Interview

 

An der Grenze zwischen Recht und Moral

 

Markus Bickel im Gespräch mit Wolfgang Petritsch über Rambouillet und den Kosovo-Krieg

 

Wolfgang Petritsch war einer der drei Unterhändler 1999 in den Verhandlungen von Rambouillet zwischen der Nato- Kontaktgruppe und Serbien. Im Gespräch erklärt er noch einmal die Verhandlungsführung und die politischen Umstände, die zur Intervention führten. Noch heute wird der Krieg von Völkerrechtlern sehr unterschiedlich eingeschätzt. Laut Petritsch läge es heute an den Kosovo-Albanern, demokratische Reife zu demonstrieren.

 

Markus Bickel: In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung von Mitte April 1999 räumten Sie ein, dass die Annahme des Appendix B einen kaum annehmbaren Souveränitätsverlust für Serbien bedeutet hätte. Warum haben Sie die Delegation aus Belgrad dann überhaupt zur Annahme gedrängt?

Wolfgang Petritsch: Da bitte ich um das exakte Zitat, und das lautet: »Es war uns vollkommen klar, dass sich ein souveränes Land mit diesen Bestimmungen (nämlich den militärischen) am schwersten tut.« Da sich Belgrad aber zu diesen Bedingungen auf die Verhandlungen in Rambouillet eingelassen hatte, war ich der Hoffnung, dass wir einen gangbaren Kompromiss finden würden. Bereits das so genannte Milosevic-Jelzin-Abkommen vom Juni 1998 hat die Kosovo-Frage de facto internationalisiert, und im Abkommen vom Oktober 1998 hat Milosevic Holbrooke bereits eine NATO-Luftüberwachung des Kosovo zugestanden. Die Einschränkung der jugoslawischen Souveränität wäre also nicht erst durch Rambouillet erfolgt.

 

Inwieweit waren Sie persönlich, inwieweit andere europäische Konferenzteilnehmer an der Formulierung des Appendix B beteiligt? Oder stammt das Dokument, das ja stark an die militärischen Bestimmungen des Dayton-Vertrags angelehnt ist, ausschließlich aus US-amerikanischer Feder?

»Appendix B« behandelt den »Status« der multinationalen Friedenstruppe im Kosovo und kommt von der NATO-Bürokratie in Brüssel. Viel wurde in diesen Teil des Rambouillet-Abkommens hineingeheimnisst, dabei bietet er am wenigsten Anlass dazu, weil er zum Teil wortwörtlich vom Dayton-Vertrag übernommen wurde und sozusagen Routine bei internationalen Friedenseinsätzen ist. Die UNO schließt regelmäßig solche Abkommen mit jenen Staaten ab, auf deren Territorium Blauhelme eingesetzt werden. Dasselbe gilt für andere regionale Organisationen wie OSZE oder eben die NATO. Solche Abkommen dienen dem Schutz des internationalen militärischen und zivilen Personals. Kein Staat würde seine Bürger ohne solche Garantien der möglichen Willkür der dortigen Behörden aussetzen. Staaten würden für solche Missionen ganz einfach keine Kontingente zur Verfügung stellen. Diese »Status of Forces Agreements« oder SOFAs, wie sie im UNO-Speak genannt werden, könnte man etwa mit der Immunität von Diplomaten vergleichen; auch sie sind etwa von der lokalen Rechtsordnung ausgenommen.

Nur Uninformierte konnten daher von »unannehmbar« sprechen. Milosevic hat Dayton verhandelt und unterschrieben, damit war für ihn »Appendix B« nicht neu oder überraschend. Im Gegenteil, Dayton enthält bereits das Recht der NATO, jugoslawisches Territorium zu benützen. Es kann natürlich auch keine Rede von der Besetzung ganz Jugoslawiens sein – welcher europäische Staat hätte dem zugestimmt, frage ich Sie. Der Vertrag war gleichsam per definitionem unmissverständlich auf Kosovo beschränkt.

 

Branko Brankovic aus der jugoslawischen Delegation behauptet, den Appendix B erst am 18. Februar zu Gesicht bekommen zu haben. Wann haben Sie das Papier zum ersten Mal gesehen? Wann wurde Ihr russischer Kollege Boris Majorski darüber informiert?

Es war mit beiden Seiten vereinbart, dass zuerst der politische und dann der militärische Teil besprochen werden sollte. Während die Albaner nur am militärischen Interesse hatten – sie wollten »die NATO« im Land –, wollte Belgrad möglichst lange den rechtlich-politischen Teil verhandeln. Damit hatten sie auch Recht, denn es ging um die zukünftige Machtverteilung in einem autonomen Kosovo. Dabei erwiesen sie sich als sehr erfolgreich. Experten haben später errechnet, dass die circa 10 Prozent Kosovo-Serben circa 40 Prozent der politischen Macht zugesprochen bekommen hätten. Denn unsere Intention bestand eben in der Stärkung der Minderheit – ein modernes europäisches Prinzip.

Nun zum Zeitpunkt der Übergabe des »Appendix B« an die jugoslawische Delegation: Der militärische Anhang war nur für Belgrad bestimmt, denn nur einem Staat steht die Ausübung der militärischen Gewalt zu, die kosovo-albanischen Vertreter hatten – im Unterschied zum zivilen Teil – kein Mitspracherecht.

Wie Brankovic feststellt, hat die jugoslawische Delegation sechs Tage vor der Unterbrechung der Konferenz den militärischen Anhang zu Gesicht bekommen; hatte also genügend Zeit, ihn genau zu studieren, ihn auch nach Belgrad weiterzuleiten und sich mit dem Inhalt ausführlich auseinander zu setzen. Von »Geheimniskrämerei« oder »Überrumpelung« – wie gelegentlich kritisiert – kann also überhaupt keine Rede sein. Ich meine, dass unser Vorgehen fair und korrekt gewesen ist, und ich bin Brankovic, einer der erfahrensten jugoslawischen Diplomaten, dankbar, dass er dies auch so darstellt.

Ich habe diesen Teil des Vertrages in etwa zum selben Zeitpunkt in die Hand bekommen; detto Majorski, der aber klargestellt hatte, dass er sich mit dem militärischen Teil erst dann auseinander setzen wird, wenn die jugoslawische Seite ihn als Verhandlungsgrundlage akzeptiert. Gerade dies aber wurde mir von Brankovic in einem Vieraugengespräch für die Paris-Phase der Verhandlungen in Aussicht gestellt. In Rambouillet hat er noch gemeint, Belgrad brauche Zeit, um sich mit dem Gedanken einer militärischen Komponente im Kosovo anzufreunden – daher dann die dreiwöchige Unterbrechung der Verhandlungen.

 

Glauben Sie, dass zum Zeitpunkt der Konferenz auf US-Seite überhaupt noch der Wille zu einer Verhandlungslösung bestand? Dem Vernehmen nach soll die Clinton-Administration ja bereits im Oktober 1998 eine militärische Intervention als unumgänglich betrachtet haben.

Zweifellos war die Neigung der USA zu einer bewaffneten Lösung ab dem Massaker von Racak Mitte Jänner 1999 ziemlich ausgeprägt. Wir Europäer haben uns aber mit dem Rambouillet-Vorschlag durchgesetzt und die USA haben tatsächlich mitgezogen. Das hat auch die oftmalige Anwesenheit der amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright gezeigt. Sie war zwar manchmal sehr »pushy«, aber immer im Sinne einer friedlichen Lösung. Hätte Milosevic nicht im letzten Augenblick die Unterschrift verweigert, wäre die NATO-Drohung leer geblieben. Tatsache aber ist auch, dass bereits seit Oktober 1998 der damalige NATO-Generalsekretär Javier Solana von seinen Chefs die »Activation Order« hatte, er also jederzeit die militärische Intervention anordnen konnte. Rückblickend betrachtet war dies eine problematische Hypothek für die Verhandlungen, da wir wussten, dass bei einem Fehlschlag der diplomatischen Bemühungen gleichsam automatisch die Militärs übernehmen würden. Diesem – damals allgemein bekannten – »Befehl auf Vorrat« haben aber alle NATO-Mitglieder zugestimmt, also auch die Europäer.

 

Welchem Ziel diente die Konferenz am Ende wirklich – dem Erreichen eines Abkommens zwischen Kosovo-Albanern und Serben oder dem Vorwand für militärische Maßnahmen gegen Belgrad?

Diese Frage hat mich lange Zeit sehr beschäftigt und mir so manche unruhige Nacht bereitet. Seit ich aber mit Milosevic im Juli 2002 einen ganzen Tag lang in Den Haag – wo er mich ins Kreuzverhör genommen hat – alle Details und möglichen Motive durchgehen musste, weiß ich, dass wir richtig gehandelt haben. Ich meine, dass es mir in Den Haag gelungen ist, alle Einwände von Milosevic – und er war ausgezeichnet vorbereitet, kannte mein Buch, meine Interviews – zu widerlegen. Vielleicht war dies für meinen eigenen Seelenfrieden noch wichtiger als der vor dem internationalen Kriegsverbrechertribunal gelungene Nachweis, in Rambouillet korrekt gehandelt zu haben.

 

Sie kennen Milosevic und seine Nomenklatura besser als alle anderen in Rambouillet beteiligten europäischen Diplomaten. Gingen Sie vielleicht trotzdem von der falschen Vorstellung aus, dass er angesichts der seit Oktober 1998 ständig verschärften Drohungen der Nato letztlich alles unterschreiben würde, um eine Bombardierung seines Landes zu verhindern?

Da stehen selbst seine engsten Mitarbeiter vor einem Rätsel. Auch sie konnten mir nicht sagen, welche Überlegungen ihn zur Ablehnung veranlasst haben. Dennoch bestand berechtigte Hoffnung, dass er, ähnlich wie im September 1995 in Bosnien, nach wenigen Tagen einlenken würde. Dass dem nicht so war, ist die besondere Tragödie der Serben, die am Ende eines zehnjährigen Bürgerkrieges, der immer anderswo stattgefunden hat – von Slowenien über Kroatien, schließlich Bosnien und Herzegowina – Tod und Zerstörung im eigenen Land erleben mussten.

 

Die Lage im Kosovo war nach Abschluss des Holbrooke-Milosevic-Abkommens im Oktober 1998 zunächst relativ ruhig. Glauben Sie, dass das Abkommen ohne die Provokationen der UCK hätte halten können?

Das genannte Abkommen hatte den Nachteil, dass es die Kosovo-Albaner nicht mit einbezogen hat. Obwohl ich Rugova wenig später zur Unterstützung des Abkommens bringen konnte, fühlte sich die UCK nicht daran gebunden. Das hat sich als großes Handicap erwiesen und letztlich zum Scheitern dieser US-Initiative beigetragen. Für mich aber war es die Bestätigung, dass ohne die Einbeziehung der UCK, des militanten Lagers, wohl keine Lösung zu finden sein wird. Dieser Meinung hat sich schließlich die Kontaktgruppe, Russland nur sehr zögerlich, angeschlossen. In Rambouillet hat sich meine These insofern bestätigt, als dass die UCK dort ihrer Auflösung zugestimmt hat – wenngleich unter größten internen Widerständen.

 

Welchen Einfluss auf die Entwicklung hin zu einem militärischen Eingreifen räumen Sie dem Massaker von Racak bei?

Racak war zweifellos der »Turning Point« im Kosovo Konflikt. Die internationale Gemeinschaft stand noch unter dem Schock der achttausend Ermordeten des Massakers von Srebrenica und anderer Schrecknisse des Balkan-Krieges. Daher das manchmal hektische Bestreben, den Konflikt so rasch wie möglich zu beenden, auch wenn man bei der Beurteilung manchmal übers Ziel zu schießen drohte. Aber die Angst vor einem weiteren politischen Versagen à la Bosnien hat das Handeln der Amerikaner und Europäer sehr stark beeinflusst.

Schließlich ist das weltweite Medienecho nicht zu vergessen. Der so genannte CNN-Effekt hat die politische Drehzahl auch im Kosovo zweifellos rasch, manche meinen zu rasch, in die Höhe getrieben.

 

Wenn Sie die Lage im Kosovo heute betrachten, wo Serben, Roma und andere Minderheiten täglich von Übergriffen bedroht sind: War das die NATO-Intervention wert?

»Wert« ist in der Politik bekanntlich ein relativer Begriff. Ich bin auch heute noch überzeugt, dass die Intervention richtig und notwendig gewesen ist; obwohl ich persönlich eine Verhandlungslösung vorgezogen hätte, keine Frage. Die jüngsten tragischen Ereignisse im Kosovo und in Serbien, die Toten von Mitrovica, die Zerstörungen und Brandschatzungen, bedeuten freilich einen schweren Rückschlag für die Befriedung der Region. Zweifellos trägt die internationale Gemeinschaft ein gerütteltes Maß an Mitverantwortung. Sie wird ihre Strategie ernsthaft überprüfen müssen. Aber es liegt in erster Linie an den Serben und Albanern, nicht die Fehler des Milosevic-Regimes zu wiederholen. Die halbe Welt hat für die Wiederherstellung der Menschenrechte im Kosovo interveniert. Gerade die Albaner des Kosovo sollten nun demokratische Reife und die Bereitschaft zur Versöhnung demonstrieren. Sie müssen nun endlich die vertriebenen Serben und Roma in den Kosovo – ihre gemeinsame Heimat – zurückholen. Eine historische Verantwortung und Verpflichtung der Kosovo-Albaner, die über eine bessere Zukunft dieses armen Landstriches entscheiden wird.

 

In Anbetracht des damit verbundenen Bruchs des Völkerrechts: War der Krieg ein Fehler?

Völkerrechtler haben unterschiedlich reagiert, ihr Urteil schwankt zwischen Ablehnung und Akzeptanz. Von »lässlicher Sünde« im humanitären Interesse ist da die Rede, aber auch von der Notwendigkeit der Weiterentwicklung des Völkerrechtes angesichts dysfunktionaler globaler Mechanismen. Sozialwissenschafter sehen die Frage komplexer. Ein Psychoanalytiker – Stavros Mentzos – hat in einem Standard-Interview von den Rambouillet-Unterhändlern sogar gemeint, sie hätten den Friedensnobelpreis verdient. Ich weiß es nicht ... Im Grunde geht es nämlich um einen Grundsatzstreit menschlichen Zusammenlebens, um die Entscheidung zwischen Staatssouveränität und Menschenrechten. Dieses Dilemma ist bislang nicht befriedigend aufgelöst worden. Ich halte es daher mit Jürgen Habermas, der wenige Wochen nach Ausbruch des Krieges in einem groß angelegten Essay die »humanitäre Intervention« gegen Jugoslawien als einen »Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral« angesiedelt hat. Auch er konnte die Frage – Fehler oder Notwendigkeit – nicht schlüssig beantworten; eine intellektuell redliche Position, die ich teile.