Ereignisse & Meinungen

 

Balduin Winter

 

China im Spiegel der USA

 

Wird China die neue Supermacht? Wird es mit der USA rivalisieren oder kooperieren? Bildet sich eine politische Macht neuer Qualität heraus, die die Globalisierung auf völlig neue Bahnen bringt? Welche Politik soll gegenüber der neuen Supermacht eingeschlagen werden? Das sind Fragen, die in letzter Zeit die amerikanische Öffentlichkeit über aktuelle Anlässe hinaus – zuletzt die Spannungen zwischen der VR China und Japan und Taiwan sowie die von den USA und Europa als bedrohlich empfundene Exportoffensive bei Textilien – beschäftigen. Nach Einschätzung von Marsha Vande Berg von The World Report in San Francisco existieren drei Hauptströmungen in den USA. Die erste Gruppe (Demokraten, gemäßigte Republikaner) befürwortet eine weniger konfrontative Haltung mit dem Versuch, China in die Bahnen US-kompatibler internationaler Aktivitäten einzubinden. Die zweite Gruppe (die derzeitige Regierung) plädiert für Aufrechterhaltung militärischer Stärke als Gegengewicht, harte Haltung bei Konflikten und enge Zusammenarbeit mit traditionellen Verbündeten. Die dritte Gruppe, Hardliner, sehen erst nach einer fundamentalen Veränderung des politischen Systems in China eine reale Chance für konstruktive Beziehungen zwischen den USA und China (»Partner oder Gegner China?«, in: Internationale Politik 2/03). Inzwischen zeichnet sich eine nennenswerte vierte Strömung ab, eine »chinafreundliche«, die in der chinesischen Entwicklung eine eigene Qualität mit offenem Ergebnis sieht.

 

»Amerikaner bewundern Schönheit, aber wirklich fasziniert sind sie von Größe«, beginnt Fareed Zakaria, Chef der internationalen Ausgabe der Newsweek, seinen Aufsatz »Die Alles-Super-Macht« (9.5.), und sein Staunen vor Chinas Wachstum und Zukunftsperspektiven kennzeichnet den ganzen Artikel. Der im Übrigen durchaus differenziert die wichtigsten Probleme skizziert, Fragen formuliert, ohne sofort bequeme Antworten zu haben. Fast klingt ein wenig Boshaftigkeit durch, wenn er den Economist zitiert, der es dem starken chinesischen Wachstum zuschrieb, »dass die Welt – nach der geplatzten New-Economy-Blase der Jahre 2000 und 2001 – einer Rezession entgangen sei. Und weil China … US-Staatsanleihen kauft, können Amerikaner und ihre Regierung weiterhin auf Pump konsumieren, und die Weltwirtschaft wächst weiter.«

Auch die Machtverschiebungen der letzten 400 Jahre skizziert Zakaria, den Aufstieg Europas im 16. Jahrhundert und den Aufstieg der USA beginnend im späten 19. Jahrhundert: »Chinas Aufstieg (und der Aufstieg Indiens und das ungebrochene Gewicht Japans) ist die dritte große Verschiebung im globalen Kräftespiel – der Aufstieg Asiens.« Taucht ein neuer Aufsteiger auf, kommt es zu Spannungen, denn die bestehende Ordnung wird erschüttert. Das wäre besonders für die USA eine Herausforderung. Käme es zu einem Konflikt zwischen den beiden Großmächten, würden »all die Probleme, die uns heute beschäftigen – der Terrorismus, Iran, Nordkorea –, vergleichsweise unspektakulär wirken«. Doch sieht er die Unwägbarkeiten einer längerfristigen Prognose: »Amerika und China werden an einem Tag Freunde sein, am nächsten Rivalen, auf dem einen Gebiet konkurrieren, auf einem anderen kooperieren.« Das gibt es freilich heute auch schon.

Einen ganz anderen Ton schlägt Robert Kagan an, für den die Welt vor allem ein Kriegsschauplatz ist. Das chinesische Antisezessionsgesetz zu Taiwan ist ihm Anlass, in der Washington Post (10.3.) den »feinen chinesischen Takt« unter Beschuss zu nehmen, der darin besteht, »die Muskeln spielen zu lassen, zunehmend wirtschaftlichen und militärischen Druck auszuüben, um Gefügigkeit von ihren Nachbarn einzufordern«. Bestürzung äußert er darüber, wie die Welt inklusive der USA in den letzten Jahren »von einem reformierten postmodernen China träume, das in die globale liberale Wirtschaftsordnung ›integriert‹ werden könne, und dabei ignoriere, wie Chinas wachsende Kriegslust durch seine Wirtschaftsleistung beflügelt werde«. Empört weist er Ideen von US-Analytikern zurück, China in neu gefasste ostasiatische Sicherheitsstrukturen mit einzubinden. Stattdessen fordert er eine Stärkung jener Bündnisse, die »Amerikas demokratische Verbündete einschließen«.

Im The National Interest (Frühling 2005) setzt sich Kagan-Anhänger Alan Dupont (»Die schizophrene Supermacht«) mit Japan und den japanisch-amerikanischen Beziehungen auseinander, wobei er Wert legt auf die »kriegerische Tradition Japans«, auf die »Auflösung des Pazifismus« im Zusammenhang mit dem »Niedergang der Linken«. Er sorgt sich darum, »wie man am besten ein nervöses Beijing beruhigt, dass ein wieder gestärktes Japan, in enger Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten, in Asien nicht eine Drohung für China ist«. Dabei geht es nicht um Fragen des Taktes, sondern um die Aufstellung des Raketenabwehrsystems im Pazifik. Seitens der US-Administration sei zu wenig in Richtung Beijing unternommen worden, um das Misstrauen der chinesischen Führer über den »dreiseitigen Sicherheitsdialog« zwischen den USA, Japan und Australien abzuschwächen, die darin eine Art »asiatischer NATO« sehen. Nicht ganz unberechtigt, wird doch, so die NZZ vom 9.4., »in den im Dezember von Tokio verabschiedeten Verteidigungsrichtlinien China erstmals explizit als Gefahrenherd aufgeführt«. Also entgegenkommen? Dupont: »Obwohl das heutige globale Dorf das alte Sprichwort, dass zwei Tiger nicht gemeinsam friedlich auf demselben Berg wohnen können, widerlegt – heute können Tiger aller Arten zum gegenseitigen Vorteil koexistieren –, können freundliche chinesisch-japanische Beziehungen nicht angenommen werden …« Und auch zwischen China und den USA nicht: In derselben Zeitschrift hatte Paul Wolfowitz Chinas Aufstieg mit dem des wilhelminischen Deutschlands verglichen, der zum Krieg führte.

 

Sind solche Überlegungen nicht tief im 20. Jahrhundert verwurzelt? Taugen sie überhaupt für eine »asymmetrische «Supermacht« wie China? Tendiert vielleicht dieses Land mit seiner reichen Kultur zu etwas historisch Neuem, wie es der frühere Auslandsherausgeber des Time Magazine, Joshua C. Ramo, in seinem Report The Beijing Consensus darlegt? Ramo hat mit hunderten chinesischen Denkern über die Perspektiven Chinas diskutiert. Offen ist, wohin die Reise geht. Seine Schilderungen vermitteln eine Ahnung, wie rasch und widersprüchlich die Modernisierungsprozesse in China ablaufen. Dabei haben Land und Führung größtes Interesse an einem sicheren Umfeld. »Ein oft genannter Wunsch in Washington ist, dass Chinas KP auf Grund der Veränderungen auf der Kippe des Absturzes steht. Tatsächlich ist die KP die Quelle der meisten Änderungen in China während der letzten zwanzig Jahre.« Ramo zählt zu den ganz wenigen US-Experten, die trotz »marketization« und Beitritt zur WTO nicht von einer »Verwestlichung« sprechen; vielmehr zitiert er zahlreiche Fachleute Chinas, Indiens und des Südens, die Chinas Entwicklung als ganz eigenen, mit kapitalistischen Ländern nicht vergleichbaren Weg analysieren.

Im außenpolitischen Denken, so Ramo, tauchen neuerdings Elemente westlicher Art auf, doch dominiere eindeutig chinesische Tradition: »Das Ziel des Chinesen ist nicht Konflikt, sondern die Vermeidung des Konflikts.« Das sei eine grundlegend andere Haltung als etwa die der USA mit ihrem kostspieligen militärischen Apparat. China nehme eine prinzipiell multilaterale Haltung ein und suche gute Beziehungen zu anderen Staaten, seit einigen Jahren im Rahmen einer eigenen Sicherheitsstrategie. Herz des Nationalen Sicherheitskonzepts, im April 2004 von Hu Jintao vorgeschlagen, sind vier Punkte: Kein Hegemonismus, keine Machtpolitik, keine Bündnisse und keine Wettrennen (mit den USA). Ramo bezeichnet das Konzept als »chinesische Monroe-Doktrin«. China passe sich den erhöhten Anstrengungen der USA an, die im Westpazifik, wie die chinesischen Führer befürchten, dabei sind, ein militärisches Aufrüsten zu beginnen.

 

Widersprüche scheint es auch in Washington selbst zu geben. Dort hat das National Intelligence Council (NIC), das strategische Zentrum der CIA, in Zusammenarbeit mit zahlreichen NGOs im Dezember 2004 sein Mapping the Global Future mit den Perspektiven der globalen Entwicklung bis 2020 vorgelegt. Als aufsteigende Mächte werden China und Indien als neue Global Players charakterisiert, deren Rolle verglichen wird mit »dem Aufstieg Deutschlands im 19. Jahrhundert und den Vereinigten Staaten im frühen 20. Jahrhundert« und deren Wirkung auf den Wandel der geopolitischen Landschaft »möglicherweise so drastisch wie jener in den vergangenen zwei Jahrhunderten« sein wird. China und Indien werden »den Prozess der Globalisierung umwälzen«. Ihr Lebensstandard müsse sich nicht erst dem westlichen Niveau angleichen, damit sie Supermächte werden. Bereits in wenigen Jahren würde China Japan ökonomisch übertreffen. Sein Einfluss im Südosten und Süden Asiens würde enorm zunehmen, da sich die asiatischen Länder zunehmend an den neuen Mächten orientieren werden. Auch eine Reihe von Gefahren wird skizziert, hoch eingeschätzt wird der »demografische Faktor«, die Überalterung der chinesischen Gesellschaft (2020: rund 400 Millionen Chinesen über 65 Jahre) und die daraus resultierende Explosion der Altersvorsorge, epidemische Krankheiten, Korruption, hohe Arbeitslosigkeit und soziale Unruhen.

In den Beziehungen zwischen den Hauptmächten wird es »bedeutende Veränderungen« geben, China und USA »haben zwar einen starken Ansporn, eine Konfrontation zu vermeiden, aber der wachsende Nationalismus in China und die zunehmende Angst in den USA vor China als neu auftauchendem strategischem Konkurrenten könne ein im steigenden Maße entgegenwirkendes Verhältnis erzeugen«. Auch sei inzwischen ein zukünftiges Bündnis zwischen China und der EU »nicht mehr unvorstellbar«. Doch wird auch darauf hingewiesen, dass die derzeitige Rolle der USA als einzige Supermacht eine Ausnahmesituation in der modernen Welt sei. Insgesamt legt sich das NIC nicht auf ideologische Aussagen fest; wie auch in den anderen großen Berichten kommt die Demokratie-Frage nahezu nicht vor. Kein Zufall, dass die Beijing Review Nr. 15/05 ihn wohlwollend als Grundlage zu einem Leitartikel verwendete.

In Beraterkreisen des Weißen Hauses gibt es wohl Konflikte in der Beurteilung Chinas. Josh Kerbel von der Strategischen Bewertungsgruppe im CIA-Direktorat (Studies in Intelligences, Unclassified Studies, N. 3, 2004) philosophiert ausführlich über »nichtlineare Systeme«, deren komplexes Verhalten nahezu unberechenbar sei; zudem würden »nichtkognitive Neigungen« die Untersuchungen trüben; gerade im Fall Chinas tendierten viele Beobachter dazu, sich »auf die niedrig hängende Frucht zu konzentrieren«, träfen »völlig unausgewogene« Langzeitprognosen und verfielen in ein »Prophetentum aus vollkommener Unklarheit«. »Vorhersagen zu Chinas Zukunft haben dazu geneigt, auf einem breiten Spektrum leicht in die Extreme zu verfallen, die sich am besten charakterisieren lassen als ›China auf der Überholspur‹ und Chinas kommender Zusammenbruch«. Letzteres ist ein Buchtitel des Stanford-Professors Gordon Chang, der China als einen »Papiertiger« bezeichnet, dessen wirtschaftliche Blüte alle Anzeichen des Zerfalls in sich trägt: Beijing könne nicht gleichzeitig »kapitalistisch und kommunistisch« sein, die KP wäre unfähig für einen Wirtschaftserfolg, die staatlichen Unternehmen versagten, die Korruption säge an der Substanz der Gesellschaft. Eben gegen diese Pauschalisierungen zieht CIA-Kerbel mit beachtlichen philosophischen Hilfstruppen (nicht zuletzt aus Old Europe), verwirft Schnellschüsse des »herkömmlichen Verstands« über Chinas Wachstums und seine Zukunft als Weltmachtrivale der USA, wie es Richard Bernstein und Ross H. Munro in ihrem viel gelesenen Buch The Coming Conflict with China behaupten. Auch widerspricht er der Auffassung, dass es einen politischen »Hebel« gäbe, etwa wirtschaftlicher Druck, mittels dem man Chinas Politik längerfristig beeinflussen könne. Sanktionen seien überhaupt ein schlechtes Mittel, damit habe man in Kuba auch keine politische Veränderung bewirkt. Des Weiteren verbieten sich Analogien zur Sowjetunion. Für radikale Änderungen sei die Zeit nicht reif, zudem war, so zitiert er die Historikerin Barbara Tuchman, »China schon immer ein Problem, für das es keine amerikanische Lösung gab«. Schließlich empfiehlt Kerbel, keine Prognosen zu treffen, sondern Möglichkeiten durchzuspielen und dabei aufzuhören, »geradlinig zu denken«. Bestimmt zählt der CIA-Philosoph nicht zu den Topberatern der derzeitigen Administration.