Peter Mosler
Gespalten in Europa
Die
post-osmanische Konfliktregion Zypern
Andreas Stilla, Schreiner, 61 Jahre, kam immer abends um sieben ins
Kafenion, und er setzte sich stets an denselben Tisch, den Tisch, an dem andere
aus dem Dorf saßen, die politisch debattierten. Daneben gab es Tische, an denen
Karten oder Tavli gespielt wurde. Stilla sagte: »Ich höre auf zu rauchen, wenn
es eine Zypernlösung gibt.« Die anderen lächelten, denn sie wussten: das
bedeutet niemals. »Zypernlösung« und »niemals« sind Synonyme geworden, seitdem
über 40 Jahre lang darüber verhandelt wird. Gibt es keine Aussichten für eine
Wiedervereinigung der Insel?
Wenn die Axt in den Wald
kommt, sagen die Bäume:
»Der Stiel ist einer von uns.«
Türkisches Sprichwort
Es ist
kurz vor dem Referendum im Süden und Norden des Landes. Zypern – hochpolitisiert
und zerrissen, wie ich es zum letzten Mal in dieser Spannung in den Siebzigerjahren
des vergangenen Jahrhunderts erlebt habe, als der Nationalist General Grivas
mit seinen Getreuen aus dem Untergrund bewaffnet gegen den Staatspräsidenten
Makarios kämpfte. – »Ich wähle Ja beim Referendum,« sagt Jana Balanas, 39
Jahre, »denn es gibt ein zypriotisches Volk. Aber die Mehrheit hat die
Nein-Partei,« fügt sie entmutigt hinzu. Das Nein beherrscht den öffentlichen
Raum. Große Plakate mit ochi (nein) an den Fernstraßen, Aufkleber,
Flugblätter, Druckschriften, und im Fernsehen spricht Präsident Tassos
Papadopoulos gegen den Annan-Plan. Mit Tränen in den Augen beschwört er seine
Wähler, den Plan beim Referendum abzulehnen. Er sagt: »Ich habe einen Staat
übernommen und werde keine Gemeinschaft übergeben!« Auf einer Kundgebung tragen
die Demonstranten ein vorgedrucktes Schild »NEIN. Ich vergesse nicht.« Gemeint
ist die türkische Invasion vor dreißig Jahren. Vergessen aber sind der
Bürgerkrieg von 1963/64, seit dem es faktisch keine Verfassungswirklichkeit in
Zypern mehr gibt (die verfassungsgemäß vorgesehenen Mandate und Posten für die
Zyperntürken bleiben unbesetzt), vergessen ist der Putsch der griechischen
Armee mit Unterstützung der zyprischen Illegalen der EOKA-B. Präsident Tassos Papadopoulos,
der in der Sonntagskolumne der Cyprus-Mail spöttisch »Papa Dop« genannt
wird, hat von Anfang an gegen den Annan-Plan gekämpft. Er hat eine dunkle
Vergangenheit: Er war 1963 der zweite Mann in der Verschwörerorganisation
»Akritas«, die eine Armee unterhielt und die mit dem nationalistischen
Bekenntnis beschrieben wird: »Unsere Ideale lassen sich …in einem Zauberwort
zusammenfassen: Hellas.« Nicht dass Papadopoulos heute noch die Ideale der Enosis
(Anschluss an Griechenland) verträte; dafür würde er im wohlhabenden Zypern
auch kaum eine Klientel finden. Aber anders als der frühere Staatspräsident
Glafkos Klerides (der 1963 auch eine Position in »Akritas« innehatte) war Papadopoulos
stets ein Trommler gegen den Annan-Plan.
Aus Athen ist die Stimme des
nationalistischen Erzbischofs Christodoulos zu hören. Er behauptet, der
Annan-Plan verlange von den Zyprern, »Griechenland, ihre Sprache und ihre
Geschichte zu vergessen«. Er rief die Gläubigen dazu auf, für das Scheitern des
Plans zu beten. Früher hatte Christodoulos schon einmal Aufsehen mit seiner
Bemerkung über den möglichen EU-Beitritt der Türkei erregt: »Kein Barbar kann
in die Familie der Christen kommen!«
Der Metropolit von Paphos in
Zypern schlägt einen ähnlichen Ton an: »Die Kirche spricht ein starkes Nein
aus, weil nur so das Vaterland gerettet werden kann, wenn auch einige das immer
noch nicht verstehen.« Die Heilige Synode Zyperns ruft in einer Enzyklika das
Volk zu einem starken Nein im Referendum auf. Die Bischöfe von Paphos und
Kyrenia drohen den Ja-Wählern sogar an, »dass sie zur Hölle« fahren. Es gibt
nur einen Bischof, der sich zum Ja bekennt, Homeros Massuras Neophytos,
Metropolit von Morphou.
Im Kafenion hallt das ochi
wie ein Flintenschuss durch die Gespräche, aber die Stimmung bleibt friedlich.
Das Mantra der Zyperngriechen ist: »Wir haben etwas gegen die Siedler. Mit den
Zypern-Türken haben wir kein Problem – aber die Siedler!« Unter den älteren
Zyprern kursiert das Wort: »Geh nicht über eine Brücke, wenn Türken sie erbaut
haben.« Aber auch wer sich zum Ja bekennt, wird zum Kaffee eingeladen. In den
Städten der Insel kommt es freilich vor, dass ein Zyprer sein Auto mit
zerschlagener Scheibe vorfindet, weil ein Ja-Aufkleber daran klebte. Nur zwei
Parteien, darunter die konservative Oppositionspartei DISY, sprechen sich für
ein Ja aus, die anderen sechs Parteien rufen zum Nein auf. Von Bedeutung ist
das vor allem bei der konservativ kommunistischen AKEL, die eine breite
Anhängerschaft hat.
Als dann am Abend des 24. April im
Fernsehen die Ergebnisse bekannt gegeben werden, sind viele erschrocken: 76
Prozent Nein, 24 Prozent Ja, nur eine kleine Minderheit. Einer sagt mir: »Wir
haben Nein gewählt, weil wir kein Vertrauen in den guten Willen der Türkei
haben. Uns ist die Angst von 1571 geblieben, seitdem die Europäer uns in den
Händen der Türkei gelassen haben.« Man muss in Zypern historisch gewappnet
sein, denn die Griechen der Insel jonglieren nicht mit 100, sondern mit 500
Jahren: 1571 gelangte Zypern während der Regentschaft von Sultan Selim II. in
Istanbul durch einen Feldzug in osmanische Hand. Zuvor gehörte Zypern zum
venezianischen Reich und stellte eine Art Vorposten der Europäer im östlichen
Mittelmeer dar, das unter osmanischer Kontrolle war. Die Insel blieb bis 1877
unter osmanischer Herrschaft, also rund 300 Jahre, übrigens die gleiche Zeit,
in der die Lusignans in Zypern herrschten (1192–1489), ein französisches Adelsgeschlecht
aus Poitou. Es gibt aber keine antifranzösische Stimmung unter den Zyprern,
virulent ist die Türkenfurcht: Warum? 1453 Eroberung Konstantinopels durch die
Osmanen, 1571 Eroberung Zyperns, 1922 die »kleinasiatische Katastrophe«, als im
griechisch-türkischen Krieg griechische Soldaten und Zivilisten vor türkischen
Truppen flohen und durch den großen Brand in Smyrna (Izmir) 10–15000 Griechen
umkamen und an die 200000
mit Schiffen evakuiert wurden. Der Friede von Lausanne statuierte 1923 die
ethnische Säuberung als Vertragsakt: 1,3 Millionen Griechen mussten die Türkei
verlassen und 400000
Türken Griechenland. Das war das Ende der dreitausendjährigen griechischen
Siedlungsgeschichte in Kleinasien. Zypern blieb weiter eine post-osmanische
Konfliktregion: 1974 Invasion der Türken nach dem griechischen Putsch und
Teilung der Insel.
Mein Freund hatte mit Ja gestimmt,
seine Frau mit Nein. Er sagt: »Es ist das Scheitern der Versöhnung mit den
Zyperntürken.« Wahlanalysen besagen, dass die Ja-Stimmen von den über
Fünfzigjährigen kommen. Sie sind es, die zyperntürkische Freunde hatten und die
die heute besetzten Gebiete kennen. Sein Nachbar fügt bitter hinzu: »Die Leute
sagen: Es geht uns gut, und Änderungen wollen wir keine.« Das erinnert mich an
eine Umfrage aus diesem Jahr, in der 48 Prozent der befragten Zyperngriechen
sagten: Ich bin glücklich mit meinem Partner und mit meinem Job zufrieden. Nur
Dänen sind glücklicher in Europa. Die Teilung ihres Landes hält die
griechischen Zyprer nicht davon ab zu sagen: Ich bin glücklich. Warum auch? Sie
verdienen vier- bis fünfmal so viel wie die Zyprer im Norden in der Türkischen
Republik Nordzypern (TRNZ), die offiziell »Pseudostaat« heißt und ihr Präsident
Mehmet Ali Talat der »Sogenannte«. Zudem hat der saturierte Bürger der Republik
Zyperns (der freilich nicht selten auch gastfreundlich ist) Angst vor den
Kosten der Wiedervereinigung. Ich bin immer wieder nach den Kosten der
Vereinigung mit der DDR gefragt worden. Dass bisher 900 Milliarden Euro
Transfergelder in das Beitrittsgebiet geflossen sind, hören sie mit Schrecken.
»Und wie lange dauert es bei euch?« – »Dreißig Jahre, heißt es«, gebe ich
zurück.
Den Annan-Plan halten viele
Zyperngriechen für einseitig. Siedler dürfen im Land bleiben (es sind, nach
einer unabhängigen Berechnung, 115000), und der Abzug des türkischen Militärs (30000 Soldaten)
vollzieht sich sehr zögerlich. Für den Süden fehlen »Sicherheitsgarantien«. Man
kann aber nicht sagen, dass die Griechen der Insel auf das Referendum
angemessen vorbereitet wurden: Der Annan-Plan umfasst 3000 Seiten, und zwischen Bekanntgabe und
Abstimmung lagen drei Wochen. Niemand kannte den Plan, jeder war darüber seiner
politischen Einstellung gemäß von seiner Zeitung und seiner Fernsehstation
informiert worden. In Wirklichkeit waren die Medien voller Lügen und Demagogie,
die auch ins Kaffeehaus zum politischen Palaver weitergetragen wurden. Seit
dreißig Jahren fordern Politiker der Republik Zypern »Rückkehr der Flüchtlinge
in ihre Häuser und Rückkehr der Siedler in die Türkei«. Nach der Abstimmung
kommt die Rede vom »zweiten Referendum« auf, aber »nicht ohne Änderungen des
Annan-Plans«, versichert Papadopoulos. Der frühere Präsident des Landes, George
Vassiliou hat in seinem Artikel »Die Kosten des Nein« aufgezählt: Legitimation
der besetzten Gebiete und Vertiefung der Teilung, Einbuße eines Gesamtareals
von 800000
Hektar (die vertragsgemäß an die Republik Zypern gehen sollten), die »green
line« wird die EU-Grenze sein (»Schengen-Grenze«), mögliche Anerkennung der
TRNZ durch verschiedene »unbedeutende« Länder, ungleicher Wettbewerb, im
Besonderen in der Tourismusindustrie, bedeutender demographischer Wandel in
Zypern, hervorgerufen durch einen Anstieg der Zahl der Siedler, die Türkei wird
sich einen Termin für den Beginn der Beitrittsgespräche mit der EU sichern,
Ende der Anstrengungen der UN, das Zypernproblem zu lösen, und anderes.
Mit meinem
Freund Christakis will ich in den Norden fahren. Wir hatten den Besuch
verschoben, weil wir fürchten, unmittelbar nach dem Referendum uns dem Unmut
von Zyperntürken auszusetzen. Die Grenze am Ledra-Palace ist wie in der DDR:
unfreundliche Grenzer, überflüssige Schikanen, bis wir einen Zettel, der sich
»Visa« nennt, im Pass haben. Und – wie in der DDR – sind wir hinter der Grenze
umgeben von Freundlichkeit und Interesse. Die Menschen sprechen uns Griechisch
an, weil sie das Nummernschild des Autos erkannt haben. Zurufe »Wie geht’s?«
und »Komm auf einen Kaffee!« Manche zyperntürkische Familien sprechen
untereinander zu Hause Griechisch, auf der Straße jedoch Türkisch. Ein
vierzigjähriger Mann beugt sich ins Autofenster und erzählt warmherzig von
seinen Obstbäumen – bis ihm plötzlich die Tränen kommen. Er ruft aus »Es ist so
langweilig hier!«, und läuft mit schnellen Schritten davon.
Morphou/Güzelyurt, eine Region,
die für die Rückkehr in die Republik Zypern gestimmt hat. Genauer: Der
Annan-Plan sah eine Wiedereingliederung von Morphou in den griechischen Teil
Zyperns vor, und die Zyperntürken stimmten mit evet (ja). Die kleine
Stadt ist umgeben von lieblichen Zitronen- und Apfelsinenhainen. Die Kirche des
Metropoliten, die eigens für uns aufgeschlossen wird, ist ohne Spuren des
Vandalismus und der Zerstörung. Drinnen das herrliche alte Holzgestühl, viele
Ikonen an den Wänden und eine prächtige Ikonostase. Einmal, so wird berichtet,
kam Bischof Neophytos aus Evrikhou nach Morphou, seinen eigentlichen Amtssitz,
betrat die Kirche und begann die Liturgie. Es dauerte nicht lange, bis
Polizisten erschienen, und sie riefen dem bärtigen Metropoliten in seinem
feierlichen Ornat auf Griechisch zu: »He Kumpel, was machst du da ? Das ist
verboten!« Als wir durch den Ort fuhren, sagte Christakis, Flüchtling aus
dieser Region: »Alles wie früher, die Häuser wie früher, Kirche, Kafenion – nur
das unvermeidliche Standbild von Kemal Atatürk ist neu.« Danach fahren wir in
das Dorf Syrianochori (Yailas), Geburtsort von Christakis. Ich fürchte einen
Ausbruch von Gefühlen, aber mein Freund zeigt mir ruhig seine alte Schule, den
Sportplatz, Häuser von Verwandten, den alten Spielplatz. Das Haus seines Vaters
ist durch Witterungseinflüsse zerstört, und auf seinem Fundament haben
Zyperntürken ein neues gebaut. Das junge Paar kommt durch die offene Tür und
bittet uns herein. Die Frau bringt Kaffee, Wasser, Limonade, Kuchen. Der Mann,
Polizist, spricht ein wenig Griechisch, seine Frau beherrscht gar keine
Fremdsprache, und doch ist sie von einer so innigen Herzlichkeit und Gastfreundschaft,
wie ich sie von Zyperngriechen kenne. Es dauert nicht lange, und die weißhaarige
Mutter des Mannes tritt in die sauber gefegte Stube – nicht ohne vorher die
Schuhe auszuziehen. Sie spricht ein perfektes Griechisch, im Tonfall der Insel
und nicht ohne das landestypische Vokabular. Als es im Gespräch um die Fristen
des Annan-Plans geht, ruft die würdevolle alte Dame mit vollem weißem Haar aus:
»15 Jahre – wer soll das denn noch erleben?« Es stellt sich heraus, dass die
Bewohner des Hauses aus einem Dorf bei Paphos im griechischen Teil der Insel
stammen, deren Bewohner nach dem Krieg alle nach Syrianochori gebracht wurden,
und als die Flüchtlinge miteinander sprechen, wird die Nationalität
gleichgültig. Das Volk der Flüchtlinge ist älter als die Nation. – Natürlich
kommt die Rede auch auf das Referendum. »Bei uns evet, bei euch ochi
– warum ?« Wir entwerfen Szenarien, in denen das Zypernproblem wieder auf Eis
gelegt oder das Referendum wiederholt wird. Wenn es Änderungen im Annan-Plan
gibt, kann es passieren, dass der Süden mit Ja und der Norden mit Nein stimmt.
Damit wäre die Teilung Zyperns zementiert. Als wir uns verabschieden, umarmen
wir einander.
Meine liebste Zeitung im Norden
Zyperns ist Afrika von Sener Levent. Sie ist die kritischste, die
radikalste. Sie hieß früher Europa, aber sie wurde, nach zahlreichen
Schikanen und juristischen Verfolgungen durch Rauf Denktasch, in Afrika
umbenannt, um das politische Dickicht zu symbolisieren, in dem sich die Redaktion,
das ganze Land befindet. Sener Levent ist bereits mehrmals zu Haftstrafen verurteilt
worden. Machen wir uns nichts vor: Die eigentlichen Verlierer des Krieges von 1974
sind die indigenen Zyperntürken. Turgut Afsaroglu hat das souverän ironisch in Afrika
beschrieben: »Sie sagten uns, dass wir ein Staat sind, aber sie machten uns zu
einer Provinz. Sie sagten uns, dass wir der Souverän seien, aber sie nahmen uns
unsere Souveränität. Sie sagten uns, dass wir frei seien, aber sie sperrten uns
in einem Kreis ein, den sie gezogen hatten. Sie sagten, dass sie uns vor dem
Los bewahren würden, eine Minderheit zu sein, aber sie machten uns zu einer
Minderheit im Norden. Wenn sie uns etwas mit dem Löffel gaben, nahmen sie es
wieder mit der Schöpfkelle.«
Der Nordwesten scheint mir eher
wie europäisches Zypern als asiatisches Anatolien. Das Einzige, was mich stört
bei der Fahrt durch den »Pseudostaat«, ist dies obstinate Auftreten von
Nationalflaggen, der türkischen neben der zyperntürkischen, die nur eine Art
Anagramm (das Design statt Rot auf Weiß Weiß auf Rot) der Fahne des Mutterlands
ist. Ständig springen einem die beiden Fahnen ins Auge, bis man versucht ist zu
glauben: Es handelt sich um eine Identitätskrise.
Kyrenia/Gürne ist das touristische
Zentrum der TRNZ geworden und kann morgen das Paphos des Nordens sein. Es gibt
Bootsfahrten unter dem Namen »Aphrodite«, in den Restaurants wird Stifado,
Fisch-Mezé, Souvlaki, Sieftalies angeboten, wie im Süden. Gesprochen wird
Englisch, Deutsch, Russisch und natürlich Türkisch. Überall werden kleine
Häuser in Strandnähe gebaut. In der TRNZ ist Urlaub zu Dumpingpreisen zu haben:
Eine Woche Unterkunft, Flug inklusive für 199 Euro, eine Verlängerungswoche für
zehn Euro. Das kann das Mallorca des östlichen Mittelmeers werden. Die
griechische Tourismusindustrie klagt über den Rückgang der Besucherzahlen in
Zypern. Ihre Preise sind nicht nur höher als in der TRNZ, sondern auch teurer
als in Tunesien, Griechenland und der Türkei. Die Republik Zypern hat
allerdings eine mit dem Norden unvergleichliche touristische Infrastruktur. In
Nordzypern verrotten seit Jahrzehnten die Strandhotels von Famagusta. Man darf
jedoch nicht glauben, dass Zypern ökonomisch allein auf den Tourismus angewiesen
ist. Das Land ist ein internationaler Kapitalumschlagsplatz, besonders für
Off-shore-Gesellschaften.
Ich treffe mich mit Ibrahim Aziz
im RIK, Fernsehen der Republik Zypern. Er ist der Einzige, den ich kenne, von
dem ich umstandslos sagen würde: Ein Zyprer – nicht türkisch, nicht griechisch,
sondern zypriotisch. Geboren im Süden in Potamia, spricht fließend Griechisch,
Türkisch und Englisch und arbeitet als Moderator im RIK. Wie sein Name vermuten
lässt, ist seine Familie zyperntürkisch, aber er schreibt Gedichte auf
Griechisch, die er selbst ins Türkische übersetzt. »Würde dir das gefallen,«
sagt er mir in der Kantine des Fernsehsenders, »wenn Deutschland geteilt ist,
und in einem Teil russische Einheiten stünden? So ist es bei uns mit den
türkischen Soldaten. Und die Zyperntürken wollten mit ihrem Ja dasselbe wie die
Zyperngriechen mit ihrem Nein: Raus mit den türkischen Truppen aus Zypern!« Ich
spreche meine Befürchtung aus, dass es feste Grenzen geben werde, und Aziz widerspricht
heftig: »Es muss ein Zypern geben, ein Volk von Zyprern, eine zypriotische
Identität. Ein Mann oder eine Frau im Ausland sagen schließlich auch nicht: Ich
bin Zyperntürke oder Zyperngrieche, sondern ich bin Zypriot!« Günter Verheugen
wünscht er zur Hölle, sagt aber schließlich entmutigt: »Vielleicht wird es
feste Grenzen geben … Unser Land hat zu leiden unter den geostrategischen
Interessen, die sich vom Westen – Amerika, England – und vom Osten, die Türkei,
auf die Insel richten.«
Als Ibrahim Aziz mir sein neues
Gedichtbuch schenkt, schreibt er spontan einen Vierzeiler als Widmung in das
Buch, aus dem Stehgreif erdacht:
Ein Herz
Ein Deutschland
Ein Volk
Ein Europa
Auf dem Rückweg kann ich mit
meinem Freund Andreas von Nikosia ins Troodos-Gebirge fahren. Auf der Strecke
biegt er in eine schmale Straße ein und hält bei einem Turm an. »Siehst du den
Turm? Das ist ein Wasserspeicher – und das Einzige, was von einem türkischen
Dorf übrig geblieben ist, das in den Sechzigerjahren niedergebrannt wurde.
Siehst du die Steine? Sie sind vom Gras überwachsen. Das ist das Grab der
türkischen Häuser. Es gibt ein türkisches Sprichwort: Als die Axt in den Wald
kam, sagten die Bäume: Der Stiel ist von einer von uns.« Das Dorf hieß Pano
Koutrafas und war rein türkisch bewohnt. Ein paar Hundert Meter weiter das
griechische Dorf Kato Koutrafas.
Am 30.
April feiert Zypern seinen Beitritt in die EU am nächsten Tag, dem 1.
Mai. Tausende sind abends auf dem Eleftherias Square in Nikosia, die der Show
auf dem Platz zusehen. Mitternachts spricht Staatspräsident Papadopoulos und
feiert den Beitritt zur EU. Die Zeitung schreibt: »Ein Traum wird wahr«, und
die Zyperntürken – draußen vor der Tür. Sie haben mit Ja gestimmt und fühlen
sich betrogen – betrogen um ihre Hoffnungen auf internationale Freizügigkeit,
Ende der Isolation, Gerechtigkeit und Demokratisierung im Lande,
wirtschaftlichen Aufschwung.
Brüssel verspricht 259 Millionen
Euro für den Norden Zyperns. Das Embargo können sie nicht aufheben, da es nicht
qua politischer Entscheidung eingeführt wurde, sondern durch einen
Gerichtsbeschluss, den eine griechische Firma herbeigeführt hat. Wenn dieses
Recht aufgehoben wird, dann durch eine Transformation der Politik. Inzwischen
fliegt der »Sogenannte«, Mehmet Ali Talat, in die USA, und die Republik Zypern
ist irritiert, weil man ihn dort im State Departement als »Mr. Prime Minister«
anredet. Was für ein Interesse hat die USA an Nordzypern? Thomas Weston, der
Zypernbeauftragte des State Department, sagt: »Unser Ziel ist, die Isolation
von Nordzypern zu beenden.« Amerika hat eine neue Karte des Nahen Ostens
entworfen. Diese Karte berücksichtigt die Vorkommen von Öl und Erdgas im Irak,
Kuwait, Saudi Arabien, Kaukasus, Aserbeidschan, Kasachstan und Turkmenistan.
Die geostrategische Karte berücksichtigt überdies die »Flugzeugträger«-Insel Zypern.
Es würde niemanden überraschen, wenn US Rapid Development Forces auf Zypern
stationiert werden, sobald die Insel vereinigt ist, um die Stabilität der
Region zu sichern. Aus militärischen Kreisen ist zu erfahren, dass die Insel
ein »elektronisches Ohr« werden kann, mit dem man hört, wenn ein Flugzeug in
Peking startet.
Aserbeidschan hat sein Interesse
angemeldet, die TRNZ diplomatisch anzuerkennen. Das hört die Türkei gerne, denn
wenn einige Staaten bis Dezember die TRNZ anerkennen, hat Ankara bessere Karten
im Spiel mit der EU um die Aufnahmeverhandlungen. Dessen ungeachtet verstößt
die Türkei mit der Invasion, seinen Besatzungstruppen und dem Transport der
Siedler aus der Türkei nach Nordzypern gegen geltendes internationales Recht.
Ich glaube, dass der
Zwischenzustand von Staat und Nicht-Staat in Nordzypern noch länger anhalten
wird. Der Staat stirbt nicht ab, wie die Marxisten vorausgesagt haben –
übrigens eines der wenigen anarchistischen Versatzstücke in der Theorie des
Marxismus. Eric Hobsbawm schrieb: »Die Nation war staatstragend – heute ist sie
staatsspaltend: 1900 machten 19 Staaten den Kontinent Europa aus. 1938 waren es
29.« Heute sind es 40.
Die Vereinigung ist auch daran
gescheitert, weil es auf der Insel unter Zyperntürken und Zyperngriechen nicht
so etwas wie »cypriotness«, zypriotische Identität, gibt. Das hat Sener Levent
in poetisch zu nennenden Sätzen beschrieben:
»Wenigstens hatten wir eine
zypriotische Flagge, aber sie erhielt nie so viel Aufmerksamkeit wie die türkische
oder griechische Flagge, die rote oder blaue.
›Cypriotness‹ hat unsere Träume
nicht erfüllt. Wann waren wir heroisch? Als wir Kugeln aufeinander abgefeuert
haben, als Griechen oder Türken.
Das ist der einzige Grund für
unser Leiden. Unsere Gesten waren zypriotisch, unsere Art Kaffee zu trinken war
zypriotisch – aber wir waren keine Zyprioten.
Wir haben gelernt, Jasminblüten zu
flechten, Moussaka zu kochen, Pitta im Ofen zu backen, auf unseren Balkons zu
sitzen – aber wir konnten nicht denken, träumen und leben als Zyprioten. Der
Gedanke, ein Zypriot zu sein, sollte unsere Seelen erwärmen wie der Geruch von
Seegras oder Basilikum.«
Zum
Schluss möchte ich von einer bemerkenswerten Begegnung erzählen – nein, eigentlich
zwei, mit ganz unterschiedlichen Personen, ehemaliger EOKA-Kämpfer der eine,
Metropolit der andere. In Mammari, einem Dorf in der Nähe von Nikosia, mehr
schon Vorstadt inzwischen als Dorf, treffe ich Dinos. Er heißt eigentlich
Konstantinos, ist 63 Jahre und lädt mich ein, ihn im »Nationalen Café« von
Mammari zu treffen. »Nationale Cafés« gibt es ab und zu in den Dörfern der
Republik Zypern, und ich kenne eines in Astromeritis, in welches Zyperngriechen
eine alte Holztür eingebaut haben, in der sechs britische Kugeln großen
Kalibers stecken. Ein Schild erinnert an einen EOKA-Kämpfer, der bei dieser
Attacke starb. Dino erwartet mich im »Nationalen Café« von Mammari, und ich
komme, während sein Handy klingelt. Als er es aus der Tasche nimmt, sehe ich, dass
er den Kopf des EOKA-Generals Grivas als Bildschirmschoner auf seinem Gerät
hat. Dennoch eröffnet er das Gespräch ohne Umschweife mit den Worten: »Die
Zyperngriechen haben mit ihrem Nein die letzte Gelegenheit zur Einheit
verspielt.« Er zählt die Fehler auf, die in Zypern gemacht worden sind, von Makarios
bis zu Tassos Papadopoulos. »Und der Putsch?«, frage ich. »Auch der war ein
Fehler«, gesteht er offen ein, »wenn ich auch selbst dabei mitgemacht habe. Ich
habe mit 15 Jahren als Schüler die EOKA unterstützt«, sagt er stolz, »und ich
bin 1956 zu einem Monat Gefängnis verurteilt worden.« Danach ging er nicht
wieder zu den Illegalen, sondern erst als Dreißigjähriger 1970 in die EOKA-B.
»Die einzige Lösung, die ich sehe«, sagt er, »ist ein Staat mit ethnischen
Gemeinschaften. Selbst wenn sich Türken und Griechen auf Zypern gut verstehen –
es gibt immer fünf, sechs, die Unruhe und Unfrieden zwischen den Ethnien
stiften. Wir hätten den Plan I von Kofi Annan wählen sollen. Und was ist geschehen?
Die Zyperngriechen glaubten bei dem Referendum, sie machen ihr Glück, auch
ihren Wohlstand durch das Nein.«
»Du willst noch einen Termin beim
Bischof? Schlage das Kreuz!«, sagt Panajiotis, Geschäftsführer des
Metropoliten. Er schickt den Sekretär zum Bischof, und der sagt: »Nein, heute
nicht.« Aber er bestellt mich drei Tage später, um neun Uhr morgens, zu sich.
Wenn ich es mir recht überlege, erhalte ich nur deswegen einen zweiten Termin,
weil Panajiotis der Familie meines Freundes angehört, also gewissermaßen aus
familiärer Konzilianz. – Der Metropolit Neophytos ist 42 Jahre, jung für sein
Amt, und ihm geht der Ruf voraus, er sei kämpferisch, klug und fortschrittlich.
Als ich ihn sehe, empfängt er mich mit einer lässig liebenswürdigen
Selbstverständlichkeit, dass ich mich hüten muss, ihn nicht versehentlich mit
Du anzureden.
Ist das
Ergebnis des Referendums ein Scheitern der Versöhnung zwischen Zyperntürken und
Zyperngriechen?
Neophytos: Ich würde nicht sagen:
Scheitern der Versöhnung. Aber der Moment der wirklichen Versöhnung ist
aufgeschoben. Die Zyperngriechen haben ihre alten Ängste überwunden. Wir dürfen
jedoch nicht dabei verharren, denn ich glaube nicht, dass in einem vereinten
Europa gespaltene Staaten verbleiben können. Deutschland hat so einen Kampf
ausgefochten, um dies Problem zu bewältigen. Für Zyprer ist der Zeitpunkt
gekommen, einander zu verzeihen. Ich glaube, dass das Wichtigste ist: einander
zu verzeihen.
Welche Rolle hat die Kirche beim
Sieg des Nein im Referendum gespielt – wenn man bedenkt, dass der Bischof von
Kyrenia sogar die Drohung der Hölle ausgesprochen hat?
Neophytos: Es ist so, dass die
meisten Metropoliten eine verhängnisvolle Rolle beim Wahlausgang gespielt haben
– beim »heroischen Nein«, wie sie es nennen, und sie haben tatsächlich die Angst
vor der Hölle genutzt. Ich glaube, dass dies ein bedrückender Augenblick für
die Kirche Zyperns war. Das ist weit entfernt vom Wort Jesu Christi und vom
Evangelium. Ich für meinen Teil habe versucht und versuche, den Fanatismus zu
vermeiden, der in den Nationalismus führt.
Sie haben einmal gesagt,
Nationalismus ist Sünde. Wie sollen wir das verstehen?
Neophytos: Nationalismus bedeutet,
dass du deinen Staat, dein Volk verehrst, dass du sagst, es steht über allen
anderen Völkern der Erde, dass es das erwählte Volk des Herrn sei. Christen
verehren nur den Herrgott, weder ihr Volk noch ihren Staat. Die lieben wir, das
stimmt, aber Liebe ist etwas anderes als Verehrung. In alten Zeiten entstand
der Nationalismus in Europa, in Westeuropa. Nationalismus hat nichts gemein mit
unserer Kultur. Die griechisch-orthodoxe Kultur war immer ökumenisch, nicht
nationalistisch. Der orthodoxe Glaube ist nicht nur für Griechen, sondern für
alle Völker, er ist auch für Russen, Deutsche, für alle.
Auch für den Islam?
Neophytos: Er ist für alle da. Er
hilft den Menschen, den Fanatismus zu überwinden.
Sie wollen ein gemeinsames
Zusammenleben der Griechen und Türken auf Zypern?
Neophytos: Ich will das nicht nur,
es ist meine Praxis. Alle zehn Tage fahre ich in die besetzten Gebiete. Ich
treffe auch zyperntürkische Politiker, aber auch einfache Leute. Letzten
Freitag bin ich in ein Café gegangen, in dem Jugendliche und Lehrer aus der
Region verkehren. Eine Zeitung aus dem besetzten Gebiet hat sich darüber
beschwert, dass wir uns dort unterhalten haben, und zwar darüber, dass
Nationalismus eine Sünde ist.
Treten die Siedler im Norden mit
einer fanatisierten Variante des Islam auf?
Neophytos: Nein, das ist ein
großer Irrtum. Religiösen Fanatismus gibt es kaum in der Türkei. Ethnischen Fanatismus
wohl, und solche Menschen gebrauchen die Symbole des Islam. Mit den Muslimen
können wir zusammenleben, wir haben es immer getan. Nicht jedoch mit den
nationalistischen Fanatikern. Was den angeblichen religiösen Fanatismus angeht:
Die Siedler gehen kaum in die Moschee und die Zyperntürken – überhaupt nicht!
Als ich in den besetzten Gebieten
war, fiel mir immer wieder auf, dass so viele Nationalflaggen zu sehen waren.
Drückt das nicht eine Art Krise der Identität aus?
Neophytos: Ja, das ist sehr klug!
Ich glaube auch, dass es eine Krise der Identität gibt, unter den Zyperntürken.
Aber auch bei den unseren, die sich an Fahnen festhalten, um sich ihrer
Herkunft zu erinnern. Ein Mensch, der sich hinter Fahnen versteckt, hat Angst,
hat keine Identität. Er braucht ein tieferes Zeichen, ein größeres Herz, eine
Verbindung zu Gott, ein Vertrauen zu anderen Menschen. Der Glaube ist ein
Element, das Identität schafft. Zur Identität des Zyperntürken gehört seine
Sprache – und die Nationalflagge.
Ihre Fahrten nach Morphou,
verstehen Sie diese auch als Zeichen der Versöhnung?
Neophytos: Gewiss! Und es hat
Versöhnung gegeben! Seit einem Jahr fahre ich nach Morphou, alle zehn Tage, das
heißt, dass ich sehr viele Leute kennen lerne. Die Moschee steht neben der
Kirche, und der Imam und ich sind Freunde geworden! Ich gehe in die Kirche, sie
ist jetzt ein Museum …
Sie erschien mir wie ein
verschlossenes Kästchen voll Gold und Juwelen ...
Neophytos: … ja, und dieses
Kästchen will ich aufschließen und seinen Reichtum mit allen teilen. Denn diese
Kirche ist ein Werk des Friedens, ein Werk der Liebe. Und ich hoffe, meinem
Beispiel werden andere Priester folgen, denn Sie können mir glauben, viele
Priester fahren heute in die besetzten Gebiete und hier lernen sie Zyperntürken
kennen, und es gibt keine Angst, keinen Nationalismus in unseren Begegnungen.
Was ich erfahre, ist eine große Offenheit der Zyperntürken. So wird eine Brücke
des Friedens und der Versöhnung entstehen.