Als
»Spitze eines Eisbergs« bezeichnete Senator Edward Kennedy gleich die ersten
Bilder vom Gefangenenmissbrauch. Rasch musste die Regierung reagieren. Bush und
Rumsfeld sprachen von Einzelfällen. Demgegenüber wollte man das Funktionieren
der Rechtsstaatlichkeit demonstrieren. »Einer Richterin des Obersten
Gerichtshofs, die wissen wollte, ob die Regierung alle Vorschriften gegen
Folter beachte, antwortet ein Staatssekretär des Justizministers: ›Vertrauen
Sie der Exekutive.‹« (Zeit, 13.5.)
Mit
diesem Vertrauen hätte es vor einem Jahr vermutlich noch geklappt. Inzwischen
hat sich einiges im Umfeld verändert. Auch in der Sache selbst sind Bush und
seine Mannschaft ins Wanken gekommen. Donald Rumsfeld, bekannt für seine
Bonmots, rannen vor dem Militärausschuss die Schweißperlen von der Stirn; Paul
Wolfowitz’ Auftritt gestaltete sich zu einem persönlichen Debakel. Befragt, ob
die Misshandlungen die Genfer Konvention verletzten, schwieg er hartnäckig; dem
Senator riss schließlich die Geduld, er hielt das Kapuzenfoto hoch und fragte
mehrmals, ob denn das menschlich sei. Wolfowitz krümmte sich wie ein bei einem
Streich ertappter Schuljunge und stieß schließlich zwischen die Zähne hindurch:
»It’s inhuman.«
Über Abu Ghraib sollen hier ein paar Aspekte in der US-amerikanischen
Debatte skizziert werden. Die These von der Einzeltäterschaft stieß in den
Medien sofort auf Skepsis. Tatsache ist, dass schon lange – nämlich seit
Herbst/Winter 2003/2004 – Hinweise und Berichte zu Misshandlungen und
Demütigungen bis hin zur Todesfolge vorlagen: der Taguba-Report, der Bericht
des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (veröffentlicht im Wall
Street Journal), Berichte von Menschenrechtsorganisationen (Amnesty
International, Human Rights Watch) und Vorberichte der US-Army. Seit Anfang
März weiß das Pentagon vom detailliert recherchierten Report des Generalmajors
Taguba. Der bekannte Journalist Seymour M. Hersh kompiliert ihn ausführlich im New
Yorker vom 1. Mai. Ein unangenehmer Bericht eines Ordnungsmenschen, der dem
»war against terror« schlechte Noten ausstellt. Bei den Gefangenen handelt es
sich um eine völlig willkürliche Mischung von völlig Unschuldigen über
Kriminelle bis Terrorverdächtige. Vielfach weist er auf die mangelhafte
Ausbildung der Soldaten in Sachen Genfer Konvention hin, auf das Fehlen von
Nachschulung nach dem Bekanntwerden der ersten Misshandlungsfälle – auch die
Kommandeure werden da nicht ausgenommen. Gerügt wird der Einsatz von
Spezialisten privater Firmen, die nicht dem Militärrecht unterworfen sind.
Weiter fallen Hinweise auf Strukturen auf, die nichts mit der militärischen
Befehlskette zu tun haben, sondern mit geheimdienstlichen Erlassen. Darunter
taucht auch ein Hinweis auf, den Hersh im New Yorker vom 15.5. in einem
anderen Zusammenhang – dazu weiter unten – enthüllt.
Ein anderer Aspekt ist das Völkerrecht und die US-Rechtsprechung. Abu Ghraib wird rasch mit
Guantánamo in Verbindung gebracht, denn Bush hat seinen Irak-Feldzug unter das
Banner des Krieges gegen den Terror gestellt. Eine personelle Verbindung
entstand durch die Person des Generalmajors Geoffrey Miller, der erst das Lager
in Guantánamo befehligte und nun Abu Ghraib »reformiert«. Laut der abgemahnten
Generalin Janis Karpinski, Millers Vorgängerin, habe er ihr unter vier Augen
erklärt: »Ich habe Vollmacht von höchster Stelle. Wir werden hier neue
Verhörpraktiken einrichten. Wir werden hier Militärpolizisten herbringen, die
wissen, wie man Ermittlungen führt.« (Zeit, 19.5.) Das ist inzwischen
von Guantánamo hinlänglich bekannt. »Auch hat der Staatssekretär für
nachrichtendienstliche Angelegenheiten im Pentagon, Stephen Cambone, zugegeben,
dass er den damaligen Leiter des Gefängnisses in Guantánamo, Generalmajor
Geoffrey Miller, ermuntert habe, den Verantwortlichen im Irak Vorschläge dazu
zu unterbreiten, wie es gelingen könne, mehr Informationen von den Inhaftierten
zu bekommen.« (FAZ, 18.5.) Und Miller ist ein erfahrener Mann, der die
Käfighaltung und Nacktverhöre als »human« bezeichnet. Hier intensiviert sich
nun die in den letzten Jahren eher zögerliche Debatte über konkrete Rechtsakte
der Bush-Regierung und ihr Verhältnis zu grundlegenden zivilisatorischen
Werten. Erinnern wir uns: Die USA haben dezidiert den Internationalen
Strafgerichtshof abgelehnt und aktiv dagegen opponiert (siehe Kommune
11/02); sie haben auf eine Reformulierung der UN-Charta gedrängt, um das
Kriegsrecht zu »modernisieren«; und sie haben in Guantánamo die Genfer
Konvention für so genannte unrechtmäßige (oder feindliche) Kombattanten außer
Kraft gesetzt. In der Frühjahrsausgabe des Dissent Magazine,
herausgegeben von Michael Walzer, weist Rogers M. Smith von der University of
Pennsylvania auf »fünf Hauptschritte der Umstrukturierung des Rechtssystems«
hin. »Die Bush-Regierung glaubt, dass die Vereinigten Staaten an einer
insgesamt neuen Art des Krieges teilnehmen, für den sie, entsprechend ihrer
Nationalen Sicherheitsstrategie, vorbereitet werden müssen, um Schurkenstaaten
und ihre Terrorkunden zu stoppen, bevor diese in der Lage sind, mit
Massenvernichtungswaffen den USA und ihren Verbündeten und Freunden zu drohen
oder sie gar gegen sie einzusetzen. In der Überzeugung, dass diese Politik der
präventiven Kriegsführung damit rechnen muss, mit heftigen Angriffen sowohl im
Ausland als auch im eigenen Land beantwortet zu werden, hat die Regierung
begonnen, alle Basissysteme für die Kräfte des inneren Zusammenhalts
umzustrukturieren.« Smith listet alle wichtigen Maßnahmen auf, wobei implizit
deutlich wird, welche Folgen der Unilateralismus zeitigt, nämlich Abkoppelung
vom komparativen Recht. Die Einführung eines neuen »Rechtstitels«, nämlich des
»unrechtmäßigen Kombattanten«, der ohne zwingende Zeugen, ohne Beweise, auf
bloßen Verdacht hin, »ohne jeden Verfahrensschutz« auf unbestimmte Zeit
festgehalten werden kann, geht auf einen, seiner Meinung nicht vergleichbaren
Einzelfall aus dem Zweiten Weltkrieg zurück. Zwar sind Terroristen »nicht
herkömmliche Verbrecher«, doch ihre Bekämpfung mittels Einschränkung der
konstitutionellen Rechte erscheint äußerst fragwürdig, auch wenn die
Einschränkung im Gewand eines Gesetzes (Patriot Act) daherkommt. Christian
Geyer hat es in der FAZ (17.5.) drastisch formuliert: »Die rechtsförmige
Rechtlosigkeit ist die zivilisatorische Innovation, für die Bush steht. Eine
Innovation, deren Dynamik nur schwer abzustoppen ist, weil sie eine
grundlegende zivilisatorische Sperre knackt: die der Rechte-Zuschreibung für
jedermann, auch für den Rechtsbrecher, dessen Terror die zivilisierte Ordnung
bedroht. ... Die Frage, vor die Amerikas heuristisch nützliche Alternative uns
stellt, ist glasklar: Wollen wir im Kampf gegen den Terrorismus die Gesetze des
Terrorismus anwenden?«
Und damit zu einem dritten Aspekt der Missbrauchs-Debatte, die Schaffung geheimer Apparate,
die mit »unkonventionellen Methoden« im rechtsfreien Raum agieren. Der
enthüllende Artikel von Seymour Hersh im New Yorker vom 15.5., »Die
Grauzone«, wurde umgehend vom State Department, vom Pentagon und vom CIA
dementiert. Und zwar heftig; der CIA stellte sein Dementi auf seine Homepage:
»Die Story im New Yorker ist grundlegend falsch. Es gab kein
DoD-/CIA-Programm zum Missbrauchen und Demütigen irakischer Gefangener ...«
Aber das eigentlich Interessante an Hershs
Enthüllungen ist etwas anderes. Er berichtet von Afghanistan, vom Ringen um die
Autorisierung eines Angriffs auf den Konvoi des flüchtenden Mullahs Mohammed
Omar, die erst nach einiger Verzögerung von der Zentrale in Tampa erteilt
wurde. Da war der Mullah schon außer Reichweite. Für Rumsfeld und seinen
Staatssekretär für die Geheimdienste, Stephen Cambone, war die Lehre daraus
die, eine geheime Einsatztruppe neben den militärischen Befehlsstrukturen zu
bilden. Keine Namen, nur Codewörter, keine Spuren, kein Etat, an die 200
Personen, Spezialprogramme, von denen auch der militärische Ausschuss im
Kongress nichts erfahren sollte; eingeweiht, so Hersh, waren lediglich Bush,
Rice, Rumsfeld, Cambone, General Myers und General Boykin. Eine weitere
Schlüsselperson: Kommandant Geoffrey Miller. Und der Oberkommandierende der
US-Army in Irak, General Ricardo Sanchez. Sozusagen ein geheimer Geheimdienst.
Als
sich im Sommer 2003 die Lage im Irak erstmals zuspitzte, besaßen die USA nur
wenige Informationen über die Aufständischen. In dieser Situation wurde eine
»Änderung der Politik« vorgenommen, das irakische Gefängnissystem wurde zum
strategischen Knoten. »Miller«, so Hersh, »unterwies auch die militärischen
Kommandanten im Irak in den Befragungsmethoden, die auf Kuba verwendet wurden«
und die von Rumsfeld und Cambone als »unkonventionelle Methoden« bezeichnet
wurden. »Die Kommandos sollen im Irak ebenso funktionieren, wie sie in
Afghanistan funktioniert hatten.« Als »theoretische Grundlage« führt Hersh das
Werk des Kulturanthropologen Raphael Patai The Arab Mind an, 1973
erschienen, wieder aufgelegt 2002. Darin schildert der Autor die Mentalität
»des Arabers« (Ausschnitte zu finden unter: http://wrc.lingnet.org/mesoc.htm).
Tatsächlich muss dieses Buch gleich nach dem 11. September in gewissen Kreisen
als »Ratgeber« gedient haben. Jamie Glazov vom konservativen FrontPageMagazine,
klärte am 28.11.01 unter Verwendung von Patais Buch auf: »Während die
protestantische Ethik Arbeit als gute Sache betrachtet, sieht die Ethik im
Mittleren Osten in der Arbeit einen Fluch und etwas, das unbedingt vermieden
werden sollte.« Und so weiter. Die eigenen dunklen Seiten werden flott auf alle
Araber übertragen. Kein Wunder, wenn General Boykin in einer Rede die
muslimische Welt mit Satan gleichstellt. Das sind die Kämpfer für das Projekt
des neuen amerikanischen Jahrhunderts. Sie reden ständig von Demokratie, in
ihrer Praxis erweisen sie sich jedoch, wie der Republikaner John W. Dean in
seinem Buch Worse Than Watergate schreibt, als »neojakobinische
Verschwörer«.
Nun werden auch die Schwierigkeiten in den eigenen Reihen größer. Mit Bushs ehemaligem
Redenschreiber David Frum (Erfinder der »Achse des Bösen«) veröffentlichte
Richard Perle im November 2003 An End to Evil, vorgestellt als »Handbuch
für den Sieg im Krieg gegen den Terrorismus«. Noch einmal wird die
apokalyptische Geisteswelt der NeoCons beschworen (Perle im Interview mit FrontPageMagazine
vom 18.2.: »Sieg oder Holocaust«). Dagegen trommelten die »altkonservativen«
Republikaner. In The American Conservative vom 1.3. rechnet Pat
Buchanan, ein alter innenpolitischer Rivale Bushs, leidenschaftlich mit den
Autoren als Panikmacher ab: »Sie verlieren ihren Zugriff auf die Wirklichkeit.«
Richard Clarkes Buch Against All Enemies und seine Befragung vor dem
9/11-Ausschuss fanden auch hierzulande große Beachtung. Clarke ist ein
wichtiger Kronzeuge für jene Leute bei den Republikanern, die der Logik des
Irakkriegs nicht folgen wollen. Clarke zu Colin Powell: »Wir sind von al-Qaida
angegriffen worden, nun bombardieren wir Irak. Dann hätten wir auch Mexiko
besetzen können, nachdem die Japaner uns in Pearl Harbor angegriffen hatten.«
»Demokratie
jetzt«, fordert Robert Kagan im Weekly Standard (17.5.) und warnt vor
»zu pessimistischer Panikreaktion angesichts der Schwierigkeiten in Falluja und
mit Moqtada al-Sadr sowie des Desasters von Abu Ghraib.« Er zieht gleichermaßen
gegen linke Rückzugsdemokraten wie auch gegen isolationistische Republikaner
vom Leder, warnt aber auch die Bush-Regierung vor allzu pauschalen
Einschätzungen. Er schlägt vor, den Wahltermin im Irak auf Ende September
vorzuziehen und die Europäer zur Unterstützung der Wahlen einzuladen. Ein
Fortschritt im Irak knapp vor den Wahlen könnte für Bush entscheidend sein;
aber Kagans Vorschlag ist deutlich das Unbehagen vor allem an den Leuten im
Pentagon zu entnehmen.
Die
Enthüllungen über Abu Ghraib haben die Risse bei den Republikanern deutlich
vertieft. Unmut erregte das Auftreten der Regierung, insbesondere des
Pentagons. In der New York Review of Books vom 22.5.
(10.6.) schildert
Elisabeth Drew (»Bush: The Dream Campain«) die Stimmung bei den Republikanern,
die sich zum Wahlkampf zu formieren beginnen. Abu Ghraib hat »die Furcht vor
einer Niederlage deutlich gesteigert«, auch gibt es einige im Senat und
Kongress, »die darüber nachdenken, nicht oder gar Kerry zu wählen«. Sie zitiert
eine Umfrage des Wall Street Journal, wonach nur noch »33 Prozent der
Wähler meinen, dass das Land von der richtigen Regierung geleitet wird«.