dass Europa ein Kontinent ist, der aus durch ihre Grenzen
definierten Nationen besteht, woraus sich die Notwendigkeit ergibt, Allianzen
zu schließen und eine ausgewogene Machtbalance anzustreben; Amerika hingegen
ist ein Kontinent, der die Isolation wählen kann, der festlegen kann, wann er
Gewalt anwendet oder sich für die friedliche Waffe des Handels entscheidet.
Infolgedessen hat Europa gelernt, die Nützlichkeit von Herrschaft begrenzenden
Regeln anzuerkennen und gleichzeitig sicherzustellen, dass ein Krieg auf die
beschränkt bleibt, die auch tatsächlich an dem Zerwürfnis beteiligt sind. Die
USA indes lehnen jedwede Begrenzung ihres souveränen Willens ab; begeben sie
sich in einen Krieg, akzeptieren sie keine Einschränkungen. Das alte Europa
nennt die vereinbarten Regeln »Zivilisation«, während das junge, kraftvolle
Amerika sie als Beschränkungen denunziert und als Willenschwäche kritisiert.(2)
Doch Hassner erkennt, dass die
europäische Lösung bedroht ist. Ihre zivilisierten Grundsätze gründen auf einem
westfälischen Begriff eines souveränen nationalen Willens, der in einer
globalisierten und »postmodernen« Gesellschaft, die nationale Grenzen
überschreitet und den Bürger in einen Konsumenten verwandelt, vielleicht nur
noch ein Traum ist.(3) Dies könnte die Klagen über ein »demokratisches Defizit«
in der EU erklären.(4) Doch das ist zu einfach. Die Frage der Institutionen
hängt ab von kulturellen Prämissen.(5) Die Unvollkommenheit von Demokratie
anzuprangern ist ein wohlfeiler Trick, wie Nationalisten und Kommunisten nur zu
gut wissen. Besser ist es, das Problem mit etwas Distanz zu betrachten und sich
mehr auf die vagen, doch für diesen Zweck fruchtbaren Begriffe von Kultur und
Geschichte zu konzentrieren.
Der Gegensatz zwischen
europäischer und amerikanischer Kultur geht zurück auf die Französische Revolution
und die Amerikanische Revolution. Die Amerikaner mussten sich von der Kontrolle
des Britischen Empire befreien. Ihre neuen Institutionen versuchten, eine unabhängige
Gesellschaft zu bewahren, in der materielle Ungleichheit neben der Abwesenheit
von Statushierarchien existierte. Diese Abwesenheit erklärt den antistaatlichen
Liberalismus der Amerikaner, in dem die (präpolitischen) Rechte des Individuums
pragmatisches Eigeninteresse über kollektive Ziele stellen. Sie erklärt auch
das oft zu beobachtende Fehlen sozialer Solidarität in einer auf brutalen
Wettbewerb ausgerichteten Gesellschaft.
In Frankreich dagegen schuf die
königliche Macht aus feudalen Verschiedenartigkeiten nationale Einheit; doch
gleichzeitig heiligte sie eine hierarchische Gesellschaftsordnung.
Infolgedessen war es notwendig, die staatliche Macht zu erobern und zu
gebrauchen, um eine Gesellschaft zu errichten, die auf (zumindest dem Prinzip
nach) gleichen Rechten für alle basierte. Der hieraus resultierende
Liberalismus berief sich auf Rechte, die, obwohl sie als »natürlich« bezeichnet
wurden, nur mittels staatlicher Intervention wirksam wurden. Der
Individualismus (den Tocqueville als die neue, in der amerikanischen Demokratie
auftauchende Bedrohung erkannte) ist eine Gefahr für die auf festen Grundregeln
beruhende und sich selbst beschränkende Zivilisation, die die europäischen
Staaten geschaffen haben; seine Befassung mit Einzelinteressen ist eine
antipolitische Bedrohung für die in einer konkurrenzbestimmten (und anomischen)
Gesellschaft benötigte Art von Solidarität, die auf das Individuum vor der
Macht des Kollektivs beschützenden Rechten basiert. Wir können natürlich nicht
erwarten, dass Tocquevilles assoziative Demokratie im neuen Europa der 25
kopiert wird. Doch gibt es ein funktionales Äquivalent?
Formen der
Solidarität sind kulturelle Produkte, deren Konsequenzen weder
unmittelbar noch einfach sind. Man könnte fragen, warum die europäische
Orientierung die (zweieiigen) Zwillinge Sozialismus und Nationalismus
hervorgebracht hat, die in den USA immer nur vorübergehend Fuß fassen konnten.
Die Antwort hängt ab von den kulturellen Erwartungen. Der Versuch,
Rechte mittels staatlichen Handelns zu institutionalisieren, kann nicht mit dem
Erreichen von lediglich formaler Gleichheit beendet sein; die Vorstellungen von
Gleichheit und von Rechten treiben einander auf der (utopischen) Suche nach
Verwirklichung einer, wie ich es nenne, demokratischen Republik voran.
Ihr Ziel ist es, soziale Beziehungen frei zu machen vom Makel der
Partikularität oder Hierarchie; Einheit ersetzte die Verschiedenheit, so wie
die Entfremdung des politischen Lebens überwunden ist, wenn die Gesellschaft
völlig rational wird.(6) Das Problem ist allerdings, dass diese vollkommene
Realisierung von Gleichheit und von Rechten in Konflikt geraten kann mit
dem Recht, Rechte zu haben – das partikular, unterschiedlich und individuell
(individualistisch) ist. Auf Rechte basierender Liberalismus kann als Feind
gesellschaftlicher Solidarität erscheinen.(7)
Eine andersartige institutionelle
Geschichte schuf eine amerikanische politische Kultur, die sich in Richtung republikanische
Demokratie orientierte. Als die Amerikaner sich von Britannien befreiten,
versuchten sie sicherzustellen, dass der politische Staat (dessen Existenz laut
Paine ein Zeichen menschlicher Sündhaftigkeit ist) ihre Selbstbestimmung nicht
beschneiden könne. Doch bald lernten sie die notwendigen Grenzen kennen, die
Sünde dem Stolz auferlegt. Ihre nationale Konföderation war zu schwach, um die
Ehrgeizigen zu bannen, die die Lokalpolitik in Unordnung brachten (insbesondere
in Pennsylvania). Eine neue nationale Konstitution wurde erstellt und von
speziell gewählten Konventen ratifiziert. Eine Veranschaulichung der Art und
Weise, wie dieses republikanische Dokument Demokratie nicht nur bewahrte,
sondern auch förderte, findet man in der Rechtfertigung des Senats (in Federalist
63). Ein Senat soll eigentlich die aristokratische Ordnung repräsentieren,
die im egalitären Amerika jedoch nicht existierte. Was repräsentiert er dann?
Er repräsentiert das Volk – so wie dies alle Institutionen einer
republikanischen Demokratie tun. Und das wiederum bedeutet, dass keine
Institution beanspruchen kann, vollständige Verkörperung des souveränen
Volkes zu sein. Doch genau dies versucht eine demokratische Republik zu tun.(8)
Diese Unterscheidung deutet darauf
hin, warum Europa Schauplatz sowohl für nationalistische als auch für
sozialistische Ideologien werden konnte. (Amerika ist natürlich nicht
frei von solchen Versuchungen, insbesondere in Zeiten, wenn die Nation selbst
sich bedroht fühlt.(9)) Die demokratische Republik, die die Trennung zwischen
der Gesellschaft und ihrer politischen Vertretung zu überwinden sucht,
veranschaulicht, was ich eine Politik des Willens nenne. Der Wille muss
einheitlich und harmonisch sein; ein geteilter Wille ist unfähig zu wollen.
Sozialismus auf der einen Seite, Nationalismus auf der anderen versuchen –
jeder natürlich auf seine eigene Art – die Trennung zu überwinden und Einheit
und Homogenität zu schaffen, während sie Partikularität und Differenz
absorbieren. Diese Tendenz erreichte ihre extreme Form in den
Zwillings-Totalitarismen, die Schande über das 20. Jahrhundert brachten.
Der
Verweis auf den Totalitarismus bringt uns in unsere heutige
Zeit. Nach 1945 war der Nationalismus so diskreditiert, dass sogar die
allmächtigen USA die Notwendigkeit einer multilateralen Welt anerkannten. Doch
der Ausbruch des Kalten Krieges, verschärft durch den sozialistischen Traum von
realer Demokratie, der in Westeuropa nach wie vor lebendig war,
veranlasste viele Europäer, nach einem dritten Weg zu suchen. Voller Furcht vor
einem neuen Nationalismus, doch auch getrieben von der Notwendigkeit, ihre
eigene Arbeiterklasse zufrieden zu stellen, unternahmen sie Schritte in
Richtung einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik, die 1956 im Vertrag von Rom
ihren Höhepunkt fand. Die politischen Implikationen dessen, was zunächst
einfach »Common Market« genannt wurde, wurden erst offenbar, als er durch
Britanniens Schaffung einer »Europäischen Freihandelsassoziation« (EFTA) auf
die Probe gestellt wurde. Jene Reduzierung von politischen auf Marktbeziehungen
(wie die Kritik am Vertrag von Rom wegen der Absegnung der Ungerechtigkeiten
des internationalen Kapitals) stellte eine weitere Variante der Politik des
Willens dar, dieses Mal basierend auf der Annahme, die unsichtbare Hand des
Marktes werde das wettbewerbsorientierte Handeln der Einzelnen in eine
rationale und einheitliche Gesellschaft transformieren. Die Ablehnung der
Autonomie der politischen Sphäre basierte auf der Vision einer Gesellschaft,
die für sich selbst völlig transparent war. Das Scheitern der britischen
Alternative bedeutete, Europa würde lernen müssen, die politische Substanz
seiner eigenen Kultur zu artikulieren. Der dritte Weg konnte nicht einfach
zwischen zwei Arten von Wirtschaftsgesellschaft liegen.
Zur Zeit des Kalten Krieges kam
das europäische Projekt nur langsam voran. Doch der Wendepunkt kam schon vor
dem Ende des Sowjet-Imperiums. Die antitotalitäre Politik, die im Gefolge des
Abkommens von Helsinki aufkam, stellte klar, dass Menschenrechte nicht nur vom
Staat gewährt werden; es handelt sich auch nicht um die privaten Rechte, die
stereotyp mit dem amerikanischen liberalen Individualismus gleichgesetzt
werden. Die Politik der Menschenrechte ging einher mit der Vorstellung von
einer autonomen Zivilgesellschaft. Doch diese Vision war noch immer offen für
die Versuchung einer Politik des Willens, die die Trennung von Staat und
Gesellschaft in der Einheit einer Zivilgesellschaft aufheben wollte. (Dies
könnte die Anziehungskraft für einen Teil der westlichen Linken erklären, die
hier das mise en oeuvre ihres eigenen Ziels des selbst verwalteten
Sozialismus sehen konnte.) Die Verhängung des Belagerungszustands in Polen
sollte die Notwendigkeit irgendeiner Art von politischem Staat zum Schutz der
Rechte des Individuums klar gemacht haben, ohne die eine Zivilgesellschaft sich
nicht behaupten kann. Doch welche Art von Staat? Genau an diesem Punkt
beginnt »Europa« seine gegenwärtige Karriere; die Vorstellung vom »dritten Weg«
wird nun nicht länger in ökonomischen Bezeichnungen gefasst; sie muss jetzt
politisch gefasst werden.
Was könnte mit der Vereinigung
Deutschlands und der Integration der früher zum sowjetischen Block gehörenden
Staaten aus dem europäischen Projekt werden? Die erste Aufgabe ist eine
negative, nämlich die Fehler einer Politik des Willens zu vermeiden, die von
der Europäischen Union verlangen würde, das sozialistische (oder das nationalistische)
Projekt umzusetzen. Dieses Ziel, vermute ich, liegt implizit der Anprangerung
eines »demokratischen Defizits« zu Grunde (womit nicht gesagt sein soll, dass
die gegenwärtige EU eine Demokratie im klassischen Sinne ist). Die Frage
ist weniger eine institutionelle als eine kulturelle; Europa muss eine Art von
Einheit schaffen, die solider ist, denn es ist plural. Solidarität basiert
nicht auf Identität oder dem Ausschluss von Verschiedenheit. Hier kann das
europäische Projekt zu einem besseren Selbstverständnis kommen im Vergleich mit
dem amerikanischen Versuch, eine liberale politische Kultur zu bewahren.
Ein Blick
zurück auf die historischen Wurzeln von Amerikas republikanischer
demokratischer Kultur veranschaulicht das Problem. Zwölf Jahre nach
Ratifizierung der neuen Verfassung wurde Jefferson in der von Zeitgenossen so
genannten »Revolution von 1800« zum Präsidenten gewählt. Jeffersons
Unterstützung der Französischen Revolution ließ die Menschen glauben, er bringe
sozialen Wandel, eine amerikanische Version von 1793. Was wirklich revolutionär
war, war nicht der Inhalt der jeffersonschen Politik(10), sondern die bloße
Tatsache, dass Macht auf friedliche Art und Weise von einer Partei auf die
andere überging. Das hatte es noch nie zuvor gegeben; es wurde möglich
durch die einzigartige politische Kultur, die schon zu Beginn dieser Erörterung
beschrieben wurde: »Das« Volk (in seiner Pluralität und Verschiedenheit(11))
wird in allen Institutionen der Republik repräsentiert, und das bedeutet, dass
es in keiner verkörpert ist. Doch selbst Jeffersons Republikaner verstanden
diese republikanische Demokratie nicht, wie sie kurz darauf unter Beweis
stellten, als sie es ablehnten, die (»Mitternachts«-)Berufung eines
Bundesrichters durch die abtretende Regierung zu bestätigen. Sie waren jetzt
schließlich die demokratisch gewählte Mehrheit, die, davon gingen sie aus,
nicht durch das Handeln einer früheren Mehrheit gebunden war. Im Jahr 1803
erließ das Oberste Gericht im Fall von Marbury vs Madison das Urteil,
das zur Grundlage seiner eigenen unabhängigen Macht werden sollte – einer
Macht, die, wie jede Macht in den Vereinigten Staaten, eher auf der
Verfassung als auf irgendeiner temporären Mehrheit basiert.
Diese beiden institutionellen
Neuerungen waren durch die Kultur einer republikanischen Demokratie möglich
geworden. Sie resultieren aus einer Politik durch Gerichtsentscheid, die
eine Art der Solidarität ermöglicht, die nicht den Anspruch erheben muss, den
einheitlichen Willen einer homogenen Nation zu verkörpern. Ihre
institutionellen Formen kann man in allgemeinen, nicht auf die amerikanische
verfassungsmäßige Praxis beschränkten Begriffen beschreiben. Einerseits
artikulieren politische Parteien in einer Zivilgesellschaft entstehende
Teilprobleme und fassen sie in Form eines Gesetzesvorschlags zusammen. Die
Versuchung für die Parteien besteht darin, nach dem kleinsten gemeinsamen
Nenner zu streben und Streitfälle zu meiden, die lediglich Minderheiten
betreffen, mit dem Ergebnis, dass das Gesetz sich als ungeeignet erweisen
könnte, die Rechte dieser oder jener Gruppe oder dieses oder jenes Individuums
zu schützen. An diesem Punkt tritt das Gericht auf den Plan und sieht eine
republikanische Kontrolle vor, um sicherzustellen, dass die temporäre
legislative oder exekutive Mehrheit nicht beanspruchen kann, die vox populi
zu sein. Diese Interaktion von Einzel- und Gesamtinteresse kann in die andere
Richtung wiederholt werden. Es wird Zeiten geben, in denen die politische
Debatte blockiert ist, die Probleme zu brisant für eine Befassung erscheinen;
und an diesem Punkt interveniert das Gericht, diesmal um sicherzustellen, dass
das Einzelinteresse nicht von der Debatte ausgeschlossen wird. Hier ist es
Aufgabe der Parteien, einen Weg zu finden, sich mit dem Problem auf der Ebene
der Alltagspolitik in der Bürgerschaft (eher als auf der konstitutionellen
Ebene) zu befassen.
Zwei
Schlussfolgerungen und ein caveat folgen aus dieser vergleichenden
Betrachtung. Das caveat ist am wichtigsten. Es betont nachdrücklich,
dass die kulturelle Politik durch Gerichtsentscheid keine Errungenschaft ein
für alle Mal darstellt; ein Rückfall in die Politik des Willens ist immer
möglich. Man kann nicht erwarten, die institutionelle Struktur Amerikas in den
Kontext anderer Länder einzuführen, als ob deren eigene politische Kultur
unwichtig wäre. Was man aus dem amerikanischen Experiment lernen kann, ist,
welche Art von politischer Kultur den strukturellen Erfordernissen einer
Politik durch Gerichtsentscheid gerecht würde. Dies erlaubt eine negative
Schlussfolgerung. Die Hoffnung, »Europa« werde zu jenem dritten Weg werden, der
einst mit der Wirtschaftspolitik der »Sozialen Demokratie« gleichgesetzt
wurde, wird sich nicht erfüllen. Wie zu Beginn aufgezeigt, besteht die
Schwierigkeit für eine liberale politische Kultur nicht darin, den formalen
Rechten des Individuums soziale und materielle Begründungen hinzuzufügen; das
Problem ist vielmehr, ein Vorstellungsvermögen und Verständnis für die neuen
Formen von Solidarität zu entwickeln, die, was manchen paradox erscheint, auf
dem Recht des Individuums, Rechte zu haben, basieren. Hier, schließlich, haben
die Amerikaner etwas zu lernen von jener modernen europäischen Kultur (die
Pierre Hassner, auf der Suche nach einem einprägsamen Paradoxon, zu schnell mit
Post-Modernismus gleichsetzt). Eine republikanische Demokratie ist letztlich
nur möglich, wenn sie sich selbst Regeln gibt, die ihren Willen begrenzen und
gleichzeitig die Ausführung gerichtlicher Entscheidungen und die Übernahme der
Verantwortung hierfür unumgänglich machen.
Aus dem
Amerikanischen von Gisela Schneckmann.
1
»États-Unis: l’empire de la force
ou la force de l’empire«, in: Cahiers de Chaillot, Nr. 54 (Septembre
2002), S. 17. Nachdruck in Pierre Hassner: La terreur et l’empire
(Paris: Éditions du Seuil 2003).
2
Die Debatte zwischen einer solchen »Zivilisation« und der
virilen Energie der Natur ist schon bei den griechischen Sophisten wie
Kallikles zu finden. Sie taucht wieder auf zur Zeit der Hellenisierung der
Römischen Republik – bevor sie ihre vermutete Kraft wieder entdeckte und zum
weltumspannenden Imperium wurde. Die erstaunlichen Parallelen zwischen der
Geschichte des Römischen Reichs und der Amerikas sind gut dargestellt in Peter
Bender: Weltmacht Amerika. Das neue Rom, Stuttgart: Klett-Cotta 2003.
3
Hassner, a.a.O., S. 48.
4
Paul Thibauld hat lange argumentiert, Europa diene
Innenpolitikern als Vorwand, die Übernahme von Verantwortung bei schwierigen
Entscheidungen zu vermeiden. Andere, wie die französische Sozialistische
Partei, denunzieren es als Repräsentanten des Großkapitals (dies ging so weit,
dass einige Sozialisten davon sprachen, gegen die vorgeschlagene Verfassung zu
stimmen, werde sie in einem Referendum zur Wahl gestellt). Wieder andere jedoch
sehen es weiterhin als Hoffnungs- und Bedeutungsträger für die Zukunft – eine
Option, auf die ich unten zurückkomme.
5
Die Gründer Amerikas wussten das und zitierten oft die
Worte, die Plutarch Solon zuschrieb: Ich gebe euch nicht die beste Verfassung;
doch nahezu die beste, die ihr akzeptieren könnt.
6
Solch eine egalitäre Gesellschaft, sollte man hinzufügen,
könnte man genauso gut ausgehend von der Gesellschaft suchen; ihre Autogestion
erhebt ebenfalls den Anspruch, politische Entfremdung zu überwinden, genauso
wie Verschiedenheit und Hierarchie. In beiden Fällen ist das Ziel, formale
Demokratie durch »reale Demokratie« zu ersetzen, ich komme auf diesen Punkt im
Zusammenhang mit Osteuropa zurück.
7
Diese Gegensätzlichkeit von auf Rechten basierendem
Liberalismus und Solidarität kann die milde philosophische Form annehmen, die
den sozialen Liberalismus von John Rawls in Gegensatz zum Kommunitarismus von
Michael Sandel oder Charles Taylor stellt. Sie kann auch die gefährlicheren
Formen von Nationalismus oder Totalitarismus annehmen – beide kamen historisch
erst nach der Geburt von auf Rechten basierendem Liberalismus auf (was nicht
heißt, dass der Liberalismus ihre Ursache wäre).
8
Angemerkt sei, dass diese Weigerung zuzugeben, dass jede
Macht den souveränen Willen des Volkes verkörpern kann, die Erklärung dafür
ist, dass Amerika sich langfristig als unfähig erweisen wird, eine wirklich
imperiale Macht zu werden.
9
Man kann unterscheiden zwischen innerer Souveränität, die
geteilt ist, und nationaler Souveränität, die ungeteilt ist. Angemerkt sei
außerdem, dass das oben beschriebene Schema idealtypisch ist; zu verschiedenen
historischen Zeitpunkten hat mal der eine, mal der andere Teil der Regierung
(einschließlich der Bundesstaaten) den Anspruch erhoben, Verkörperung des
Volkswillens zu sein.
10
Jeffersons Übernahme der meisten Methoden und
Verfahrensweisen seiner Föderalisten-Vorgänger beschreibt John Patrick Diggins:
John Adams, New York: Times Books 2003.
11
Die Verfassung ist ausdrücklich erstellt im Namen von »Wir,
das Volk …«