Richard Wagner
Die Rückkehr des Antisemitismus
Schuldzuweisung
im postideologischen Europa
Die Denkfigur der Beschuldigung des Fremden, so unser Autor, zieht sich
durch die Geschichte Europas. Kapitalismus und Kommunismus werden zum Beispiel
gleichermaßen den Juden zugeordnet. Gewisse Denkschemata haben sogar den Holocaust
und den Kalten Krieg überlebt und kehren in einem vagabundierenden Antisemitismus
zurück – bei dem die USA und Israel im Zentrum stehen.
Die europäische Angst
Wenn es
ein kollektives Gefühl gibt, das die Geschichte der europäischen Kultur begleitet,
dann ist es die Angst. Nicht dass andere Kulturen nicht um das Prekäre der
Existenz wüssten, sie gleichen dieses Wissen aber durch einen gekonnten Fatalismus
aus, der den Europäern ganz und gar abgeht. Es ist das europäische Selbstbewusstsein,
das sich gegen Gott gestellt und dafür die Innovation erwirkt hat, aber auch
deren Kehrseite, das Heraustreten aus der großen Harmonie und den Eingriff in
den natürlichen Kreislauf, in das, was man früher die Schöpfung zu nennen
pflegte.
Diese »Kultur der
Gotteslästerung«, wie Jean Delumeau sie bezeichnete, hat bei den Europäern zum
Höhenflug geführt, aber auch zu einer Verunsicherung über die Legitimität des
eigenen Handelns, die im 20. Jahrhundert zuletzt in den ökologischen
Bewegungen, aber auch in diversen Hysterien zum Ausdruck kam. Das gelegentliche
Aufflammen dieser Hysterien lässt sich gut an der hektischen Wahrnehmung von
Seuchen und Kriegen in den Medien beobachten. In den Augen der Europäer wird
alles zur Epidemie.
Die frühe Ursache der Ängste geht
wahrscheinlich auf das besondere Verhältnis des Europäers zu seiner Religion,
dem Christentum, zurück. Für den Europäer ist es während des ersten
Jahrtausends eine angenommene Religion, in der er nicht ganz heimisch wird.
Deshalb bleiben ihre finsteren Prognosen, in der Apokalypse zusammengefasst,
für ihn eine Drohung. Der Europäer ist aus Angst religiös, aber er glaubt nicht
bedingungslos. Er lebt in seiner Religion und steht gleichzeitig neben ihr. Das
macht sein Unbehagen aus.
Schuldzuweisungen
Der
moderne Europäer hat eine Schwindel erregende Gratwanderung hinter sich. Das
ist ihm eher unbewusst als bewusst klar und steigert sein Unbehagen. Dieses
Unbehagen wiederum wird unter Kontrolle gehalten durch ständig wechselnde
Schuldzuweisungen. Zu deren Plattform ist vor allem der Protestantismus
geworden, eine genuin europäische Erfindung. Mit dem Protestantismus versuchte
man sich das Christentum doch noch zu unterwerfen, es für die weltlichen
Angelegenheiten zu instrumentalisieren.
Die Schuldzuweisungen, die am
Anfang in Form von Mahnungen das eigene Handeln betrafen, haben sich mit den
Jahrhunderten zunehmend auf das Fremde und die Fremden verlagert. Wenn man noch
bis zur Kolonialidee die eigene Verantwortung ventilierte, so wurden gerade im
20. Jahrhundert zunehmend Objekte der Schuldzuweisung außerhalb des
europäischen Kulturkreises gesucht und gefunden. Die Fremdbeschuldigung trat an
die Seite der Selbstbezichtigung.
Die Denkfigur, die dem Vorgang zugrunde
lag, geht allerdings weit zurück. Es ist die christliche Anschuldigung den
Juden gegenüber, Jesus geopfert zu haben. Nun waren es aber bekanntlich
Europäer, die den Jesusmord zu verantworten haben, die jüdischen Händler haben
den Mann bloß denunziert, wollte er sie doch aus dem Tempel jagen.
Der Widerspruch zwischen Tempel
und Handel, die Verknüpfung von Denunziation und Mord, grundieren das
europäische Kulturverständnis. Dieses geriet mit der Übernahme des Christentums
in ein Dilemma, das unendlich produktiv wurde für die Herausbildung des
Individualismus und den technischen Fortschritt, aber immer wieder auch die
kollektiven Ängste schürte, spätestens mit dem apokalyptischen Millenniumsverständnis
am Ende des ersten Jahrtausends.
Die Beschuldigungsstrategien haben
ihre Begründung im hysterischen Verhalten, aber auch in realen Herausforderungen,
denen sich die Europäer nicht gewachsen fühlten. Der Druck auf das Individuum
war durch die europäische Entwicklung zu stark. Es sind die von Goethe beschriebenen
Geister, die man rief und die den Europäer zum Zauberlehrling werden ließen.
Rückkehr der antisemitischen Diskurse
Die
Denkfigur der Beschuldigung des Fremden hat ihre staatlich sanktionierte Rolle
nicht zufällig im 20. Jahrhundert wieder gefunden, im Zeitalter der großen
europäischen Gewalteskalation. Die Phänomene, die die Europäer nicht mehr im
Griff haben, werden regelmäßig zum Gegenstand der Schuldzuweisung. Kapitalismus
und Kommunismus, die sie extrem verunsichern, werden umgehend den Juden zugeordnet.
Treitschkes 1879 geäußerter Satz von den Juden, die unser Unglück sind, findet
in Goebbels sein zeitgeistiges Sprachrohr und einen fulminanten gesamteuropäischen
Beifall. Die Erklärungsformel ist simpel und süffig zugleich. Sie leuchtet dem
Taschendieb wie dem Unternehmer gleichermaßen ein. Es ist fast der einzige
Satz, auf den sich Intellektuelle und Politiker sofort einigen konnten. So wurde
ein schier unausrottbares Denkschema in die Moderne eingefügt, das, wie man
gerade wieder beobachten kann, selbst den Holocaust überdauert hat.
Seit Jahren ist eine Rückkehr der
antisemitischen Diskurse zu verzeichnen. Man kann das mit Staunen zur Kenntnis
nehmen, muss sich aber auch fragen, woher das Problem kommt, und warum es diese
Aktualität gewinnen konnte.
Eine der Hauptquellen des neuen
Antisemitismus ist tatsächlich von außen nach Europa gebracht worden, als Teil
der nicht gelösten islamischen Migrationsproblematik. Die Europäer sind mit
ihrer Integrationsidee bei den moslemischen Einwanderern gescheitert. Sichtbare
Beweise dafür sind die Ghettobildung und der Rückgriff in der zweiten und
dritten Generation auf die Symbole der islamischen Religion und Tradition,
siehe Kopftuch; ein Vorgang, der sich letzten Endes gegen den säkularen Charakter
der europäischen Gesellschaft richtet.
Der islamische Antisemitismus
erscheint auf den ersten Blick dem christlichen verwandt, er hat aber eine
besondere aktuelle Komponente, die der großen arabischen Frustration, deren
Ursachen man nicht im eigenen Unvermögen zur Bildung einer prosperierenden
modernen Gesellschaft sehen will, sondern im Imperialismus der USA und speziell
im Zionismus Israels. Was aber ist der wahrscheinlichste aktuelle Grund für den
Hass auf Israel? Dieser Kleinstaat stellt eine Herausforderung dar, weil er in
der unmittelbaren Nachbarschaft den arabischen Massen und Eliten vor Augen
hält, dass Demokratie und Wohlstand sich im Nahen Osten durchaus verwirklichen
lassen.
Was aber die Vereinigten Staaten
und ihre strategischen und energetischen Interessen betrifft, so muss man
sagen, das kaum ein Teil der Welt von den Ressourcenbedürfnissen des Westens
mehr profitiert hat als Arabien. Nirgends sind so große Geldströme hingeleitet
worden und nirgends hat man mit einem solchen Geldsegen so wenig angefangen als
in der arabischen Welt. Man nehme zum Vergleich die Tigerstaaten Südostasiens,
und es wird schnell klar, dass der Grundantrieb für die Modernisierung die auf
Religion und Arbeitsethos begründete Mentalität ist. Die wahre Ursache für das
Unglück der arabischen Welt ist nicht der Zionismus, sondern die Immobilität
des Islam als Instrument in der Hand des in seinen traditionellen Allmachtsfantasien
und damit verbundenen Kränkungen lebenden arabischen Mannes.
Der vagabundierende Antisemitismus
Eine solche
Analyse scheint aber im heutigen Europa wenig Chancen zu haben. Die Europäer
widmen sich lieber den Idiosynkrasien, die auf ihren Kriegsängsten beruhen. Die
von zwei Weltkriegen traumatisierten nationalen Gemeinschaften wollen und
können keinen rationalen Blick auf den Begriff Krieg werfen. So kommt es, dass
Israel und die Vereinigten Staaten in der Golfkriegsdebatte und neuerdings in
der Irakfrage allgemein als die Kriegstreiber angesehen werden, der Zionismus
sogar ganz offen für die unterschiedlichsten politischen Positionen als Ursache
für den Nahostkonflikt herhalten muss. Antisemitismus und Antiamerikanismus
gelten als Zwillinge. Wir konstatieren, was die beiden Denkbilder betrifft,
eine Gemengelage.
Es gibt heute, neben den sattsam
bekannten Rechtsextremisten, auch linke Intellektuelle, die von zionistischem
Einfluss in der amerikanischen Regierung sprechen, wie Ted Honderich oder Mikis
Theodorakis. Mal abgesehen davon, dass die These bereits von Goebbels
formuliert wurde, erscheint der Vorgang bei genauerem Hinsehen keineswegs
überraschend. Der Antisemitismus hatte einen festen Platz im Stalinismus und in
der Sowjetideologie allgemein. Die Kommunisten haben bekanntlich Stimmungen aus
der Bevölkerung oft und gerne manipuliert und auch integriert, so den
Fremdenhass und den Nationalismus. Beides nützte den Kommunisten bei ihrem
Machtanspruch, so konnten sie die Gesellschaft besser isolieren.
Der sowjetische Antisemitismus hat
aber auch einen handfesten Grund im Kontext der Interessenlage des Kalten Kriegs.
Während die Sowjetunion 1948 noch die Gründung des Staates Israel in der UNO
mittrug und durch Auswanderungsgenehmigungen aus dem Ostblock in den
Anfangsjahren zu seiner Stärkung beitrug, wechselte sie später die Fronten. Und
zwar aufgrund der Konfliktlage zwischen dem Westen und dem arabischen
Nationalismus, dem Nasserismus, die in der Suezkanalkrise von 1956 gipfelte.
Die Sowjetunion sah für sich die Chance, im Kampf ums Öl mitzupokern. So wurde
der kommunistische Antizionismus geboren, auf den sich auch viele linksradikale
Gruppen in Westeuropa beriefen, bis hin zu den Terroristen der RAF. Der
Antizionismus war von Anfang an eine Komponente des Denkens und Handelns der
deutschen Terrorszene und ihrer Sympathisanten. Diese Form des Antisemitismus,
die 1976 in der Selektion jüdischer Passagiere durch deutsche Terroristen der
»Revolutionären Zellen« bei der Flugzeugentführung in Entebbe kulminierte,
lebte nach dem 11. September in Deutschland in Teilen der linken Szene wieder
auf.
Eine weitere Quelle des neuen
Antisemitismus ist in Osteuropa zu verorten. Sie hat mit dem Debakel des
Kommunismus zu tun, und mit der Ratlosigkeit bei der Aufarbeitung der
totalitären Vergangenheit. Quer durch ganz Osteuropa war nach dem Aufheben der
Zensur in den Neunzigerjahren die Rückkehr des Antisemitismus in die Öffentlichkeit
zu beobachten. Man versuchte sich, aus Gründen der Selbstentlastung, den
Kommunismus als jüdische Erfindung zu erklären.
Die osteuropäischen Kleinstaaten,
die im 20. Jahrhundert vielfach durch Kollaboration, sowohl mit dem
Nationalsozialismus als auch mit dem Bolschewismus, überlebten, haben die
Neigung, sich selbst zu entlasten, indem sie sich in der Zwangslage sehen, als
Überlebenskünstler. Sie wollen sich aber nicht zu ihrer Schlitzohrigkeit bekennen,
weil das offensichtlich der romantischen nationalen Selbstverklärung widerspricht.
Deshalb sehen sie sich gerne in der Rolle der Genötigten. Die Rolle des Verbrechers,
wo das Verbrechen nicht zu leugnen ist, kommt so den Fremden zu, mit Vorliebe
den Juden. Diese Form des antistalinistischen Antisemitismus reiht sich ins
gesamteuropäische Instrumentarium ein, sie strahlt gelegentlich auch auf den Westen
aus, wie es zuletzt der Fall Hohmann deutlich machte.
Die Jagd nach den Phantomen des
amerikanischen Imperialismus und des israelischen Zionismus und deren
vermeintliche gegenseitige Zuordnung macht die Europäer wieder einmal für
diverse Verschwörungstheorien empfänglich. Europa sollte sich mehr mit den
realen Bedrohungen der westlichen Welt auseinander setzen. Man kann dabei zwar
schnell ratlos werden, aber vielleicht ist es doch besser, gar keinen Rat zu
wissen, als den Juden des Mordes zu bezichtigen.