Omer Karabeg
Kann es ein multiethnisches Kosovo
geben?
Streitgespräch
zwischen Adem Demaci und Oliver Ivanovic*
Vor fünfzehn Jahren hat Milosevic mit der Beseitigung des
republikähnlichen Status des Kosovo den ersten Schritt zur Umsetzung seines
großserbischen Projekts gemacht, das schließlich scheiterte. Heute erklärt der
serbische Premier Kostunica die Unantastbarkeit der Grenzen. Das nachfolgende
Gespräch macht die verhärteten Fronten deutlich.
Karabeg: Viele
denken, dass man nach den jüngsten Ereignissen in Kosovo(1) alle Hoffnungen auf
eine multiethnische Zukunft definitiv begraben sollte. Wie denken Sie darüber?
Demaci: Ich denke,
dass das nicht stimmt. Ich bin optimistisch. Die Möglichkeiten sind da. Im
Übrigen lebten wir 500 Jahre unter dem Osmanischen Reich zusammen, und danach
auch. Das Übel kommt aus der Tagespolitik, von der Politik aus Belgrad. Hier
hat nun der Staat Serbien alle moralischen und menschlichen Rechte verwirkt,
den Anspruch verloren, sich Kosovo zu unterwerfen. Die Welt muss sich darüber
im Klaren sein, dass Kosovo frei wird und ein unabhängiger Staat werden sollte.
Das serbische Regime muss von seinen hegemonialen Ambitionen lassen. Aber ich
höre, dass Kostunica wieder sagt‚ »wir geben das Kosovo nicht her. Wir können
ohne Kosovo nicht leben«. Ihr habt doch 500 Jahre ohne Kosovo gelebt und auch
die letzten fünf Jahre. Solche Parolen irritieren und wecken Misstrauen. Darin
liegen die Quellen aller Probleme, die wir heute auf Kosovo haben.
Ivanovic: Es ist
unpassend, dass Herr Demaci in diesem Moment auf diese Weise spricht. Es gehört
sich nicht, das Opfer für das Geschehene zu beschuldigen. Doch darin spiegelt
sich die Denkweise der albanischen politischen Elite. Als wären nicht die
Serben in den letzten Tagen gewaltsam vertrieben, ihre Häuser und Kirchen niedergebrannt
und alles, was im Kosovo serbisch ist, ausgemerzt worden?
Herr Demaci erwähnt die Belgrader
Politik. Dabei handelt es sich um die Politik eines Staates, die sich auf ein
Teil seines Territoriums bezieht und sonst absolut demokratisch ist. Das
Problem besteht darin, dass unter Kosovo-Albanern ein irrationaler, völlig
romantischer Wunsch nach Errichtung eines unabhängigen Staates verbreitet ist,
was allen modernen Strömungen widerspricht.
Demaci: In
Serbien ist wieder ein extremer Nationalismus an der Tagesordnung. Erneut sind
reine Nationalisten mit Kostunica an der Spitze an die Macht gekommen. Die
Albaner haben keinen Grund, einen Staat zu dulden, der 15000 Menschen im Kosovo umbrachte. 250000 Häuser wurden
nur während der Zeit des Luftkrieges niedergerissen, von der Zeit davor gar
nicht zu reden. Ich bedaure, was in den letzten Tagen passiert ist, aber ich
kann auch nicht vergessen, was unter der serbischen Herrschaft im Kosovo
geschah.
Ivanovic: Herr
Demaci, Sie manipulieren mit den Zahlen. Sie sprechen von 15000 ermordeten
Menschen, obwohl Sie wissen, dass es nicht mehr als 7800 waren. 250000
niedergebrannte Häuser! Welche internationale Organisation hat das bestätigt?
Demaci: Meine
Angaben entsprechen den Tatsachen. Seit 1991, als die Serbisierung von Kosovo
begann, wurden über 150000
Menschen von ihren Arbeitsplätzen entfernt, es herrschte Angst und Schrecken.
Ivanovic: Und wie
beurteilen Sie das, was in den letzten Tagen passiert ist? Worin liegen die
Ursachen dafür?
Demaci: Das sind
Spätfolgen einer langjährigen Politik. Das war eine Revolte, die geradezu
unausweichlich war.
Ivanovic: Kinder
und Frauen umzubringen, Häuser niederzubrennen, das ist keine Revolte! Wovon
reden Sie? Seit fünf Jahren sind Sie als die Mehrheit an der Macht …
Demaci: Das
war wie eine Naturgewalt, die man, wenn sie gekommen ist, schwer aufhalten
kann. Die serbischen Herrscher aber gingen organisiert gewaltsam vor, durch
Polizei, während das jüngst ein spontaner Gewaltausbruch war, der von Übeltätern
und Kriminellen ausgenützt wurde. Die Sachen sind außer Kontrolle geraten. Ich
frage mich, was mit der UNMIK los war, wo war die KFOR?
Ivanovic: Nach
Ihnen hätte sich also eine spontan entschlossene und bis an die Zähne
bewaffnete Gruppe in 20 Busse gesetzt und nach Mitrovica begeben! Reden Sie
keinen Unsinn! Das war eine voll organisierte Aktion. Wären Sie aufrichtig,
würden Sie es auch zugeben.
Demaci: Wo haben
Sie denn diese Busse und diese Waffen gesehen? Wie hätten so viele Busse die
KFOR-Patrouillen passieren können? Lassen Sie uns über Tatsachen sprechen!
Milosevic hat versucht, die gesamte albanische Bevölkerung von hier zu
vertreiben. Der Staat, der solche Ungeheuerlichkeiten veranstaltete, versucht
nun in die Rolle des Opfers zu schlüpfen.
Ivanovic: Das
hat doch keinen Sinn! So viele Opfer, riesiger materieller und kulturhistorischer
Schaden ist entstanden – und Herr Demaci erzählt von Milosevic. Milosevic hat
seinen Preis dafür bezahlt, was er tat, und wir als Volk haben den Preis
bezahlt, weil er unser Präsident war. Aber diese Geschichte ist zu Ende.
Demaci: Keinen
Preis habt ihr bezahlt. Was hat Kosovo davon, dass Milosevic nach Den Haag
geschickt wurde? Für uns wird die Zeche erst bezahlt, wenn der serbische Staat,
der serbische Chauvinismus und der serbische Anspruch auf Vorherrschaft ohne
Kosovo bleiben. Wie wollen Sie über zwei Millionen Albaner, die Sie nicht wollen,
herrschen?
Ivanovic: Sie
müssen eins begreifen: Kosovo kann sich nicht einfach so abspalten – ohne
Einverständnis des Hausherrn, und das ist Serbien. Das gibt es nirgendwo in der
Welt. In Europa gibt es das nicht. Nur in Afrika erlangt man mit Gewalt Unabhängigkeit
und Macht. Letzte Woche wurden 20 Dörfer gleichzeitig angegriffen – das kann
man nicht als spontan bezeichnen. Vielmehr lenkte man mit der Provokation vor
Mitrovica die Aufmerksamkeit ab und brannte diese 20 Dörfer bis auf den
Grundstein ab. Dahinter steckt eine gut organisierte Gruppe, Herr Demaci, eine
paramilitärische Einheit der Extremisten oder Terroristen – nennen Sie es, wie
Sie wollen. Solange diese Leute hier sind, gibt es keinen Frieden, weder für
Sie noch für mich noch für unsere Völker. Aber Sie verurteilen solche Sachen
nie konsequent genug; bei Ihren öffentlichen Verlautbarungen wiegeln Sie sofort
im nächsten Halbsatz ab. Ich habe große Achtung vor Ihnen und denke, Sie
sollten jetzt dieselben Worte sagen wie 1992, als Sie vor dem Krieg warnten.
Sagen Sie das jetzt den Albanern.
Demaci: Es waren
nicht Albaner, die hier den Krieg führten. Der Krieg wurde von der serbischen
Armee und der serbischen Polizei geführt. Und Serbien will auch heute noch das
Kosovo zerstückeln. Waren es nicht die Serben, die drei Tage die Landstraße
blockierten? Wo gibt’s das im modernen Europa, dass man eine Autobahn sperrt, weil
ein junger Mann verletzt wurde – was, das gebe ich zu, eine unerfreuliche Sache
ist.
Ivanovic: Sind
Tausende Ermordete der letzten Jahre eine unerfreuliche Sache? Entführte
Menschen? Sind niedergebrannte Häuser und Kirchen unerfreuliche Ereignisse? Das
ist keine gute Wortwahl, Herr Demaci.
Demaci: Ich bin
entschieden gegen solche Untaten und verurteile sie. Aber ich will auch sagen
dürfen, wer dafür schuldig ist. Die Schuld liegt bei den Menschen, die offen
die Zerstückelung von Kosovo predigten und die Rückkehr der serbischen Herrschaft
vorbereiteten. Das wird die hiesige Bevölkerung nicht hinnehmen. Ich sage: Will
man ein weiteres Blutbad vermeiden, muss man der Bevölkerung zugestehen, zu
entscheiden, was sie will.
Ivanovic: Sie
sprechen, wie ich annehme, im Namen einer großen Zahl von Albanern. Wenn das
heißen sollte, dass ein weiteres Blutbad bevorsteht, falls ihr die internationale
Gemeinschaft und Serbien von der Hinnahme eines unabhängigen Kosovo nicht
überzeugt, dann fürchte ich in der Tat um unsere Zukunft.
Demaci: Wenn ihr
weiter darauf besteht, dass Kosovo Serbien unterstellt wird, dann hört das
Blutbad hier wirklich nie auf. Dieses Volk hier will seine Freiheit, so wie ihr
eure Freiheit wollt.
Ivanovic: Und was
ist mit der Freiheit anderer, die keine Albaner sind? Ich dachte, dass Sie ein
vernünftiger Mensch sind, dass Sie fähig sind zu sagen: Schluss. Das hätten Sie
sagen müssen schon am 16. Juni 1999, als wir dieses internationale Protektorat
hier bekamen. Das war damals der richtige Augenblick, den Schlussstrich zu
ziehen und etwas Neues aufzubauen. Aber Sie haben das nicht verstanden. Ihr
klammert euch an diese irrational-romantische Sehnsucht nach Unabhängigkeit,
und so fallen wir immer tiefer, bis dieses Territorium einmal monoethnisch wird.
Das wird sicherlich neue Spannungen hervorrufen, vermutlich einen neuen Krieg.
Das ist nicht gut und Sie müssen sich dessen bewusst sein.
Demaci: Nehmen
Sie doch endlich die Realität hin, das Leben, so wie es ist, wenn Sie wollen,
dass wir zusammen ein friedliches Kosovo aufbauen und als Völker nebeneinander
leben. Solange ihr euch als Herrscher von Kosovo aufspielen wollt und auf
irgendwelches Anrecht auf Kosovo pocht, das ihr 1912 okkupiert habt, wird eure
Gesellschaft nicht demokratisch. Die Demokratisierung Serbiens wird an dem Tag
beginnen, an dem ihr das Kosovo aufgebt. Wenn ihr ein demokratisches Serbien,
Frieden auf dem Balkan und in diesem Gebiet wollt, dann müsst ihr uns dasselbe
zugestehen, was ihr für euch wollt. Warum sollen die Albaner hinnehmen, dass
sechs bis sieben Prozent Serben über das ganze Kosovo kommandieren?
Ivanovic: Wer
erhebt heute in der serbischen Regierung den Anspruch, über Kosovo zu
herrschen? Diese Regierung ist demokratisch und wendet keine Gewalt an. Aber
ihr sollt euch absolut aus dem Kopf schlagen, dass irgendein Serbe jemals die Abspaltung
von Kosovo unterschreiben wird. Ein Teil Serbiens kann sich nur dann ablösen,
wenn Serbien dazu sein Einverständnis gibt. Die Verwaltung wird von gewählten
Vertretern aufgebaut, und das sind gewählte Repräsentanten im Provinzparlament.
Einmal werdet ihr vielleicht eure Vertreter im serbischen Republikparlament und
in der Bundesversammlung haben. Das ist der richtige Weg.
Demaci: Lassen
Sie das doch – das sind Märchen für kleine Kinder. Wir haben diese serbischen
Geschichten satt.
Ivanovic: Warum
sollten wir nicht versuchen, uns auf demokratische Weise durch Verhandlungen zu
einigen: Die Regierungsvertreter aus Serbien und jene von Kosovo treffen sich
an einem Tisch, um eine gemeinsame Lösung zu finden.
Demaci:
Voraussetzung ist der Wille des Volkes. Nur eine Volksbefragung kann die Sachen
lösen – wir können den Volkswillen nicht umgehen.
Ivanovic: Dann
könnten wir in jeder Gemeinde eine Befragung durchführen. Was ist, wenn solche
Gemeinden gegen diese mehrheitliche Lösung sind? Dann sollte man in Serbien
eine Volksbefragung durchführen. Was meinen Sie, wie die Volksmehrheit in
Serbien entscheiden würde?
Demaci: Wieso
sollte das serbische Volk darüber entscheiden? Wir entscheiden darüber.
Ivanovic: Weil Kosovo ein
Teil von Serbien ist – das müssen Sie begreifen.
Demaci: Kosovo
ist kein serbisches Territorium, und die Bevölkerung von Kosovo soll darüber
entscheiden. Das fehlte noch gerade, dass das serbische Volk darüber entscheidet,
was mit uns passieren sollte!
Ivanovic: Wer
macht diese Dramen jetzt in Kosovo? Man bringt uns jetzt in Anwesenheit der
KFOR um, was würden wir in diesem euren Staat durchmachen müssen, wenn wir
allein mit euch wären? Wenn uns nicht einmal 40000 ausländische Soldaten richtig schützen
können, was wäre erst, wenn wir den Albanern auf Gedeih und Verderb
ausgeliefert wären?
Demaci: Wer hat
mit dem Morden angefangen? 1912 fing der serbische Staat an, Albaner
umzubringen und hörte damit nie auf. Derselbe Staat, der sich heute demokratisch
nennt, fiel in Slowenien ein, brannte Kroatien nieder, verwüstete
Bosnien-Herzegowina und dann Kosovo. Serbien ist schuld an allen Tragödien von
Gestern und Heute. Sie, Herr Ivanovic, sind ein Bürger von Kosovo und das bin
ich auch. Wir, die wir hier leben, müssen eine Lösung finden, und aus Belgrad
braucht sich keiner einzumischen. Aber Sie und Ihre Koalition »Rückkehr« geben
sich als Vertreter Belgrads aus, und verlautbaren, dass Sie die Politik
Belgrads hier führen und sich darum bemühen, Kosovo wieder unter Belgrad zu
bringen.
Das Wesen des Konflikts liegt
darin, dass ihr den Albanern eine »Lösung« aufzwingen wollt, sie, koste es, was
es wolle, in einen Staat drängt, der so viel Übel hier tat. Das Leben hier ist
schwer und nichts kommt voran, weil Serbien alles blockiert und mit immer neuen
Tricks jede Lösung vereitelt.
Ivanovic: Das sind
keine Tricks, das sind Gesetze. Die Unabhängigkeit kann nicht die Lösung für
alle Probleme sein. Prosperität wird durch ein funktionierendes System und
ordentliche Institutionen erlangt. Aber Sie wiederholen wie eine kaputte Schallplatte
immer wieder: »Unabhängigkeit«.
Demaci:
Unabhängigkeit ist das Wesentliche, und sie ist es, die uns hier fehlt.
Ivanovic: Was hier
fehlt, ist, dass Sie das Verbrechen verurteilen; ihr müsst ein bisschen mehr
arbeiten und weniger reden. Es braucht keiner Unabhängigkeit, um Korruption zu
bekämpfen. Ihr habt die proalbanische UNMIK, absolute Mehrheit in allen
Institutionen, die Macht – wozu dann noch die Unabhängigkeit?
Demaci: Wenn die
Unabhängigkeit so irrelevant ist, warum gebt ihr sie nicht? Ihr habt auch eure
Leben dafür gelassen. Warum feiert ihr jetzt den 200. Jahrestag der ersten serbischen
Erhebung gegen die Osmanen als den Gründungstag des serbischen Staates? Ihr glaubt,
das, was ihr habt, brauchen die anderen nicht? Ich bitte Sie! Wir brauchen auch
die Freiheit. In Freiheit und Unabhängigkeit können wir ordentliche
Institutionen errichten und dieses Land regieren, wie es sich gehört, als
Beispiel für andere.
Ivanovic: Niemals!
Demaci: Doch,
wir werden einen Staat errichten, der sich sehen lassen kann. Aus Serbien wird
man kommen, um sich unsere Problemlösungen anzuschauen. Die Albaner haben sonst
keine Wahl: Sie können ohne Freiheit nicht leben, weil das Leben ohne Freiheit
sinnlos ist.
1
Gemeint sind die Unruhen in Kosovo von Mitte März 2004.
Das Gespräch wurde
organisiert von Radio Slobodna Evropa, moderiert von Omer Karabeg
und veröffentlicht in der Belgrader Tageszeitung Danas am 27.3.04. –
Übersetzt aus dem Serbischen von Dunja Melcic
*
Adem Demaci war einst der
bekannteste jugoslawische politische Gefangene. Er saß 28 Jahre im Gefängnis
und wurde mit Nelson Mandela verglichen. Er behielt seine politische Unabhängigkeit
auch nach der Entlassung aus dem Gefängnis in den frühen Neunzigerjahren. Als
einzige herausragende Persönlichkeit der kosovo-albanischen Öffentlichkeit
verbrachte er die ganze Zeit des Luftkrieges in Prishtina. Eine Zeit lang war
er Sprecher der UCK, die er wegen Meinungsverschiedenheiten verließ. Unmittelbar
nach der Beendigung des Luftkrieges der Nato gegen Serbien gab er der Belgrader
Wochenzeitung Vreme (26.6.99) ein Interview, in welchem er sich für eine
konföderale Lösung einsetzte. Das in jeder Hinsicht interessante Gespräch ist
im Internet in Englisch zugänglich.
Oliver
Ivanovic ist Sprecher des Serbischen Nationalen Rats von Kosovska Mitrovica und
der stellvertretende Vorsitzende der Partei »Demokratische Alternative«.