INTERVIEW
»Kosovo kann keine Quasikolonie
bleiben«
Dunja
Melcic im Gespräch mit dem kosovarischen Politologen Shkelzen Maliqi
Wie heikel die Lage im Kosovo ist, äußerte sich in den Gewaltausbrüchen
Mitte März. Der einflussreiche, aber parteilose Politologe Shkelzen Maliqi
verurteilt im Gespräch mit Dunja Melcic das Auftreten extremistischer Organisationen
und Einzeltäter. Zugleich macht er deutlich, dass nahezu alle Akteure in Kosovo
von unzulänglichen Analysen ausgehen. Belgrad darf nach all den Kriegen und dem
nationalistischen Wahn keine zentrale Position mehr in diesem Raum haben, in
der Frage der Machtübergabe müsse die Stagnation überwunden werden.
Dunja
Melcic: Nach den Parlaments-, Präsidenten- und zweimaligen
Kommunalwahlen begann die UN-Übergangsverwaltung (UNMIK) die Befugnisse
allmählich den durch demokratische Verfahren begründeten Institutionen in
Kosovo zu übergeben. Ende vorigen Jahres kündigte der neue Sonderbeauftragte
des UN-Generalsekretärs für Kosovo, Harri Holkeri sogar eine absehbare
endgültige Übergabe der Befugnisse auf die kosovarischen Institutionen an.
Häufiger freilich äußern sich die Vertreter der Internationalen Gemeinschaft
zurückhaltender und verweisen auf die Entscheidung über den endgültigen Status
der Provinz. Wie schätzt Du die Entwicklung der Institutionen in Kosovo ein?
Welchen Weg haben sie zurückgelegt und welche Perspektiven haben sie?
Shkelzen Maliqi: Schon vor
zwei Jahren war es klar geworden, dass die UN-Mission in Kosovo eine
Exit-Strategie vorbereiten muss. Daher trachtete man danach, die Prozesse zu
beschleunigen. Außerdem wurden die Mittel in diversen Fonds erheblich
verringert, denn es gab weitere, gefährlichere Konfliktherde in der Welt. Durch
den 11. September wandten sich die Vereinigten Staaten und andere Verbündete
dem Kampf gegen Terrorismus als der neuen Priorität zu. Die Bedeutung des
Kosovo war demgegenüber marginal geworden.
Darüber hinaus beendete die UNMIK
gerade im Verlauf des Jahres 2002 praktisch das Gros der Aufgaben, derentwegen
sie in Kosovo stationiert war. Der Wiederaufbau der Infrastruktur war im
Wesentlichen abgeschlossen, die Grundbausteine der lokalen Übergangsverwaltung
waren gelegt, der »Verfassungsrahmen« (im Grunde der Entwurf der eigentlichen
künftigen Verfassung) wurde erlassen, das Parlament, die Regierung, der
Präsident und die kommunalen Gremien wurden gewählt. Parallel dazu hätte die
UNMIK ihre Befugnisse abgebaut und auf die kosovarischen Institutionen
übertragen sollen.
Doch die Machtübergabe erwies sich
als problematisch. Das lag an dem fehlenden Konzept und Mandat. Die Resolution
1244 des Sicherheitsrates definiert im Prinzip nur die Machtübergabe, sagt aber
nichts über die Hoheitsrechte der neu aufgebauten kosovarischen Institutionen –
ob sie unter dem Patronat der UN bleiben sollen, ob die Schlüssel der Macht,
nachdem die Souveränität der BR Jugoslawien im Juni 1999 suspendiert wurde (so
wörtlich in der Resolution), den Kosovaren selbst, dem früheren Souverän (den
es eigentlich nicht mehr gibt, nachdem sich die BR Jugoslawien auflöste und mit
Montenegro einen neuen Staat – die Union SCG – gründete!), der Teilrepublik
Serbien oder einem anderen internationalen Übergangsgremium (oft wird in diesem
Zusammenhang die EU erwähnt) übergeben werden sollten.
Da es auf diese wesentliche Frage
der Machtübergabe keine Antwort oder keinen Willen gab, sie zu thematisieren,
flüchtete man sich in verschiedene Formen des Taktierens und Zeitgewinnens.
UNMIK reduzierte die Ressourcen, gab geringfügige Verantwortungen ab und häufte
zugleich selbst immer mehr Zuständigkeiten, von denen man nicht wusste, an wen
und wann sie abgegeben werden sollten. Die Folge davon war dann allgemeine
Stagnation. Die vor zwei Jahren lancierte Formel »Standards vor dem Status«
soll in diesem Lichte betrachtet werden. Unter den gegebenen, im Grunde
undemokratischen Bedingungen des Protektorats, unter eingeschränkten
Kompetenzen der Institutionen des Landes war es praktisch unmöglich, die
demokratischen Standards zu erfüllen und eine funktionierende Verwaltung aufzubauen.
Wie kann man die Kosovaren zum Einhalten von Standards verpflichten, wenn die
kosovarischen Institutionen und die gewählten Vertreter der Bürger auf diesem
Gebiet keine Zuständigkeiten haben? Ausschreitungen, terroristische
Organisationen unterschiedlicher Provenienz oder spontane Gewaltausbrüche bei
unvorhersehbaren Zwischenfällen kann man nicht ohne eigene Informations- und
Sicherheitsdienste bekämpfen, die Kosovo aber nicht hat.
Allerdings war nicht sofort klar,
dass die Formel »Standards vor dem Status« nur Rhetorik und Zeitgewinn bleiben
wird. Erst nach zwei Jahren begriff man, dass die Machtübergabe nicht ins
Unendliche hinausgeschoben werden kann. So kam es Ende 2003 zu Überlegungen,
dass doch eine Frist für den Prozess angesetzt werden soll, wann denn die
Erfüllung von Standards als erfolgt, gelten beziehungsweise dass man in
absehbarer Zeit mit der Bewertung beginnen soll. Dabei rechnete man mit der
Möglichkeit, dass ein ernsthafter Dialog zwischen Kosovo und Serbien
stattfinden könnte, der sich praktischen und dringenden Fragen widmet, wodurch
der Boden für die Lösung der Statusfrage vorbereitet wäre. Das war Teil einer
optimistischen Strategie, bei der alle eine Möglichkeit außer Acht ließen: dass
es nämlich zu einer erneuten Verschärfung oder gar Krise kommen könnte. So
waren alle überrascht, als es zwischen dem 16. und 18. März zum Gewaltausbruch
kam. Die Proteste wurden zunächst durch eine Nachricht über das Ertrinken
dreier albanischer Kinder in der serbischen Enklave Mitrovica entfacht, die gleich
den Serben die Schuld dafür zuwies. Eine Kette von »Racheaktionen« kam in Gang:
Zusammenstöße mit der UNMIK-Polizei und KFOR-Truppen, Angriffe auf einheimische
Serben, Brandschatzung von serbischen Häusern und kulturhistorischen und
religiösen Denkmälern. Prompt kamen feurige Antworten aus Serbien, wo man aus
»Vergeltung« symbolträchtige Gebäude mit Steinen bewarf (Botschaften der USA,
Albanien, Deutschland, Kroatien) und die einzigen verbliebenen Moscheen in
Belgrad und Nis schwer beschädigte.
Nach der
Ermordung Zoran Djindjics und dem Machtwechsel von Dezember 2003 befindet sich
Serbien wieder eindeutig auf nationalistischem Kurs. Dieser Diskurs ignoriert
die neue Realität in Kosovo und beharrt auf seiner Zugehörigkeit zu Serbien.
Kosovo-Serben sabotieren ohnehin beharrlich den institutionellen Aufbau von
Kosovo. Welche Strategie hältst du jetzt in dieser verfahrenen Situation für
nötig?
Paradoxerweise hat Serbien die ihm
zugeschriebene große Rolle in der Bewältigung der Krise in dieser Region unverdientermaßen
beibehalten können. Belgrad ist es gelungen, trotz aller Kriege, dem Zerfall
Jugoslawiens, eigenem Trotzen der Welt und den (halbherzigen) Sanktionen
gegenüber, die Position des Zentrums dieser Region zu behalten. In ihren
Memoiren verhehlen die Diplomaten nicht, wie fasziniert sie von Milosevic
waren, obwohl er in Gesprächen schwierig und arrogant war. Ich vermute, dass im
Hintergrund dieser Hochachtung nicht nur die Faszination mit dem Bösen, sondern
auch so etwas wie Jugonostalgie der Diplomaten, Achtung vor Serbien als einer
Macht und Belgrad als dem »natürlichen« Zentrum der Region eine Rolle spielte.
Nach dem Zerfall der Föderation und dem Fiasko des Projekts »Großserbien«
erwartet man von der Belgrader Macht nunmehr womöglich einen pragmatischen
Nutzen in Bezug auf die Stabilisierung in Bosnien, Kosovo, Montenegro und
vielleicht sogar in gewissem Sinne auch in Makedonien. Faktisch sind diese
Projektionen vollkommen übertrieben und erschweren eine Ernüchterung in
Serbien, das endlich begreifen muss, keine Macht und kein regionales Zentrum
mehr zu sein.
Das zweite Paradoxon der
Überbewertung von Serbien liegt darin, dass es als einziges Gebilde eine volle
staatliche Unabhängigkeit genießt und dabei das unentschiedene, zerrissene
Montenegro hinter sich herschleppt. Sieht man von Slowenien und Kroatien ab,
die schon in oder vor der Tür der EU sind, so sind in den restlichen Staaten
oder Quasistaaten – Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Makedonien – ausländische
Truppen stationiert, und es herrschen verschiedene Formen von Protektoraten.
Serbien wurde gebombt, um gestoppt und – nach den verbrecherischen Aggressionskriegen
gegen Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo – zur Räson gebracht zu werden;
aber nach all diesen Kriegen gibt es in Serbien keine ausländischen Truppen und
keine Weisungen von außen. Dadurch, dass ausländische Truppen und Missionen in
Bosnien-Herzegowina und Kosovo am Werke sind, politische Prozesse diktieren und
die Rolle des Souveräns übernommen haben, entsteht der falsche Eindruck, dass
Serbien fähig ist, sich selbst zu regieren, während Bosnien, Kosovo, aber auch
in gewissem Sinne Makedonien und Albanien, als unreif und unfähig erscheinen,
ohne ausländische Hilfe Stabilität zu erreichen. Diese Situation fördert in
Belgrad die gefährlichen Illusionen über eine überlegene Staatsfähigkeit.
Belgrad und Serbien sind und können nicht Maßstab der Normalität sein. Die
Souveränität Serbiens, die immer wieder über noch nicht festgelegte Grenzen der
Republik Serbien überschwappt, stellt weiterhin die Hauptgefahr und die Quelle
der regionalen Instabilität dar. Wenn Belgrad ein Zentrum ist, dann eins des
Übels und der sicherheitspolitischen Gefahr. Die Diplomatie scheint unfähig,
das zu begreifen. Die aktuelle Situation scheint mir, bildhaft gesprochen, so,
als würde man einen gefährlichen und gewalttätigen Geisteskranken aus der
geschlossenen Anstalt freilassen, während man seine Opfer unter Aufsicht und in
Behandlung hält.
Es ist nötig das Problem präziser
anzusprechen als oft üblich. Dabei habe ich nicht nur das frühere Regime,
sondern auch diese neue Nationalismuswelle in Serbien vor Augen, die die
Fortsetzung der Politik Milosevics mit anderen Mitteln ist. Djindjic stellte
eine pragmatische Lösung für Serbien dar, weil er bestrebt war, Serbien aus dem
Chaos heraus- und in geordnete Verhältnisse hineinzuführen. Er schwamm gegen
den Strom, stellte sich der Mehrheit entgegen. Djindjic hatte westliche
Unterstützung, blieb aber ziemlich auf sich gestellt in Serbien selbst. Man
kann spekulieren, dass die nationalistische Machtriege die Auslieferung
Milosevics unter der Bedingung zuließ, dass alle anderen verschont werden. Als
Djindjic auch ihr zu gefährlich zu werden drohte, ließ man ihn liquidieren. Als
»Fehler« rechnete man ihm auch seine Behandlung der Kosovofrage an; Djindjic
versuchte nämlich – unter großem Risiko – die Lösung zu beschleunigen, damit
Serbien des Problems entledigt wird, das seine Entwicklung blockiert. Er
wusste, dass Serbien keine Ressourcen hat, um Kosovo zurückzuholen, und traute
dem Projekt nicht, welches Kosovo und Republika Srpska in einem Kuhhandel
verbinden wollte.
Das neue Establishment in Serbien
ist unfähig, das Kosovo-Problem anzugehen, hält es aber mit Hilfe der
Kosovo-Serben, die die demokratischen Entwicklungen obstruieren, wie eine
Geisel gefangen. Die beste Strategie für Kosovo liegt in Verhandlungen mit
Kosovo-Serben, aber unter den gegenwärtigen Bedingungen ist es schwer, einen
solchen Dialog in Gang zu setzen. Das Zögern der internationalen Vermittler,
die serbischen Parallelinstitutionen in Kosovo, die unter der Kontrolle
Belgrads stehen, aufzulösen, wirkt sich ebenfalls erschwerend aus. Würden die
politischen Vertreter der Albaner den Kosovo-Serben einen vernünftigen
Vorschlag unterbreiten, wäre das sicherlich sehr hilfreich.
Die
Kommentare über die gewaltsamen Ereignisse in Kosovo im März, die die Seiten
serbischer Medien füllten, liefen auf eine Generalisierung hinaus; ein
Kommentator wollte diesen Gewaltausbruch als Zeichen dafür wissen, dass Kosovo
schon seit der Abtrennung von Belgrad ein »Epizentrum des Terrors«, in dem der
»nationalistische Wahnsinn« wütet, gewesen und geblieben ist. Ein anderer
spekulierte, welchen außenpolitischen Nutzen Serbien von diesem »Schaden« in
Kosovo haben könnte. Und sogar Vertreter der Internationalen Gemeinschaft
sprachen in diesem Zusammenhang von »ethnischen Säuberungen«. Wie siehst du
diese Reaktionen? Worin lagen die Motive für Angriffe auf serbische Zivilisten,
die nicht ganz unorganisiert erschienen?
Dieser Gewaltausbruch war
schändlich. Er ist ein Schandfleck auf dem Gewissen der Kosovaren, die 1999
Opfer der Gewalt waren. Nur fünf Jahre später maßen sich irgendwelche
extremistischen Organisationen und Einzeltäter an, das »Recht« in die eigenen
Hände zu nehmen, indem sie Serben, und nicht nur Serben, sondern auch
Angehörige anderer Minderheiten und sogar diejenigen, die Kosovo befreit und
gerettet haben, tätlich angreifen.
Die Ereignisse im März zeigten
aber auch, dass so gut wie alle relevanten Kräfte in Kosovo von falschen
Lageanalysen und Risikoeinschätzungen ausgegangen waren. Mit Ausnahme der UNDP
(UN Development Programm), der Organisation, die ausgehend von Analysen des
Riinvest-Instituts in Prishtina (im The Early Warning Report) auf die wachsende
Unzufriedenheit mit der Übergangsverwaltung, dem Protektoratsstatus und dem
Dauerbrennpunkt in der geteilten Stadt Mitrovica hingewiesen hat, neigten alle
anderen Organisationen dazu, die Lage in ihren Analysen zu beschönigen. So
beendete der Nato-Befehlshaber für Südosteuropa, Admiral Johnson, seinen
regelmäßigen Besuch in Kosovo einen Tag vor den Unruhen mit den Worten, die
Lage sei stabil und ein großer Fortschritt sei erzielt worden. Als er zwei Tage
später Hals über Kopf zurückkehrte, um die Lage und seine Truppen unter
Kontrolle zu bringen, verfiel er in das andere Extrem, und behauptete, die
Gewalt gegen Serben sei durch »ethnische Säuberungen« von Kosovo motiviert
gewesen. Das Gewaltausmaß war in der Tat schockierend; die Gewalt brach im Nu
aus und verbreitete sich mit ebensolcher Geschwindigkeit.(1) Dennoch sollte man
bei Beurteilungen nichts überstürzen. Eine gründliche Analyse würde etwa auch
den grundlosen Optimismus der Nato und UNMIK einbeziehen müssen, die die
Gefahren in Kosovo unterschätzt und das Truppenkontingent merklich verringert
haben. Dass die Gewalt solch erschreckende Ausmaße annehmen konnte, hatte auch
damit zu tun, dass weder die UNMIK-Polizei noch die KFOR-Truppen einen Plan zur
Gefahrenabwehr entwickelt hatten und ohnedies nicht über genügend Interventionseinheiten
verfügten. Der deutsche Polizeichef der UNMIK-Polizei gab auch zu, dass die
Gewaltausbrüche sie völlig unvorbereitet trafen.
Die unmittelbaren Motive der
Unruhen waren vielfältig: einmal die angebliche Hetzjagd gegen die drei ertrunkenen
Kinder, die als bevorzugt wahrgenommene Behandlung der Serben, etwa als sie von
der Polizei unbehelligt eine Blockade auf der Hauptstraße zwischen Prishtina
und Skopje errichteten, der unverhältnismäßig blutige Einsatz der Polizei gegen
protestierende Albaner in Mitrovica und vieles mehr. Insofern es dabei
organisierte Formen und planmäßiges Vorgehen gab, so dennoch nur am Rande und
seitens extremistischer Gruppierungen. Nach meiner Überzeugung steht keine
kosovarische Institution und keine politische Partei hinter diesen gewaltsamen
Aktionen. Die Bürger von Kosovo sind sowieso mehrheitlich dagegen. Aber die
extremistischen Gruppierungen konnten die erwähnten Schwächen der
Übergangsverwaltung und die wachsende Unzufriedenheit unter Kosovaren
ausnützen. Am schlimmsten ist es, dass die Gewaltaktionen in den meisten Fällen
jene Serben trafen, die eher geneigt waren, die neue Realität in Kosovo zu akzeptieren.
Erwähnenswert finde ich auch, dass die Verwüstungen von historischen Denkmälern
Objekte trafen, die nicht einfach »serbisch«, sondern unser gemeinsames Erbe
sind – so etwa die Kirche in Prizren, die noch aus frühbyzantinischen Zeiten
stammt, als es keine ethnische Trennung unter den Christen gab.
Was die Reaktionen der
Intellektuellen in Belgrad anbelangt, so scheint mir, dass man nicht einsehen
will, in welchem Maße das offizielle und das inoffizielle Serbien in den Lauf
der Dinge in Kosovo involviert ist. Außerdem: Man muss doch zwischen den
legitimen demokratischen Rechten und Forderungen der Kosovaren, der Albaner,
die nur mit politischen Mitteln zu erreichen sind, und dem ungeduldigen
Extremismus, der sich gegen Demokratie stellt, unterscheiden können.
Ein
ernsthaftes Problem scheint zu sein, dass Verbrechen und auch Kapitalverbrechen
so gut wie nie aufgeklärt werden. Nicht nur die Polizei, sondern auch das
Gerichtswesen werden heftig kritisiert. Aber auch, dass es kein Schutzprogramm
für Zeugen gibt.
Nun, in der Polizei und der Justiz
machen sich Fortschritte bemerkbar; das reicht aber noch nicht, zumal es enorm
viel ungelöste Fälle aus der Zeit gibt, als die Gerichte außer Betrieb waren.
Was die Mängel bei der Aufklärung von Verbrechen angeht, müsste man
Vergleichsdaten haben. Ein Problem gibt es: das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber
den Behörden und der Polizei als Hinterlassenschaft der früheren Regimes. Das
aber ändert sich relativ schnell. In der Tat ist es schwer einige Verbrecher zu
fassen – das hat nicht nur mit Ängsten von Zeugen zu tun, sondern in erster
Linie damit, dass die organisierte Kriminalität eben besser als die Polizei und
Ermittlungsorgane organisiert ist. Bei politischen Morden stimmt es schon, dass
die meisten unaufgeklärt bleiben. Was auffällt, ist, dass es hier nie die für
solche Morde typischen Bekennerschreiben gibt. Wenn sich keine Gruppe selbst
bezichtigt, kann man nur mutmaßen, wer hinter diesem oder jenem Verbrechen
steckt. Auch als einige potenzielle Zeugen liquidiert wurden, konnte man nur
Mutmaßungen darüber anstellen. Es wurden auch schon Ermittler, die den
Verbrechern auf der Spur waren, zu Opfern von Anschlägen. In manchen
Dunkelzonen weiß man gar nicht, ob es sich bei den Morden um Abrechnungen unter
kriminellen Clans oder um politische Verbrechen extremistischer oder
terroristischer Organisationen handelt. Kosovo hatte bislang keinen eigenen
Informations- und Sicherheitsdienst. Das ist der Weg zur Lösung, dass nämlich
kosovarische Institutionen einen eigenen Geheimdienst aufbauen, deren
Mitarbeiter in den Kern der Extremisten eindringen könnten.
Im
Zusammenhang mit Kosovo wird viel über das Problem der Rückkehr der Serben
gesprochen. Würdest du für uns eine kurze Analyse des Problems versuchen?
Die serbische Rückkehr war auch
bis dato keine Erfolgsstory und ab jetzt wird sie noch problematischer. Im
Zusammenhang mit der Rückkehr muss aber auf zwei Tatsachenmanipulationen
hingewiesen werden. Zunächst ist da die Zahl der 1999 geflüchteten Serben, die
meistens mit über 200000
und sogar 300000
angegeben wird. Diese Zahl ist übertrieben. Die verbliebenen Serben kann man auf
rund 100000
schätzen, davon sind einige Binnenflüchtlinge in der Enklave Mitrovica. Auch
die außerhalb Kosovo geflüchteten Serben kann man bei großzügigster Schätzung
mit rund 100000 beziffern.
Die Mehrheit davon ist nicht – wie die serbische Propaganda es will – »von
Albanern« vertrieben worden, sondern musste Kosovo verlassen, da sie sich aus
Angehörigen der Armee oder paramilitärischer Einheiten zusammensetzte, wie es
das Abkommen von Kumanovo zwischen Nato und Serbien verlangte. Serbien hatte
davor rund 60000
Menschen unter Waffen in Kosovo. Praktisch alle tauglichen Kosovo-Serben waren
mobilisiert, hinzu kamen reguläre Truppen der Armee und Polizeieinheiten. Mit
den Einheiten, die Kosovo verließen, zogen in vielen Fällen die Familien der
Soldaten mit. In den verlassenen Wohnungen und Häusern blieben so in manchen
Fällen nur ältere Familienangehörige. Albanische Gewalt und Vergeltungssucht
nach dem Krieg richteten sich gegen diesen Personenkreis. Während des Krieges
wurden rund 120000
Häuser systematisch niedergebrannt. Die spontane massive Rückkehr der
vertriebenen Kosovo-Albaner aus Makedonien, Albanien und Montenegro ließ schon
wegen der Massivität keine effiziente Kontrolle zu. Dass diese Masse nicht nur
aus Rechtschaffenen bestand und sich darunter allerlei Menschen mit kriminellen
Affinitäten mischten, ist geradezu selbstverständlich. Die Masse jener, die
ohne Dach über dem Kopf geblieben sind, stürzten sich wie bei einer Stampede
auf die verlassenen serbischen Häuser und Wohnungen und nahmen sie vor den
Augen der Interventionstruppen in Besitz. Die verbliebenen Alten konnten
»freiwillig« ausziehen oder wurden verjagt. Das waren hässliche und traurige
Ereignisse. Bedenken muss man allerdings, dass weder unter Albanern noch bei
den internationalen Organisationen, Interventionstruppen und der damaligen
UN-Mission Kräfte organisiert wurden, die so schnell hätten die Rückkehr
kontrollieren, den Aufbau der zerstörten Infrastruktur einleiten und den Serben
vollen Schutz gewähren können. Das ist lediglich in serbischen Enklaven und im
Norden Kosovos gelungen, in Teilen, die unter den Schutz der Nato-Truppen und
der internationalen Polizei gestellt und faktisch vom Rest der Provinz physisch
abgetrennt wurden.
Die zweite Faktenverdrehung stammt
von den Kosovo-Serben selbst, die sich als Rückkehrer melden. Davon hat ein
überwältigender Teil seine Häuser und Höfe verkauft und will gar nicht
zurückkehren. Von den anderen weiß man nicht, ob sie tatsächlich zurückkehren
oder nur ihre Eigentumsrechte wahrnehmen wollen, um es zu verkaufen. Das kann
im Moment einfach niemand wissen.
Was die albanische Seite
anbelangt, so äußert man sich offiziell wie insgesamt in der Öffentlichkeit korrekt,
das heißt die Rückkehr befürwortend. Allerdings impliziert das, dass die Serben
die »neue Realität« akzeptieren müssen, will sagen, dass Kosovo mehrheitlich
albanisch ist und nicht zu Serbien gehören will. Soweit sich die Kosovo-Serben
der Illusion hingeben, ihre Rückkehr könnte Serbien dabei behilflich sein,
Kosovo wieder seiner Kontrolle zu unterstellen, so ist das nicht nur falsch,
sondern auch gefährlich. Es wäre von enormer Bedeutung für die Rückkehrperspektive,
wenn es gelingen würde, ein Vertrauensverhältnis zwischen Serben und Albanern
aufzubauen, aber das ist kaum vorstellbar. Es ist schwer vorstellbar, dass die
Kosovo-Serben auch nur in Einzelfällen auf die Distanz zu Belgrad gehen
könnten. Die Serben in Kosovo tendierten ohnehin immer zu radikaleren
politischen Positionen – sie wählten fast geschlossen zunächst Milosevic, dann
Seselj. So zeigt sich, dass der Schlüssel für die Lösung dieses Problems in
Belgrad liegt. Eine Änderung wäre nur möglich, wenn Belgrad seine Ambition,
Kosovo wieder einzugliedern, aufgeben, seinen Kosovo-Mythos begraben würde.
Stattdessen veröffentlichte die serbische Regierung Ende April einen Plan, fünf
autonome Gebiete auf Kosovo zu errichten, die sich danach in eine »Gemeinschaft
serbischer Kantone« zusammenschließen sollten. So wird noch einmal
unterstrichen, dass die Kosovo-Serben ein Unterpfand der Belgrader Politik
sind. Solche Ambitionen und Pläne führen letztendlich in eine kriegerische
Option, eine Teilung Kosovos durch Gewalt. Aber Kosovo befindet sich schon auf
dem Wege in die Unabhängigkeit und hat schon eigene staatliche Strukturen
aufgebaut. Es kann auch nicht für alle Ewigkeit ein »Unmikistan«, eine
Quasikolonie bleiben.
1
Vgl. Bericht der ICG: »Collapse in Kosovo«, Europe Report
N°155, 22. April 2004; www.crisisweb.org